Vom Wir zum Ich
Geistliches Singen im Zeitalter des Barock
Walter Sparn
Vergönne mir, o Jesulein,
dass ich dein MĂŒndlein kĂŒsse,
das MĂŒndlein, das den sĂŒĂen Wein,
auch Milch und HonigflĂŒsse
weit ĂŒbertrifft in seiner Kraft:
Es ist voll Labsal, StÀrk und Saft,
der Mark und Bein erquicket.
Diese Liedstrophe aus dem Jahr 1653 ist ein Jahrhundert zuvor kaum denkbar. So etwas dĂŒrfte auch heute kaum jemandem einfallen. Es ist die Strophe 6 aus Paul Gerhardts Ich steh an deiner Krippen hier. Im Evangelischen Gesangbuch (EG, 1993) ist sie getilgt, wie schon im VorgĂ€ngergesangbuch, dem EKG, sowie im katholischen Gotteslob und im reformierten Gesangbuch der Schweiz. Immer hin wird das Lied nicht mehr ganz verworfen, wie im Gefolge der frommen TĂ€ndeleien abgeneigten AufklĂ€rung und der etwas steifen Erwecklichkeit des 19. Jahrhunderts.
Mein Heiland: mein Herzelein
In seinem Krippenlied gibt Gerhardt einem Ich die Stimme, das aus liebendem Herzen mit dem Jesuskind spricht und das sich an ihm nicht satt sehen kann (EG 37,4). Seine Ăuglein lachen ihn an, seine HĂ€ndlein strecken sich nach ihm aus (Strophen 7â9; im EG getilgt), sein MĂŒndlein entzĂŒndet das Verlangen, es zu kĂŒssen, um sich nach Seele und Leib (!) zu erquicken. Das Lied löst sich fast ganz aus der biblischen Szene â nur die Krippe, Heu und Stroh bleiben â und agiert singend eine innig-zĂ€rtliche, geradezu intime Beziehung zu Jesus aus. Ein Liebeslied also â daher die kosenden Verkleinerungsformen.
Du hast mit deiner Lieb erfĂŒllt
mein Adern und GeblĂŒte;
Dein schöner Glanz, dein sĂŒĂes Bild
liegt mir ganz im GemĂŒte.
Wie mag es denn auch anders sein:
Wie könnt ich dich, mein Herzelein,
aus meinem Herzen lassen? (Strophe 2; fehlt im EG)
Dieses Herz ist der Raum des Austausches von ich und du, wo wieder geschenkt wird, was empfangen wurde: Geist und Sinn, Herz, Seel und Mut, Leben (EG 37,1). So wĂŒnscht das Ich, dass sein Sinn ein Abgrund und seine Seele ein weites Meer sei, um Jesus zu fassen (EG 37,4), und bittet schlieĂlich, da es ja nur nur Staub und Erde sei (Strophe 15), Jesu Krippe sein zu dĂŒrfen:
âŠ
So lass mich doch dein Kripplein sein:
Komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden. (Strophe 14; EG 37,9)
Verinnerlichung des Christusglaubens im geistlichen Liebeslied â das ist eine gegenĂŒber dem Singen der Reformationszeit neue Entwicklung. Bei Luthers Nun freut euch lieben Christen gmein (EG 341) ist es ein reprĂ€sentatives Ich, das ab Strophe 2 seine dramatische Geschichte erzĂ€hlt. Es steht jedem SĂ€nger zur Ăbernahme offen. Das ich in Gerhardts Krippenlied schlieĂt eine solche Ăbernahme natĂŒrlich nicht aus. Die Strophen 7â12 wenden sich erzĂ€hlend an Andere (EG 37,5.7.8) und die poetisch kunstvolle Form des Liedes ist bewusst auf Mitteilung und Wirkung auf Andere angelegt. Gleichwohl zeigt sich hier das Ich eines fĂŒhlenden Herzens, das nicht etwas ĂŒber sich sagt, sondern sich selbst ausspricht â und so Andere zu einer eigenen innerlichen Jesusbeziehung verlockt. Dieses sich selbst Aussprechen war damals eine neue Möglichkeit. Und solche AuthentizitĂ€t ist bis heute eine wesentliche Bedingung glaubhaften Redens zwischen Menschen, auch wenn die Sprachmittel andere geworden sind.
