1. DAS ERSTE WORT: Liebe
Ich habe dieses Buch aus Liebe zur evangelischen Kirche und aus Liebe zum christlichen Glauben geschrieben. Diese Liebe ist eine glĂŒckliche Liebe. Denn die evangelische Kirche in Deutschland ist liebenswert. Sie ist in guten HĂ€nden. Hinter ihr stehen kluge Köpfe. In ihr schlagen weite Herzen. Viele Menschen auf diesem Globus beneiden den deutschen Protestantismus um seine Möglichkeiten, um seine Infrastruktur, um sein haupt-, neben- und ehrenamtliches Personal, um seine Mittel, um seine pastorale und theologische ProfessionalitĂ€t, um seine Privilegien, um seinen Einfluss und um seine groĂe Vergangenheit. Deutschland ist das Mutterland der Reformation. Die evangelische Kirche in Deutschland hat Substanz.
Dennoch kehren ihr immer mehr Menschen den RĂŒcken. Die Zahl der Kirchenaustritte in Deutschland ist hoch. Viele Gottesdienste sind gespenstisch schlecht besucht. Woran liegt das? Liegt es am immer selbstverstĂ€ndlicher werdenden Atheismus und am viel beklagten Traditionsabbruch unserer ehedem christlichen Gesellschaft? Aber warum wenden sich dann auch Menschen, die sich als Christen verstehen, von der Kirche ab? Lieben sie, die ihren Glauben und Gott lieben, ihre Kirche nicht mehr? Sagt und gibt ihnen die Institution Volkskirche nichts? Ist sie nichtssagend, weil sie in ihr keine spirituelle ErfĂŒllung finden, die sie dann anderswo suchen â etwa in Freikirchen oder jenseits der organisierten Kirche? Und falls dem so sein sollte: muss man es einfach hinnehmen, dass Christentum und Volkskirchlichkeit in der Moderne auseinanderdriften und dass es eben der Geist unserer Zeit ist, dass sich religiös ansprechbare Menschen als selbstbestimmte »Drifter« verstehen und die Bereitschaft, sich lebenslang an eine Institution oder eine Organisation zu binden, schlicht nachlĂ€sst? Oder liegt es an der Kirche selbst, dass sich immer mehr Menschen nicht mehr mit ihr identifizieren können? Ist die Kirche vielleicht kein Ort mehr, an dem Menschen die Erfahrung der Gegenwart des Heiligen machen können? Steht die Kirche nicht mehr zu ihren religiösen Inhalten? Ist sie religionsvergessen? Ist sie gar gottesvergessen? Und kreiden ihr die Menschen genau dies an, weil sie sich wĂŒnschen, dass die Kirche das ist, was sie eigentlich sein sollte: ein Ort der Begegnung mit dem Göttlichen?
Es gibt unzĂ€hlige Studien, die das PhĂ€nomen der Entkirchlichung aus unterschiedlichsten Perspektiven beleuchten und unterschiedliche GrĂŒnde dafĂŒr suchen und finden, warum sich Menschen von der sichtbaren Institution Kirche distanzieren oder nie auf die Idee kĂ€men, sich fĂŒr die Kirche zu interessieren. Ich könnte auf den folgenden Seiten all diese Analysen prĂ€sentieren und in der dritten Person Singular oder Plural, also aus der AuĂenperspektive, eine Antwort oder viele Antworten auf all die soeben gestellten Fragen finden. Aber ich wĂ€hle einen anderen Weg â den heikleren und riskanteren, weil unweigerlich subjektiveren Weg der ersten Person Singular. Ich frage mich, warum ich â theologischer Hochschullehrer und theologischer Begleiter und Referent der Leitung dieser Kirche â selbst nicht nur glĂŒcklich, sondern auch unglĂŒcklich in meine Kirche verliebt und von der real existierenden Kirche enttĂ€uscht bin. Woran liegt es, dass ich mich in der Kirche keineswegs wie ein Vogel im KĂ€fig, sondern zu Hause fĂŒhle und in keiner anderen Institution arbeiten möchte, aber mich zugleich aus tiefstem Herzen nach einer anderen evangelischen Kirche sehne? Was trĂŒbt meine Liebe? Und was mĂŒsste geschehen, dass ich wieder ungetrĂŒbt glĂŒcklich in diese Kirche verliebt wĂ€re und mir nichts mehr von ihr und in ihr zu wĂŒnschen ĂŒbrig bliebe?
