B. DARSTELLUNG
1. EIN JUDE AUS GALILÄA – DER HISTORISCHE KONTEXT JESU
Wir nähern uns dem historischen Kontext Jesu in diesem Kapitel in einem Dreischritt. Dabei beginnen wir mit seiner unmittelbaren Umgebung – seinem Heimatort und seiner Familie – und dehnen die Perspektive sodann schrittweise aus: zunächst auf Galiläa, wo sich wichtige Teile der öffentlichen Wirksamkeit Jesu abspielen, schließlich auf das Judentum zur Zeit Jesu als dem kulturellen und religiösen Kontext seines Wirkens.
1.1 Der Nazarener
Jesus stammt aus Nazaret in Galiläa. In Mk 6,1 wird dieser Ort als seine Heimatstadt bezeichnet, er selbst wird verschiedentlich »Nazarener« oder »Nazoräer« genannt, auch bei Matthäus und Lukas, die von seiner Geburt in Bethlehem erzählen. Auch das Johannesevangelium, das – wie Markus – keine Geburtsgeschichte enthält, setzt seine Herkunft aus Nazaret voraus: In Joh 1,45 f. sagt Philippus zu Natanël, er habe den von Gesetz und Propheten Angekündigten gefunden, Jesus aus Nazaret, den Sohn Josefs – worauf sofort die skeptische Frage folgt, ob denn aus Nazaret etwas Gutes kommen könne. Später wird die Herkunft aus Galiläa von den Juden sogar gegen seine Messianität vorgebracht: Der Messias kommt aus dem Geschlecht Davids und aus dem Dorf Bethlehem, Jesus dagegen stamme aus Galiläa und sei kein Davidide, folglich könne er nicht der Messias sein. Es ist unübersehbar: Die Herkunft Jesu aus einem unbekannten galiläischen Dorf ließ sich mit dem Bekenntnis, er sei der Messias Israels, nur schwer vereinbaren.
Matthäus und Lukas bringen die Geburt Jesu deshalb mit der prophetischen Verheißung in Verbindung, dass der künftige Herrscher Israels aus Bethlehem kommen wird. Diese findet sich im Buch des Propheten Micha (Mi 5,1) und wird als in Jesus erfüllt angesehen. Matthäus zitiert dieses Wort darum in seiner Geburtserzählung ausdrücklich, wenn auch in eigenwilliger Weise. Bei Lukas heißt Betlehem die »Stadt Davids« (Lk 2,4.11), wodurch die Geburt Jesu ebenfalls mit seiner davidischen Herkunft in Verbindung gebracht wird. Die Geburtsgeschichten verlegen die Geburt Jesu demnach – trotz des gegenteiligen »historischen« Befundes – nach Betlehem, um dadurch seine Bedeutung als verheißener Messias hervorzuheben, den Gott seinem Volk sendet und mit dem die auf den erwarteten Davididen bezogenen Erwartungen in Erfüllung gehen. Auf diese Weise wird die Überzeugung von der besonderen Bedeutung Jesu bereits mit der Schilderung seiner Geburt verbunden, die mit der Erzählung einer »gewöhnlichen« Geburt nicht zum Ausdruck gebracht wäre.
Die Erzählungen bei Matthäus und Lukas weisen dabei in der Zuordnung von Nazaret und Bethlehem einen deutlichen Unterschied auf. In ihrer Kombination in Weihnachtslesungen und -musiken ist dies in der Regel nicht mehr zu erkennen. Im MtEv (Mt 1,18–2,12) spielen die Ereignisse von Beginn an in Judäa. In 2,1 wird dementsprechend Betlehem, in 2,5 Jerusalem erwähnt. Nach der Geburt Jesu muss die Familie vor Herodes nach Ägypten fliehen. Erst später, nach dem Tod des Herodes, zieht sie sodann aufgrund eines Befehls, den Joseph im Traum erhält, ins Land Israel zurück, zunächst nach Judäa, anschließend, in Folge eines weiteren Traumbefehls, nach Galiläa (Mt 2,19–23). Die Familie lässt sich in Nazaret nieder, das in Mt 2,23 zum ersten Mal genannt wird. Der gesamte Erzählkomplex – die Geburt in Bethlehem, der Aufenthalt in Ägypten, die Übersiedlung nach Nazaret – steht bei Matthäus unter dem Vorzeichen der Erfüllung prophetischer Verheißungen, wie die mehrfach zitierten Schriftstellen deutlich machen, die Matthäus zur Reflexion der Bedeutung dieser Ereignisse anführt.
