Christus begegnet Muslimen
Zur Auswahl der Lebensberichte
Die vorliegende Sammlung an Lebensberichten von Konvertiten ist nicht reprĂ€sentativ â das will sie nicht und soll sie nicht sein. Sie zeigt ganz einfach individuelle Wege Gottes mit arabischsprechenden Menschen. Es wurden Berichte von Menschen der Arabischen Evangelischen Gemeinde Stuttgart, ihrer Filialen und ihrem Umfeld aufgenommen. Manche wurden in dieser Gemeinde auch getauft. Zwar gibt es insgesamt in Deutschland mehr iranische Konvertiten als arabische. Aber was hier von Arabischsprechenden geschrieben ist, gilt in weiten Teilen auch fĂŒr Konvertiten aus anderen orientalischen Sprachgruppen.
Die Auswahl von fĂŒnf Frauen und vier MĂ€nnern ist nicht reprĂ€sentativ fĂŒr Konvertiten insgesamt, denn in der Gesamtschau ĂŒberwiegen die MĂ€nner. Von der Herkunft her sollten in diesem Buch verschiedene arabische LĂ€nder vertreten sein (Syrien, Irak, Libanon, Ăgypten, Arabische Halbinsel, arabische Minderheit in der TĂŒrkei), ebenso unterschiedliche Lebenswege und -schwerpunkte. Eine Frau wurde aufgenommen, obwohl sie orientalische Christin ist; sie jedoch erzĂ€hlt von der Ehe mit einem Konvertiten, bringt also eine andere Perspektive hinein. Vom Alter her reicht die Spanne von 29 bis 50 Jahre. Es sollten Menschen sein, die schon seit vielen Jahren den christlichen Glauben leben, und andere, die erst vor kurzem Christus begegnet sind. Einige wenige wurden im Nahen Osten getauft, die Mehrheit jedoch hier in Deutschland.
Die meisten Konvertiten erzĂ€hlen unter ihrem echten Namen. Andere verwenden lieber ein Pseudonym â aus den unterschiedlichsten GrĂŒnden; diese Namen sind mit * gekennzeichnet. Die hier vorliegenden Berichte haben Ort und Zeit, sind ĂŒberprĂŒfbar, verifizierbar. Ausnahmen wurden dort gemacht, wo die Interviewten darum gebeten haben, etwa um der Sicherheit ihrer in der Heimat lebenden Verwandten willen. Mit jedem wurde diese Frage erörtert, und jeder entschied, was fĂŒr ihn persönlich richtig ist.
Die Ich-ErzĂ€hlung der Konvertiten wurde aus mehreren langen Interviews zusammengestellt, von den Betroffenen gegengelesen, ergĂ€nzt, manchmal auch wieder gekĂŒrzt und schlieĂlich autorisiert. Es ist nur das aufgenommen, was von den Interviewten bewusst »freigegeben« wurde. EinfĂŒhrung und Abschluss dieser Ich-ErzĂ€hlung sind typographisch abgesetzt. Sie enthalten meine eigenen persönlichen Beobachtungen zur Person, Hinweise zu dem Spezifikum der jeweiligen Biographie oder Hintergrundinfos, die nötig sind, um die ErzĂ€hlung zu verstehen. Aus der Summe dieser Hintergrundinformationen ergibt sich, zusammenhĂ€ngend gelesen, eine kurze EinfĂŒhrung in den Islam. AuĂerdem kommen Problemfelder zur Sprache, die problematische Einstellungen oder Menschenrechtsfragen berĂŒhren: Frauenrechte, Haltung gegenĂŒber ethnischen und religiösen Minderheiten, Antisemitismus; ebenso die Haltung gegenĂŒber »AbtrĂŒnnigen« bzw. Apostaten. Bei jedem sehen die Problemfelder anders aus, denn natĂŒrlich kommen diese Negativhaltungen nicht durchgĂ€ngig bei allen Menschen der islamischen Welt vor. Sie sind jedoch hĂ€ufig anzutreffen und werden von den Interviewten als Problem wahrgenommen. In einem Bericht wird die RealitĂ€t in GemeinschaftsunterkĂŒnften geschildert; ein anderer gibt einen verstörenden Einblick in die RealitĂ€t von Asylanhörungen und -entscheidungen. Im Anhang sind die angesprochenen Themen im Index zusammengestellt. Ein Glossar listet noch einmal alle islamischen oder auslĂ€nderrechtlichen Fachbegriffe auf.