Die Individualisierung des geistlichen Lieds im Barock hing eng mit den poetischen und musikalischen Entwicklungen der Zeit zusammen â einer Epoche europĂ€ischer Kultur, die in jeder Hinsicht stark bewegt und schöpferisch, aber auch von extremen politischen Spannungen und religiösen GegensĂ€tzen geprĂ€gt war. Der Weg vom Wir zum Ich betrat Neuland, sprachlich, musikalisch, auch sozial. Wie das Krippenlied Gerhardts wurden viele barocke Lieder nicht fĂŒr den öffentlichen Gottesdienst verfasst und vertont, sondern fĂŒr die private Andacht, d. h. fĂŒr (Solo-)Gesang und Begleitinstrumente wie Laute oder Cembalo (Spinett), wobei Frauen eine wichtige Zielgruppe bildeten. Die Lieder waren daher zunĂ€chst auf stadtbĂŒrgerliche oder adlige Kreise beschrĂ€nkt und fanden erst ab Ende des 17. Jahrhunderts in den Gemeindegesang.
Du meine Seele singe
Die Neuerungen im geistlichen Lied des Barock hatten weder die Absicht noch den Effekt, die im Gemeindegesang praktizierte reformatorische Liedtradition zu beenden. Auch Gerhardt bezog sich auf diese eigene religiöse Tradition. Das war selbstverstÀndlich und um der konfessionellen StabilitÀt willen auch notwendig. So konnte Gerhardts Krippenlied sich von Luthers Kinderlied Vom Himmel hoch bestÀtigt wissen, wo der SÀnger das herzliebe Jesulein aufgefordert hatte, sich in seinem Herzen ein sanft Bettelein zu bereiten (EG 24,13).
Ganz im Sinne reformatorischer Frömmigkeit und Theologie war auch der RĂŒckbezug auf die Psalmen, deren Poesie nicht nur fĂŒr den Gemeindegottesdienst, sondern auch fĂŒr die persönliche Beziehung zu Gott hilfreich war. Hatte Luther die Gattung des Psalmliedes fĂŒr die Gemeinde erfunden, so wurde sie im Barock mit neuen Liedern fortgefĂŒhrt, die das reprĂ€sentative Ich gegenwĂ€rtig hielten, es aber fĂŒr das expressiv-fromme Ich öffneten. DafĂŒr steht Cornelius Beckers Der Psalter Davids gesangsweis auf die in Lutherischen Kirchen gewöhnlichen Melodeyen zugerichtet (1602, 15. Aufl. 1712), bekannt wegen der Vertonungen durch Heinrich SchĂŒtz (1628/1661). Daraus stehen heute im Gesangbuch Ich will, solang ich lebe, rĂŒhmen den Herren mein (EG 276 zu Psalm 34), Wohl denen, die da wandeln vor Gott in Heiligkeit (EG 295 zu Psalm 119), Ich heb mein Augen sehnlich auf (EG 296 zu Psalm 121). Wie wichtig immer noch das reprĂ€sentative, im Wir sich findende Ich ist, kann man an der HĂ€ufigkeit sehen, mit der das Lied Nun danket alle Gott (Martin Rinckart 1636; EG 321) gesungen wird, das an den weisheitlichen Text Sirach 50 anknĂŒpft.