Dieses Buch in der ersten Person Singular ist eine LiebeserklĂ€rung an den christlichen Glauben und eine LiebeserklĂ€rung an die evangelische Kirche. Zugleich ist es Ausdruck einer enttĂ€uschten Liebe. Aber ich gebe die Hoffnung nicht auf, dass ich eines Tages doch noch mein GlĂŒck just in jener Kirche finde, in die ich manchmal so unglĂŒcklich verliebt und von der ich manchmal so enttĂ€uscht bin. Ich halte es mit dem Osterlied2 von Paul Gerhardt (1607â1676): »Die TrĂŒbsal trĂŒbt mir nicht / mein Herz und Angesicht.« Und ich halte es mit dem Philosophen Theodor W. Adorno (1903â1969), der schrieb: »(D)er Schritt aus Trauer in Trost ist nicht der gröĂte, sondern der kleinste.«3 Gewiss hat auch Jochen Klepper (1903â1942) Recht, dessen berĂŒhmtes Adventslied mit dem Vers beginnt: »Die Nacht ist vorgedrungen, / der Tag ist nicht mehr fern.«4 â Es gibt also Hoffnung. Zweifellos. Und sie ist begrĂŒndet. Denn die evangelische Kirche hat ungeheure Ressourcen.
Weil ich glaube, dass EnttĂ€uschung, Schmerz und Selbsterkenntnis die ersten Schritte auf dem Weg der Besserung sein können, habe ich dieses Buch geschrieben. Und ich wĂŒrde mich freuen, wenn es fĂŒr Sie, die Sie es lesen, weil Sie noch eine Rechnung mit der Kirche offen und mit ihr noch nicht abgeschlossen haben, zu einem DenkanstoĂ der Inspiration wird. Geben Sie die Hoffnung nicht auf und lassen Sie sich, wenn Sie wie ich von der evangelischen Kirche gelegentlich gelinde oder gehörig enttĂ€uscht sein sollten, von dieser EnttĂ€uschung nicht davon abhalten, der Kirche der Reformation treu zu bleiben und sie im Geist Jesu Christi gemeinsam mit Anderen so zu gestalten, dass sie als reformatorische Kirche kenntlich ist und bleibt!
Dass evangelische Christen und Christinnen von der Kirche enttĂ€uscht sind und sie kritisieren, weil sie ihnen am Herzen liegt â und nicht etwa, weil sie den christlichen Glauben und die christliche Kirche an sich verachten â, ist weder verwunderlich noch skandalös, noch sollte es ein Tabu sein. Es sind Menschen, die die Kirche verkörpern und ihre Inhalte transportieren. Menschen können GroĂartiges bewirken. Sie können aber auch Fehler machen und sich irren: etwa so, wie bei dem bekannten Kindergeburtstagsspiel »Stille Post«, das uns lehrt, dass nach vielen Stationen leiser Mund-zu-Ohr-Kommunikation am Ende ein anderes Wort ankommen kann als das Wort, das am Anfang eingeflĂŒstert wurde. Was in einer bestimmten Phase der kirchlichen Ăberlieferungsgeschichte kommuniziert wird, kann aus unterschiedlichsten GrĂŒnden nicht das sein, was ursprĂŒnglich kommuniziert wurde oder kommuniziert werden sollte.
