1 Die Wissenschaften aus Sicht der Theologie
Wenn wir nach der Sicht des christlichen Glaubens auf die Wissenschaften fragen, dann könnten wir zuerst die biblischen Bücher daraufhin sichten, ob und wie die Wissenschaften der jeweiligen Zeit darin in den Blick kommen. Der Befund fiele freilich geringfügig aus. Wir könnten beispielsweise die Schöpfungsgeschichte im ersten Kapitel der Bibel in Betracht ziehen, in der sich das Weltwissen aus der Zeit der Abfassung dieses Schöpfungstextes spiegelt. Darüber hinaus finden sich an verschiedenen Stellen im Alten Testament Beobachtungen zum Universum oder zu Pflanzen und Tieren, die allesamt den Kenntnisstand der jeweiligen Zeit reflektieren. Im Neuen Testament gelten als der deutlichste Berührungspunkt von Wissenschaft und Glaube die sogenannten Heiligen Drei Könige: astronomisch und astrologisch kundige Gelehrte, die aufgrund ihres Wissens die Geburt des Messias bezeugen.
Gleichwohl entspricht das naturkundliche und kosmologische Wissen der biblischen Zeiten nicht dem, was wir heute unter Wissenschaft verstehen. Das heutige Wissenschaftsverständnis beginnt sich im 11. und 12. Jahrhundert ansatzweise zu entfalten. Deshalb erscheint es sinnvoll, bei einigen prominenten Theologen der darauffolgenden Jahrhunderte zu sichten, wie ihre Einstellung zur und ihre theologische Beurteilung der Wissenschaft war.
1.1 Einheit der Methode: Thomas von Aquin
Thomas von Aquin (1225 – 1274) hatte die Hochschätzung der Naturwissenschaften und insgesamt der Philosophie von seinem Lehrer Albertus Magnus (1200 – 1280) gelernt. Albert war ein Universalgelehrter. Er kannte die zeitgenössische und die klassische Literatur. Er sorgte insbesondere für die Akzeptanz der Schriften des Aristoteles in der christlichen Welt. Die Schriften des Aristoteles boten eine Erklärung der Welt und des Lebens ohne Bezug auf Einsichten heiliger Schriften und göttlicher Offenbarungen, sondern allein aus Beobachtungen und vernünftigen Überlegungen. Aristoteles bot damit auch eine Methode an, Wissen zu gewinnen, die in der Folge das Verständnis von Wissenschaft für viele Jahrhunderte prägte. Nach Albert ist es die Aufgabe der Naturwissenschaft, »die in den Naturerscheinungen wirkenden Ursachen zu erforschen« (Magnus, 1994 : 5). Daraus ergibt sich dann das Verhältnis solcher Naturwissenschaft und Naturkunde zum Glauben:
»In der Naturforschung … haben wir nicht zu untersuchen, ob und wie der Schöpfer-Gott nach seinem vollkommen freien Willen durch unmittelbares Eingreifen sich seiner Geschöpfe bedient, um durch ein Wunder seine Allmacht kundzutun. Wir haben vielmehr einzig und allein … zu erforschen, was im Bereich der Natur durch natureigene Kräfte auf natürliche Weise alles möglich ist« (Magnus, 1994 : 7).
Mit dieser Einstellung, sagt Albert von sich, habe er »selber … nach allen Seiten die Anatomie der Bienen untersucht« (Magnus, 1994 : 5). Diese Einstellung zu der Naturwissenschaft hat dann Konsequenzen für deren Verhältnis zu Glaube und Theologie sowie im Blick auf die Quellen, aus denen das vorhandene Wissen geschöpft wird: »In Sachen der Glaubens- und Sittenlehre ist dem Augustinus eher und mehr zu glauben als den Philosophen … Spräche Augustinus aber über Medizinisches, so würde ich dem Galenos und dem Hippokrates mehr trauen. Falls er über naturwissenschaftliche Dinge spricht, glaube ich mehr dem Aristoteles oder einem anderen Fachmann der Naturkunde« (Magnus, 1994 : 9). Die theologische Autorität des Mittelalters, Augustinus (354 – 430), wird nicht als kompetente Instanz für alle Gebiete des Wissens betrachtet. Vielmehr gibt es neben der Heiligen Schrift und den gelehrten theologischen Schriften noch weitere wichtige Bücher, die als Quelle des Wissens dienen. Zudem hat die Naturwissenschaft eine ihr eigene Erkenntnismethode. Spätestens von Albertus Magnus an wird das Verständnis von Wissenschaft geprägt, das auch heute noch relevant ist: Wissenschaft ist die Erforschung von Ursachen und der kausalen Zusammenhänge von Ereignissen.