Manche waren erst nach langen GesprĂ€chen dazu bereit, ĂŒber ihr Leben zu reden. Es ist alles andere als selbstverstĂ€ndlich, dass sich Menschen öffnen und Einblick in ihr Leben geben. Vor allem, wenn es ein Leben mit BrĂŒchen ist, ein Leben mit einem Wendepunkt, an dem vieles in Frage gestellt wird. Sowohl die Vorarbeit als auch die GesprĂ€che selbst kosteten auf beiden Seiten sehr viel Kraft. Manchmal taten sich durch das Erinnern AbgrĂŒnde auf. Im Interview erzĂ€hlten die Menschen vieles, von dem sie dann sagten: »Aber bitte, das ist nur fĂŒr dich. Schreib das nicht im Buch.«
WĂ€hrend vieler GesprĂ€che flossen TrĂ€nen. Verletzungen und bittere Erfahrungen kamen hoch, vergessen geglaubte KĂ€mpfe wurden wieder real und erhoben drohend ihr Haupt. Manchmal ergaben sich seelsorgerliche GesprĂ€che, VergangenheitsbewĂ€ltigung, Versöhnung mit sich und der eigenen Biographie und mit den Menschen, die ihnen tiefe Wunden zugefĂŒgt hatten. Oft waren und sind das engste Familienangehörige.
Es werden in dieser Sammlung keine spektakulĂ€ren Verfolgungsgeschichten prĂ€sentiert. BezĂŒglich der Reaktion des Umfeldes auf die Konversion verwende ich bewusst nicht den Begriff der Verfolgung, da er inflationĂ€r verwendet wird und falsche Vorstellungen hervorruft. Stattdessen möchte ich von Diskriminierung, Ausgrenzung und Bedrohung sprechen; diese finden wir in vielen Abstufungen, bis hin zu tatsĂ€chlicher Verfolgung und Todesdrohungen. Auch Zuspitzungen um der Dramatik willen haben keinen Platz. Denn nicht die Negativreaktion des frĂŒheren Umfelds und die TĂ€ter sollen im Mittelpunkt stehen, sondern es geht um die Nachfolge Jesu und die Wege Gottes mit Menschen, die unter uns leben. Genauso wenig ist es Absicht, etwa den Islam als Religion zu verdammen. Vielmehr wurde versucht, sachlich zu rekapitulieren, welche VerĂ€nderungen im Leben nach der Konversion stattgefunden haben. Dies wĂ€re die erste Stufe fĂŒr die Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit. Solch eine Reflexion hilft auch, die Altlasten der Vergangenheit zu bewĂ€ltigen. Denn durch den neuen Glauben werden neue kulturelle, religiöse und ethische Gewohnheiten angeeignet. In Christus sollten alte Dinge vergangen sein, Neues entsteht durch ihn. So liegt trotz aller Erfahrungen von Leid, Krieg und Ausgrenzung ein groĂer Friede in allen ErzĂ€hlungen. Es sind nicht Menschen, die mit ihrer Vergangenheit hadern oder die Kronzeugen eines »schlimmen Islam« sein wollen â und damit gerne von islamophoben Gruppen instrumentalisiert wĂŒrden â, sondern die mit ihrer Vergangenheit versöhnt sind â ein wichtiger Schritt im Leben eines Konvertiten.
Darum bleiben wir auch nicht stehen beim Akt der Konversion oder der Taufe. Taufe ist nicht Schlusspunkt einer Glaubenssuche, sondern Doppelpunkt einer Glaubensentwicklung. Daher wird in diesem Buch die Linie immer ĂŒber die Taufe hinaus weitergezogen.
Eindrucksvoll ist bei vielen das geistliche Wachstum. Als ich Jannat zum ersten Mal traf, gewann ich den Eindruck, dass sie schon seit vielen Jahren an Christus glaubt. Ihre Reife und ihre Kenntnis der Bibel ĂŒbertreffen bei weitem das, was wir bei deutschen sonntĂ€glichen KirchgĂ€ngern sehen. Zudem kennt sie mehr arabische christliche Lieder als die meisten unserer Gemeindeglieder. Wie erstaunt war ich zu erfahren, dass ihre Taufe zum Zeitpunkt des Interviews nicht einmal ein Jahr zurĂŒcklag!
So geht es auch um die »FrĂŒchte des Geistes«. An seinen FrĂŒchten ist ein lebendiges Glaubensleben zu erkennen â und daher lautet auch der Anspruch in einem Gerichtsverfahren, der neue Glaube mĂŒsse »ernsthaft, nachhaltig und identitĂ€tsprĂ€gend« sein. Nur: Wie soll ein Anhörer, der in religiösen Fragen vielleicht nicht nur »unmusikalisch«, sondern manchmal auch skeptisch-ablehnend ist, dies in einer einzigen Befragung in wenigen Stunden nachprĂŒfen können? So werden hier eher formale Fragen wie HĂ€ufigkeit des Gottesdienstbesuchs, gemeindliche AktivitĂ€ten und Tagesgestaltung abgefragt. Die FrĂŒchte des Geistes und die Persönlichkeits- und Glaubensentwicklung entziehen sich der Evaluierung. Dabei sind viele Konvertiten bereits selbst Multiplikatoren und geben ihre Erfahrungen im Glauben weiter, so etwa als Mitarbeitende bei arabischen Freizeiten oder bei Taufkursen.