Die Erkenntnis, dass die römisch-katholische Kirche einer bestimmten historischen Gegenwart nicht der ursprĂŒnglichen Idee von Kirche entsprach, aber sich dieser Sinn zurĂŒckgewinnen lieĂ, stand am Anfang der Reformation der Kirche des 16. Jahrhunderts. Sie war gewissermaĂen die Urerkenntnis des Protestantismus. Die Reformatoren hatten jedoch eine hohe HĂŒrde zu nehmen. Denn war die Kirche nicht heilig? Waren ihre PĂ€pste, Bischöfe, Synoden und Priester nicht unantastbar, weil sie ja doch Heilsmittler und nicht einfach nur Menschen, sondern gleichsam gottmenschliche Zwischenwesen waren? Der Blick ins Neue Testament zeigte den Reformatoren â allen voran Martin Luther (1483â1546) â allerdings, dass kein Mensch mehr als ein Mensch und dass der einzige Heilsmittler Christus ist. Die Tatsache, dass das Apostolische Glaubensbekenntnis die Kirche als heilige Kirche bekennt, bedeutet aus Luthers Sicht weder, dass die Kirche zwischen Mensch und Gott steht und am Nadelöhr des heilsspendenden Priesters niemand vorbei kommt, noch, dass sie aus theologisch, spirituell und moralisch vollkommenen Menschen besteht. Die Kirche â so die Reformatoren â ist allein deshalb eine Gemeinschaft der Heiligen, weil sie eine Gemeinschaft der Geheiligten ist. Alle Getauften sind Priester, weil der Geist Christi, des Herrn der Kirche, in ihnen lebendig ist und in ihnen Gestalt gewinnt. In der Kirche, dem Leib Christi, wird dies bezeugt und erfahrbar. Und weil vor Gott alle Menschen gleich, weil alle Menschen Menschen sind und weil alle Menschen allein aufgrund der Gnade und der Barmherzigkeit Gottes leben, können â so Martin Luther â PĂ€pste, Synoden und Bischöfe irren. Sie sind nicht unfehlbar, weil sie nicht Gott, sondern fehlbare Menschen sind. Und so gibt es denn keinen theologischen Grund dafĂŒr, dass sich gerade die evangelische Kirche, die sich auf Martin Luther beruft und deren Lebenselement die Inspiration und Vergebung ihres Herrn Jesu Christi ist, fĂŒr fehlerlos halten wollen und mit theologischer Selbstkritik Schwierigkeiten haben sollte. Gerade den Reformatoren, die die Kirche ihres Herrn Jesu Christi liebten, war es darum zu tun, dass sich die Kirche reformwillig und reformfĂ€hig zeigen muss, wenn dies um Christi willen geboten und an der Zeit ist. Dieses aus Liebe geborene und theologisch motivierte Reformationswollen war der Motor der Reformationen des 16. Jahrhunderts, und mit dem Slogan »Ecclesia semper reformanda!« erklĂ€rte die reformatorische Kirche ihre stĂ€ndige Reformationsbereitschaft geradezu zu ihrem Prinzip. Die evangelische Kirche kann und darf also kein Interesse daran haben, die Augen vor den Dingen zu verschlieĂen, die es zu verĂ€ndern und zu reformieren gilt, wenn sie wirklich Kirche Jesu Christi bleiben will. Wer aber die Augen wirklich offen hĂ€lt, muss unter UmstĂ€nden auch bereit sein, radikale Konsequenzen in den Blick zu nehmen.
Weil die Institution Kirche aus evangelischer Sicht keine Heilsmittlerin ist, es also nicht Priester sind, die dafĂŒr sorgen, dass Gott uns Menschen gewogen bleibt, hat der Protestantismus die Herausbildung von Frömmigkeiten begĂŒnstigt, die â ĂŒberspitzt formuliert â ihr Heil in der Flucht aus der Kirche oder schlicht unabhĂ€ngig von der Kirche suchten und möglicherweise sogar fanden und bis heute finden. Wenn man Luthers Einsicht der Gottesunmittelbarkeit jedes und jeder Einzelnen und seine Kritik der Heilsmittlerschaft der Institution Kirche ernstnimmt, kann und darf man diese Kirchenflucht eigentlich nicht beklagen oder muss zumindest damit leben, dass das, was die Kirche evangelisch macht, die sichtbare Kirche zum Verschwinden bringt. »Die prekĂ€re Balance aus Zugehörigkeit und Desinteresse schĂ€digt die Institution, aber sie zĂ€hlt zu den PhĂ€nomenen, die der deutsche Protestantismus nicht los wird, weil er sie selbst produziert. Denn der protestantische Glaube bestimmt sein VerhĂ€ltnis zu Gott nun einmal nicht aufgrund seines VerhĂ€ltnisses zur Kirche, sondern geht den Weg sekundĂ€rer Institutionalisierung.«5 Bereits in dieser Beobachtung zeigt sich, dass das seit Jahrhunderten evangelischerseits befĂŒrchtete und durch eine zunehmende Zahl von Kirchenaustritten derzeit womöglich beschleunigte Ende der Institution Volkskirche dem Protestantismus gewissermaĂen im Blut liegt. Dass es auch evangelisch sein könnte, dass es die Institution Kirche irgendwann nicht mehr gibt und die Volkskirche aus protestantischen GrĂŒnden zugrundegeht, ist die Crux des reformatorischen Protestantismus. Jedes Nachdenken ĂŒber die Zukunft der evangelischen Kirche, das mit dem Gedanken einer erneuerten Kirche spielt, steht daher auch vor der Herausforderung, sich immer wieder mutig bewusst zu machen, dass das Ende der Volkskirche, wie wir sie heute in Deutschland erleben, keine Katastrophe wĂ€re, ja sogar ein Zeichen dafĂŒr sein könnte, dass es in unserer Gesellschaft auch andere Akteure gibt, die das, wofĂŒr die evangelische Kirche steht, auf ihre Weise und vielleicht sogar besser erfĂŒllen. Was man SĂ€kularisierung nennt, muss mitnichten das Vergessen des Christlichen sein. Es könnte auch seine Verwirklichung im nichtchristlichen oder sogar nichtreligiösen Gewand sein. Wer die Kirche, wie sie ist, kritisiert, sollte dies also nicht allein deshalb tun, weil er oder sie will, dass diese Kirche um jeden Preis â und sei es um den Preis ihrer geistlichen und theologischen Substanz â in irgendeiner vertrauten institutionellen Form weiterexistiert.