Schöpferisch eigneten sich die Dichter des 17. Jahrhunderts den Psalter in der Sprachform des SelbstgesprĂ€chs an. Ein anrĂŒhrendes Beispiel fĂŒr die Aufforderung des Ich an seine Seele, die groĂen Taten Gottes zu rĂŒhmen, ist Gerhardts Nachdichtung von Psalm 146 Du meine Seele singe, wohlauf und singe schön (EG 302). Der Lobpreis des Schöpfers und seiner gĂŒtigen Vorsehung in Natur und Menschenwelt reflektiert, typisch fĂŒr barocke SubjektivitĂ€t, ohne Anhaltspunkt im Psalm nach vollzogenem Lobpreis die persönliche Begrenztheit: Ach ich bin viel zu wenig, zu rĂŒhmen seinen Ruhm (EG 302,8).
Ăber den Psalter hinaus geht dann die Selbstanrede im Blick auf Jesus Christus: Warum sollt ich mich denn grĂ€men? Hab ich doch Christus noch, wer will mir den nehmen? (EG 370). Hier fĂŒhrt der Selbsttrost zur Gewissheit des Glaubens in einer Beziehung, die zwar asymmetrisch ist, aber wechselseitig und von beiden Seiten aus untrennbar:
Aus dem Ebelingschen Gesangbuch (1667), oben die Sopranstimme.
Herr, mein Hirt, Brunn aller Freuden,
du bist mein, ich bin dein,
niemand kann uns scheiden.
Ich bin dein, weil du dein Leben
und dein Blut mir zugut
in den Tod gegeben.
Du bist mein, weil ich dich fasse
und dich nicht, o mein Licht,
aus dem Herzen lasse.
Lass mich, lass mich hingelangen,
da du mich und ich dich
leiblich (orig.: lieblich!) werd umfangen. (EG 370,11.12)
Diese Strophen lassen drei Charakteristika des geistlichen Liedes im 17. Jahrhundert besonders deutlich erkennen: die innige Herzensbeziehung zu Christus; die VerlÀsslichkeit seines an Krippe und Kreuz anschaulichen mir zugut; die Hoffnung auf die leibhafte Liebes- Gemeinschaft mit ihm im Himmel. Diese barocke Weiterentwicklung des reformatorischen Psalmengebrauchs lebt in einer heute wieder gewonnenen Einsicht fort: Das Ich existiert als ein sich zu sich selbst ins VerhÀltnis setzendes Selbst und lebt so in sich Differenz und VerÀnderung. Nur deshalb ist es kommunikationsfÀhig.
Mein König und mein BrÀutigam
Es ist eine der groĂartigsten Leistungen des evangelischen Christentums: Innerhalb von drei Generationen nach der Reformation formte sich eine Christusfrömmigkeit, die an emotionaler IntensitĂ€t und sprachschöpferischer AusdrucksstĂ€rke der katholischen Marienfrömmigkeit in nichts nachstand. Im Freudenspiegel des ewigen Lebens, den der Unnaer Pfarrer Philipp Nicolai 1599 der Pest entgegenhielt, publizierte er ein Geistlich Braut-Lied der glĂ€ubigen Seelen von Jesu Christo ihrem himmlischen BrĂ€utigam:
Wie schön leuchtet der Morgenstern
voll Gnad und Wahrheit von dem Herrn,
die sĂŒĂe Wurzel Jesse.
Du Sohn Davids aus Jakobs Stamm,
mein König und mein BrÀutigam,
hast mir mein Herz besessen ⊠(EG 70,1)
Nicolai dichtet den in der Bibel als Brautlied bezeichneten Psalm 45 und dort gebrauchte Preiswörter der Bewunderung und Liebe um auf Christus hin. Das Hohelied Salomos spielt herein, wenn der SĂ€nger bekennt, sein Herz brenne verwundet vor Liebe: Nach dir ist mir, gratiosa cĆli rosa, krank und glimmet mein Herz durch Liebe verwundet (EG 70,3 sprachlich verĂ€ndert). Die zĂ€rtlichen Worte fĂŒr den Schatz sind erotisch getönt, ein AnstoĂ bis heute, wo die Ăugelein (Strophe 4) zu âAugen deinâ bereinigt sind. Nimm mich freundlich in dein Arme, dass...