»Mein neues Leben« ist nicht im Sinne eines Vorher-Nachher zu verstehen, etwa wie Fotos oder Momentaufnahmen vor und nach einer Schönheitsoperation. Wenn Christus einem Menschen begegnet, so bedeutet das nicht, das nun »alles gut« ist. Die Taufe ist eben kein magisches Versprechen: »Glaube an Jesus, und du bist alle deine Probleme los, du wirst gesund und reich und hast Erfolg.« Vielleicht kann man in den Berichten von Konvertiten am deutlichsten erkennen, dass ein Wohlstands-Evangelium kein Evangelium von Christus ist. Ihre Ă€uĂeren Rahmenbedingungen bleiben dieselben, ja, sie verschĂ€rfen sich oft noch aufgrund des Apostasiegesetzes. So gehen sie in den Spuren dessen, der sich selbst erniedrigte, der den Glanz des Himmels verlieĂ, der Mensch wurde und um unseretwillen hinabstieg in das Reich des Todes.
JANNAT â die Vertreibung aus den blĂŒhenden GĂ€rten
»Jannat« â »blĂŒhende GĂ€rten, Paradiese«, so lautet der Name der stillen jungen Frau mit dem langen glatten Haar. »Jannat« könnte man auch die Gegend nennen, in der sie jetzt lebt: dort, wo das SchwĂ€bische am idyllischsten ist, in einem malerischen Flusstal, umgeben von steilen Felsen und WĂ€ldern. Ihre groĂen melancholisch blickenden Augen haben mehr gesehen als die vieler gleichaltriger deutscher Frauen: von den pulsierenden MĂ€rkten der syrischen Wirtschaftsmetropole Aleppo ĂŒber Zerstörung und Tod bis hin zum trostlosen Container der Gemeinschaftsunterkunft, der ausgerechnet in jenem idyllischen Tal steht â der Kontrast könnte nicht gröĂer sein.
Als ich sie kennenlernte, dachte ich, dass sie schon seit vielen Jahren Christin sei. Sie kannte so viele christliche Lieder, als hĂ€tte sie ihr ganzes Leben in einem christlichen Umfeld verbracht. Und sie besitzt eine Reife, durch die das Sprichwort von den stillen Wassern, die tief grĂŒnden, aktuell und lebendig wird.
Wir sind Kurden aus Afrin, die der besseren Bildung und Arbeit wegen nach Aleppo gezogen waren â in Afrin gab es nur Schulen bis zur 6. Klasse. Obwohl unsere Zukunft in Aleppo lag, kehrten wir zu allen wichtigen Festen nach Afrin zurĂŒck. Mein Vater ist ein weltoffener Mann, der sich notfalls sogar gegen seine eigenen BrĂŒder stellte: Da meine Mutter zuerst »nur« fĂŒnf MĂ€dchen zur Welt brachte, bedrĂ€ngten meine Onkel meinen Vater, eine zweite Frau zu heiraten, die ihm dann hoffentlich einen Sohn schenken wĂŒrde. Mein Vater lehnte das ab, und meine Mutter bekam dann tatsĂ€chlich noch einen Jungen. MĂ€dchen haben fĂŒr ihn den gleichen Stellenwert wie Jungen â und sowohl meine Mutter als auch wir MĂ€dchen trugen keinen Schleier.
Als wir MĂ€dchen die Schule beendet hatten und eine Ausbildung bzw. ein Studium beginnen wollten, kamen meine Onkel und wollten meine Eltern daran hindern. In den staatlichen Schulen werden Jungen und MĂ€dchen ab dem 7. Schuljahr getrennt unterrichtet, aber in der weiterfĂŒhrenden Bildung sind sie wieder beieinander. Die Leute sagen, MĂ€dchen sollten heiraten, nicht studieren, denn sie befĂŒrchten, dass das Studium die Gedanken der MĂ€dchen verdirbt. Mein Vater aber liebt selbst das Wissen und wollte seine Töchter wie seinen Sohn behandeln. Er wollte, dass wir anders sind als die Gesellschaft um uns herum, die er fĂŒr ungerecht hielt, und sagte, er wolle stolz auf uns und unser Studium sein. So wurden wir die erste Familie, die so fortgeschritten war, dass sie allen MĂ€dchen eine volle Schulbildung ermöglichte. Als erste Frau in meiner Familie besuchte ich nach dem Abitur noch zwei Jahre lang ein technisches Seminar fĂŒr Bauingenieure.