So schwer es fĂ€llt, sich von liebgewonnenen Formen von Kirche zu verabschieden, so sehr könnte es also gerade reformatorisch geboten sein, den Gedanken eines solchen Abschiedes nicht zu tabuisieren, um geistig und geistlich wirklich frei und wirklich evangelisch zu bleiben. Das Gedenken der Reformation darf jedenfalls kein Festhalten an der Vergangenheit, es muss eine Erinnerung an die Zukunft sein. Oder â pathetischer und in Abwandlung eines dem Komponisten Gustav Mahler (1860â1911) zugeschriebenen Zitats formuliert: Reformation ist Bewahrung des Feuers, nicht Anbetung der Asche. Dass das Wort »Asche« umgangssprachlich auch als Bezeichnung fĂŒr Geld verwendet wird, steht auf einem anderen Blatt. Diese Bedeutung muss an dieser Stelle nicht unbedingt mitgehört werden. Es schadet aber andererseits auch nicht, sie mitzuhören.
Um nach dem Ende der ReformationsjubilÀumseuphorie des Jahres 2017 nicht verkatert aufzuwachen und in den Jahren danach kein blaues oder graues Wunder zu erleben, darf und muss man also einen kritischen Blick auf die Kirche der Gegenwart werfen und fragen, wie es um die Zukunft des deutschen Protestantismus nach 2017 bestellt sein könnte und sollte. Wenn dieser kritische Blick der Blick eines Menschen ist, der seine evangelische Kirche liebt und sie keineswegs in Grund und Boden kritisieren will, sondern von Herzen evangelischer Christ und Diener seiner Kirche ist, dann ist diese Kritik womöglich umso sachdienlicher, umso glaubensdienlicher und umso kirchendienlicher.
Aber warum bin ich von der deutschen evangelischen Kirche enttÀuscht? Welche Gefahren könnten ihr drohen? Welche Weichenstellungen könnten sie gefÀhrden? Was sollte in der evangelischen Kirche anders werden? Und warum? Was fehlt der evangelischen Kirche?
Das Nachdenken ĂŒber diese Fragen ist mein Beitrag, Verantwortung fĂŒr eine reformatorische Kirche der Zukunft zu ĂŒbernehmen.
3. RELIGION: Berauschende Bewusstseinserweiterung
In unserer Gegenwart pflegen viele Menschen ihre christliche ReligiositĂ€t in unterschiedlichsten Facetten und Schattierungen auch auĂerhalb der Kirche. Dennoch ist und bleibt die Kirche der sichtbarste Ort, an dem die christliche Religion kommuniziert wird. Ebenso wie der Mensch und ebenso wie die Kirche ist auch die Religion eine durchwachsene Angelegenheit. Religiöse GefĂŒhle können durchaus gemischte GefĂŒhle sein. Die Brille des Glaubens taucht â auch, wenn manche sich dies wĂŒnschen und genau deshalb religiös sind â nicht alles in ein rosarotes Licht. Religion kann uns Trost, Geborgenheit und tiefe Gelassenheit spenden. Aber sie ist kein Opium des Volkes. Und auch die Volkskirche ist nicht das Opium des Volkes. Sie erfĂŒllt â jedenfalls aus evangelischer Sicht â nicht die Funktion, Menschen mit Morphinschwaden in ein Jenseits ihres Alltagsbewusstseins zu versetzen und wegdĂ€mmern zu lassen. â Oder doch?