Bei Lukas erfolgt die Ankündigung der Geburt Jesu durch den Engel Gabriel an Maria dagegen in Nazaret (Lk 1,26 f.). Joseph und Maria wohnen also in Nazaret und müssen von dort aufgrund des angeblich von Augustus angeordneten Reichszensus nach Bethlehem reisen (Lk 2,1–5). Später kehren sie von dort nach Nazaret zurück, das ausdrücklich »ihre Stadt« heißt (2,39). Auch die lukanische Geburtsgeschichte steht dabei im Zeichen der Erfüllung der Verheißungen an Israel: Jesus wird »Sohn des Höchsten« genannt, dem Gott den Thron Davids geben und der über das Haus Jakob herrschen wird (Lk 1,32 f.), das Kommen Jesu wird als Erlösung und Herrlichkeit für Israel und Licht für die Heiden bezeichnet (2,32). Dieser Befund zeigt, dass die Geburt in Bethlehem ein altes Motiv ist, durch welches im frühen Christentum der Glaube an Jesus als den Messias und Sohn Davids dargestellt wurde. Matthäus und Lukas haben dies in jeweils eigener Weise in ihren Geburtsgeschichten verarbeitet.
Darüber hinaus begegnen weitere Motive, die sich auch in anderen Schilderungen wunderbarer Geburten finden, z. B. bei denjenigen von Mose, Plato oder Alexander dem Großen. Bei Matthäus treten dabei Anklänge an die Mosegeschichte in jüdischer Überlieferung hervor, bei Lukas finden sich Bezüge zu einem in damaliger Zeit sehr bekannten Text, nämlich zur 4. Ekloge des römischen Dichters Vergil (70–19 v. Chr.), in der die Geburt eines göttlichen Knaben angekündigt wird, den eine Jungfrau (gemeint ist Dike, die Göttin der Gerechtigkeit) zur Welt bringen wird. Vermutlich ist dies auf die Geburt des römischen Kaisers Augustus gemünzt. Antike Leser waren also damit vertraut, dass in den Schilderungen der Geburten außergewöhnlicher Menschen wunderbare Umstände begegnen.
Zu den bei Matthäus und Lukas begegnenden Motiven gehören dabei göttliche Zeugung und Jungfrauengeburt, ein astronomisches Vorzeichen (der »Stern von Bethlehem«, Mt 2,2), das Auftreten von Gelehrten (die »Magier aus dem Osten«, Mt 2,1) sowie Kindermord und Rettung des Neugeborenen (Mt 2,16–19). Diese Motive berühren sich insbesondere mit der Erzählung des Josephus über die Umstände der Geburt des Mose. Bei Lukas umgibt, neben den Ankündigungen der Geburten Johannes des Täufers und Jesu durch den Engel Gabriel, insbesondere noch das Auftreten der Hirten in Lk 2,8–20 die Geburt Jesu mit einer besonderen Aura. Schließlich sind auch die Stammbäume in Mt 1,1–17 und Lk 3,23–28 zu nennen, die Jesus in die Geschichte Israels einordnen (Mt) bzw. ihn sogar mit Gott in Verbindung bringen (Lk).
An den Umständen der Geburt Jesu werden damit bereits die Besonderheit seines Wesens und seines späteren Weges erkennbar: Gezeugt von Gottes Geist, geboren von einer Jungfrau, ist Jesus der von Gott gesandte Retter Israels und der Heiden. Mit der Bezeichnung als Sohn Davids und Sohn Abrahams (Mt 1,1) zeigt Matthäus an, dass das mit dem Kommen Jesu beginnende Heil über Israel hinaus zu den Heiden führen wird. Lukas stellt Jesus als denjenigen dar, durch den Gott Israel zu seinem Recht verhelfen wird, dessen Geburt aber zugleich in welthistorischen Dimensionen zu beschreiben ist: Er ist der neue universale Friedensherrscher, der Licht für die Heiden und Herrlichkeit für Gottes Volk Israel ist (Lk 2,32). Die Geburtsgeschichten von Matthäus und Lukas, die die Grundlage der christlichen Weihnachtsbotschaft bilden, deuten seinen Weg also als das zu Israel gesandte Heil Gottes, das aber über Israel hinausführen und auch die Heiden einschließen wird.