Meine Eltern lebten uns vor, nur nach unserem Gewissen zu handeln: Mein Vater war Inhaber eines kleinen Supermarkts, und mein Bruder half ihm immer im Laden. Er hört nicht gut, und so war es seine Aufgabe, im Hintergrund die Waren vorzubereiten. Vor den groĂen Festen, wenn alle Leute SĂŒĂigkeiten und Geschenke kaufen, gab es so viel Arbeit, dass auch meine Mutter im Laden aushalf und die Verwaltung ĂŒbernahm â es war ihr egal, was Tradition war und dass die Leute ĂŒber sie redeten.
Wenn wĂ€hrend des Freitagsgebets die LĂ€den schlossen, lieĂ mein Vater seinen Laden offen. Deshalb kamen die Sheikhs zu ihm und sagten: »Du bist doch ein guter Mensch und betrĂŒgst deine Kunden nicht. Warum betest du dann nicht in der Moschee?« Er aber sagte: »Ich faste, aber ich will nicht beten.«
In Aleppo wohnten wir in einer Gegend, in der sunnitische Araber und Kurden leben. Obwohl in der Stadt viele Christen leben, kannte ich keinen von ihnen. Sie blieben unter sich in ihren Vierteln. In meinem Leben ergaben sich keine BerĂŒhrungspunkte mit ihnen â und ich wollte auch keine haben. Selbst in der Schule gab es keine christlichen Klassenkameraden. Wir lernten im Unterricht nur, dass es diese Religion gibt, dass sie sich ein Kreuz umhĂ€ngen und am Sonntag in der Kirche beten. Im Ăbrigen seien die Christen kuffar (UnglĂ€ubige) wie die Juden, und deshalb unsere Feinde. Weil aber der Islam die letzte und damit letztgĂŒltige Religion ist, mĂŒssen sich alle vorherigen Religionen dem Islam anschlieĂen. Einzig mein Vater sprach positiv von seinen christlichen Kunden: Sie seien diejenigen, die nicht lĂŒgen und nicht betrĂŒgen. Auch in Afrin kannte ich persönlich keine Christen. Die Franzosen hatten nach dem 1.Weltkrieg in Afrin eine armenische Kirche fĂŒr die vor dem Genozid geflĂŒchteten Christen gebaut, diese wanderten jedoch nach und nach ab. Die Konvertitengemeinden in Afrin entstanden erst in jĂŒngster Zeit â und wurden nach der Eroberung durch die tĂŒrkische Armee im MĂ€rz 2018 wieder ausgelöscht.
Wie die meisten Kurdenfamilien war meine Familie nicht besonders religiös. Zu jener Zeit war ich diejenige, die sich am meisten mit der Religion beschĂ€ftigte. Ich hatte viele Fragen zum Glauben, aber meine Eltern konnten sie nicht beantworten. Immer mehr suchte ich die NĂ€he zu Gott. Und so beschloss ich fĂŒr mich, dass ich beten wolle. Das bedeutete fĂŒr mich damals, die tĂ€glichen fĂŒnf rituellen Gebete (salat) zu verrichten. Alle Muslime auf der ganzen Welt beten sie in der gleichen Weise: Sie rezitieren Koranverse und das Glaubensbekenntnis in arabischer Sprache, in genau vorgeschriebenen Körperhaltungen und -bewegungen, zu festgelegten Zeiten. Als mir das in der Ausbildung nicht mehr möglich war, weil in Syrien wie in den meisten arabischen LĂ€ndern weder an Hochschulen noch UniversitĂ€ten RĂŒcksicht auf die Gebetszeiten genommen wird und die Unterrichtszeit von 8 bis 17 Uhr dauerte, hatte ich den Eindruck, mich von Gott zu entfernen â denn ein Gebet, das nicht zur »richtigen«, also vorgeschriebenen Zeit verrichtet wurde, konnte ja kein gĂŒltiges Gebet sein. Damit war ich strenger als die anderen, denn eigentlich können Gebete, die man unverschuldet versĂ€umt, nachgeholt werden. Neben dem rituellen Gebet gibt es noch die Möglichkeit eines freien Gebets, duâa (»Anrufung«), das jedoch nicht verpflichtend ist und deshalb kein Ersatz fĂŒr das salat, das rituelle Pflichtgebet, sein kann.
Krieg
Kaum hatte ich im Jahr 2014 die Ausbildung abgeschlossen, erreichte der Krieg Aleppo â wir waren somit der letzte Jahrgang, der die Ausbildung beenden konnte. Unser Stadtteil, der Regierungsgebiet war, wurde von den umliegenden...