Ich will im Folgenden zumindest mit dem Gedanken spielen, dass sich die christliche Theologie die Religionskritik des Philosophen Karl Marx (1818â1883) vielleicht zu unhinterfragt zu eigen gemacht und die bewusstseinserweiternden und berauschenden Wirkungen der Religion vergessen haben könnte. Es war bekanntlich Marx, der Religion als Opium interpretierte, dessen Konsum soziale und politische VerĂ€nderung verhindere, weil es den Menschen ruhig stelle, ihn sich bis zu seiner Befreiung am Sankt-Nimmerleinstag ins gesellschaftliche Jammertal fĂŒgen lasse und ihn am revolutionĂ€ren, gesellschaftsverĂ€ndernden Handeln hindere. Die absolutistischen PreuĂenkönige konnten nach dem Motto »Brot, Spiele und Religion« nicht genug von Pfarrern bekommen, die die Untertanen bei Laune hielten und auf das Jenseits vertrösteten, damit sie ja nicht auf die Idee kĂ€men, dieses Jenseits schon im Diesseits zu verwirklichen und etwas an ihrer sozialen Lage Ă€ndern zu wollen. Ein solches VerstĂ€ndnis von Religion hielt Marx fĂŒr fatal. Ihm zufolge gilt es vielmehr, das sozialrevolutionĂ€re Potenzial des jĂŒdisch-christlichen Glaubens politisch, ökonomisch und gesellschaftlich so zu verwirklichen, dass das Seufzen der Kreatur verstummt und dass es keiner religiösen Vertröstung auf ein jenseitiges Reich Gottes und infolgedessen ĂŒberhaupt keiner Religion mehr bedarf. Nach der Revolution aller gesellschaftlichen VerhĂ€ltnisse muss, so Marx, der Mensch kein religiöses Opium mehr konsumieren, weil das, worĂŒber er seufzt und was der christliche Glaube ersehnt, verwirklichte gesellschaftliche RealitĂ€t ist.
Marx notierte zwischen den Jahren 1843 und 1844 folgende berĂŒhmt gewordenen SĂ€tze: »Der Kampf gegen die Religion ist also mittelbar der Kampf gegen jene Welt, deren geistiges Aroma die Religion ist. Das religiöse Elend ist in einem der Ausdruck des wirklichen Elendes und in einem die Protestation gegen das wirkliche Elend. Die Religion ist der Seufzer der bedrĂ€ngten Kreatur, das GemĂŒt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser ZustĂ€nde ist. Sie ist das Opium des Volkes. Die Aufhebung der Religion als des illusorischen GlĂŒcks des Volkes ist die Forderung seines wirklichen GlĂŒcks. Die Forderung, die Illusionen ĂŒber einen Zustand aufzugeben, ist die Forderung, einen Zustand aufzugeben, der der Illusionen bedarf. Die Kritik der Religion ist also im Keim die Kritik des Jammertales, dessen Heiligenschein die Religion ist.«6
Hat Karl Marx etwas Wesentliches und Wahres erkannt und sich zugleich am Ende grundlegend getĂ€uscht? Hatte er Recht, als er die Religion Opium des Volkes nannte? Und hatte er Unrecht, als er forderte, man mĂŒsse dem Volk dieses Opium rauben, das Proletariat auf die Barrikaden treiben und dazu nötigen, fĂŒr einen Zustand zu kĂ€mpfen, in dem es sich nicht mehr nach Opium sehnt? Hatte er Unrecht, weil das Volk eben â auch, wenn es ihm den Verstand trĂŒbt und es dumpfsinnig macht â lieber Opium konsumiert, statt Revolution zu machen? Wenn dem so sein sollte, dann tĂ€uscht sich aber die evangelische Kirche genauso wie Karl Marx, wenn sie meint, ihr Auftrag bestehe ausschlieĂlich darin, AnwĂ€ltin gesellschaftlicher und politischer ZustĂ€nde zu sein, in welchen Religion, weil ihre Ideen verwirklicht sind, nicht mehr notwendig ist. Die evangelische Kirche tĂ€uscht sich, wenn sie meint, ihr Auftrag bestehe weniger in religiöser, sondern vielmehr in politischer Bewusstseinsbildung. Könnte es sein, dass das Problem ...