Bei Johannes stoßen die Verheißung des davidischen Gesalbten aus Bethlehem und die tatsächliche Herkunft Jesu dagegen hart aufeinander. Dabei wird deutlich: Wer die Herkunft Jesu aus Galiläa gegen seine Messianität ins Feld führt, verkennt sein wahres Wesen. Jesus erfüllt die Messiaserwartungen Israels – und damit auch die Schriften – auf eine Weise, die sich nur tieferem Verstehen erschließt. Das JohEv beginnt deshalb mit einem Prolog, in dem Jesus als der göttliche Logos geschildert wird, der Fleisch wird und die Herrlichkeit Gottes in der Welt offenbar macht. Auch hier wird die Besonderheit des Wesens Jesu bereits mit seinem Eintritt in die irdische Sphäre verbunden. Johannes geht dabei sogar über Matthäus und Lukas hinaus, wenn er Jesus eine Präexistenz zuschreibt: Er war als der göttliche Logos bereits vor der Erschaffung der Welt bei Gott und hat deshalb an Gottes Herrlichkeit Anteil, die er auch bei seinem Auftreten in der Welt behält.
Das MkEv, die älteste Jesuserzählung, enthält keine Vorgeschichte, sondern beginnt unmittelbar mit dem Auftreten Johannes des Täufers. Hier wird Jesus darum auch erst bei der Taufe als Sohn Gottes proklamiert, wogegen bei Matthäus und Lukas bereits die Zeugung Jesu durch Gott veranlasst wird und bei Johannes sogar der präexistente Logos selbst Gott ist. Es gibt allerdings eine Stelle bei Markus, in der die Frage der Davidsohnschaft Jesu ebenfalls reflektiert wird: In Mk 12,35–37 setzt sich Jesus mit dem Einwand der Schriftgelehrten auseinander, der Gesalbte müsse aus dem Geschlecht Davids kommen. Jesus widerlegt diese Behauptung mit Hilfe eines Schriftbeweises: David selbst bezeichne im Psalm den Christus als seinen Herrn, folglich könne er nicht der Sohn Davids sein. Bei dieser Argumentation ist vorausgesetzt, dass David der Dichter dieses Psalms ist und dass der Psalm von dem Gesalbten handelt (was in dem Psalm selbst nicht gesagt wird). Beide Voraussetzungen sind nach frühjüdischer bzw. urchristlicher Auffassung ohne weiteres plausibel. Ist der Christus aber kein Sohn Davids, kann Jesus der Christus sein. Wie bei Johannes wird auch hier bei Markus das Problem, dass Jesus aus Nazaret, der Sohn des Joseph und der Maria, zugleich der Messias Israels sein soll, anders gelöst als in den Geburtserzählungen von Matthäus und Lukas: Es werden keine legendarischen Erzählungen über seine Herkunft aus dem Geschlecht Davids und seine Geburt in Betlehem verfasst, stattdessen wird auf andere Weise dargelegt, dass die Herkunft Jesu aus Nazaret nicht dagegen spricht, dass er der von Gott zum Heil der Menschen in die Welt gesandt wurde.
Der Befund macht somit deutlich: Die Evangelien setzen das Bekenntnis zu Jesus als dem Sohn Gottes und Messias voraus und gestalten ihre Erzählungen über sein Wirken und Geschick im Licht dieser Überzeugung. Die Geburtsgeschichten bei Matthäus und Lukas sind dabei keine historischen Berichte, sondern Legenden, die auf der urchristlichen Überzeugung basieren, dass Jesus der Messias (der Christus) ist, in dessen Kommen sich deshalb die mit der Herrschaft des kommenden Davididen verbundenen Verheißungen erfüllt haben. Die darauf gründende Rede der Herkunft Jesu aus dem Geschlecht Davids kommt auch in der bereits erwähnten Stelle Röm 1,3 zum Ausdruck, wo Jesus als »geboren aus dem Samen Davids dem Fleisch nach« bezeichnet wird. Die in 1,4 unmittelbar folgende Aussage stellt dem den neuen Status gegenüber, den er durch die Auferweckung und die damit verbundene Einsetzung zum Sohn Gottes erlangt hat. Die Überlieferung von der davidischen Herkunft Jesu geht also auf eine frühe Bekenntnisaussage zurück, die von Matthäus und Lukas zu Legenden über seine wunderbare Geburt verarbeitet wurde. War bei Paulus die Einsetzung zum Sohn Gottes noch mit der Auferweckung verbunden, so wird dies in den Evangelien bis zu seiner Taufe bzw. seiner Geburt zurückverlegt oder sogar zur Aussage seiner Präexistenz als göttlicher Logos gesteigert. Das irdische Wirken Jesu vollzieht sich damit von Beginn an in der Autorität Gottes.
Historisch betrachtet bleiben wir für die Herkunft Jesu dagegen auf Nazaret verwiesen. Jesus stammt demnach aus einem kleinen, unbedeutenden Dorf in Untergaliläa, das zu seiner Zeit weniger als 400 Einwohner zählte. Dort lebte seine Familie, dort war er – wie offenbar auch sein Vater – als Bauhandwerker tätig (Mk 6,3; Mt 13,55). In der Jesusüberlieferung spielt dieser Ort allerdings nur eine untergeordnete Rolle. Den synoptischen Evangelien zufolge tritt Jesus dort nur ein einziges Mal auf – und das zudem erfolglos. Das geringe Interesse der frühen Überlieferung ist vor allem darauf zurückzuführen, dass Jesus sich, als er öffentlich aufzutreten begann, von seinem Heimatort und seiner Familie trennte. Dass dies durchaus programmatisch geschah, wird daran erkennbar, dass Jesus eine solche Trennung zum unverzichtbaren Bestandteil seines Wirkens erklärte und sie auch von seinen Nachfolgern erwartete. Es verwundert deshalb nicht, dass sich die christliche Literatur erst im 3. Jahrhundert für diesen Ort zu interessieren beginnt und seine Existenz im 19. Jahrhundert aufgrund der schwachen literarischen Bezeugung sogar bezweifelt werden konnte.
Über Kindheit und Jugend erfahren wir aus den Evangelien nichts historisch Auswertbares. Um die Prägung Jesu durch seine Umgebung zu erheben, muss deshalb ein Blick auf den galiläischen Kontext seiner Zeit geworfen werden.
1.2 Der Galiläer
Die galiläische Herkunft Jesu wurde in unterschiedlicher Weise zur Deutung seiner Person und seines Auftretens herangezogen. Im 19. Jahrhundert entstand die romantische Vorstellung einer ländlichen Idylle, in der sich Gott in seinem Sohn offenbart habe und die im Gegensatz sowohl zum Alten Testament als auch zur späteren Geschichte des Christentums steht. Am Beginn des 20. Jahrhunderts wurde Jesus unter Berufung auf seine galiläische Herkunft aus seinem jüdischen Kontext gelöst. Galiläa sei zur Zeit Jesu eine überwiegend nicht-jüdische Region gewesen, Jesus sei deshalb in Galiläa »außerhalb des Bannkreises von Schriftgelehrsamkeit und Pharisäismus … in ziemlicher Freiheit vom Gesetz« aufgewachsen und habe von daher eine offene Haltung zu den Heiden gehabt. Diese These wurde einst im Kontext nationalsozialistischer Rassenideologie vertreten. Sie wird aber auch in neuerer Zeit wieder bemüht – nunmehr, um den Worten Jesu das Flair einer weltläufigen popularphilosophischen Lehre zu geben. Die Anfänge des Christentums werden dabei aus dem Judentum herausgelöst und auf eine Gruppe von Jesusnachfolgern zurückgeführt, in der sich sowohl Juden wie Heiden befunden hätten. Galiläa als Kontext Jesu spielt schließ...