Während bei Albertus Magnus der Eindruck entstehen mag, dass er der Naturwissenschaft einen Bereich der Selbstständigkeit neben den in der Theologie formulierten Erkenntnissen des Glaubens verschaffen wollte, so wird bei seinem Schüler Thomas von Aquin deutlich, dass es um eine aktive und produktive Verbindung von Wissenschaft und Glaube ging. Am deutlichsten wird dies in der Übernahme des von Albert propagierten aristotelischen Wissenschaftsverständnisses in die Theologie bei Thomas von Aquin. Es wird also nicht nur die Emanzipation der Naturwissenschaft von Glaube und Theologie begrüßt, sondern umgekehrt sogar das naturwissenschaftliche Wissenschaftsverständnis konstruktiv in der Theologie angewandt. Die Theologie bzw. die heilige Lehre wird von Thomas ausdrücklich selbst als Wissenschaft verstanden. Zwar scheint es, dass die Theologie keine Wissenschaft sei, weil eine Wissenschaft sich in Prinzipien gründet, die durch sich selbst einsichtig sind. Bei der heiligen Lehre des Christentums sei dies jedoch anders, da diese ja gerade auf Glaubenssätze zurückgehe, die nicht durch sich selbst einsichtig seien und folglich auch nicht von allen Menschen akzeptiert werden (vgl. Summa Theologica I: q 1, a 2). Wie sehr Thomas an einem harmonischen Verhältnis von Glaube und Theologie zu den Wissenschaften seiner Zeit gelegen war, sieht man an den Anstrengungen, die er unternahm, um zu zeigen, dass die Theologie trotz dieses auf Anhieb überzeugend wirkenden Einwands eine Wissenschaft ist.
»Die heilige Lehre ist eine Wissenschaft. Aber es gibt eine doppelte Art von Wissenschaft. Die eine stützt sich auf Prinzipien, die durch das natürliche Licht des Verstandes einsichtig sind, wie z. B. die Zahlenlehre, die Raumlehre u. a.; eine zweite Art auf Prinzipien, die durch das Licht einer höheren, übergeordneten Wissenschaft einsichtig sind. Und zu dieser zweiten Art von Wissenschaft zählt die heilige Lehre, weil sie sich auf Prinzipien stützt, die durch das Licht einer höheren Wissenschaft erkannt werden, nämlich der Wissenschaft Gottes und der Seligen. Wie sich also die Musik auf die Prinzipien verläßt, die ihr von der Arithmetik vermittelt werden, so nimmt die heilige Lehre die Prinzipien gläubig an, die ihr von Gott offenbart sind« (vgl. Summa Theologica I: q 1, a 2).
Die Theologie ist zwar eine der untergeordneten Wissenschaften, weil sie ihre Prinzipien von einer anderen Wissenschaft her hat: Gleichwohl verfährt sie methodisch wie jede andere Wissenschaft von Prinzipien, Grundsätzen und ersten Ursachen ausgehend und ist insofern ganz und gar Wissenschaft. Dies gilt unbeschadet der von Thomas gemachten, heutzutage aber nicht mehr auf Anhieb einleuchtenden Voraussetzung, dass es eine Wissenschaft Gottes gebe und Gott der christlichen Lehre ihre Prinzipien offenbare. Sind diese Prinzipien erstmals akzeptiert, dann verfährt die Theologie mit ihnen nach dem Verständnis von Thomas, wie jede andere Wissenschaft es mit ihren Prinzipien auch macht. Entsprechend kennt dann auch die Lehre des christlichen Glaubens ein Beweisverfahren, das demjenigen in anderen Wissenschaften, z. B. der Mathematik, ganz ähnlich ist. Mit diesen Beweisverfahren geht es weder in der Theologie noch in einer anderen Wissenschaft nach Auffassung des Thomas um eine Rechtfertigung der dem Erkennen und Wissen zugrunde gelegten Prinzipien, sondern darum, aus den Prinzipien Schlussfolgerungen zu ziehen und also eine neue Wahrheit abzuleiten. Thomas nimmt die wissenschaftstheoretische Diskussion seiner Zeit produktiv auf und überarbeitet die Erkenntnis- und Lehrbildung des christlichen Glaubens, die Theologie, konstruktiv mit dem Wissenschaftsverständnis seiner Zeit. Ob etwas eine Wissenschaft ist, zeigt sich in erster Linie methodisch. Dies lässt sich nach Thomas auch in der Erkenntnis- und Lehrbildung des christlichen Glaubens realisieren. Thomas wollte für seinen Umgang mit den Inhalten des Glaubens etwas von der Wissenschaft seiner Zeit konstruktiv lernen. Der Glaube kann im Horizont der Wissenschaft methodisch reflektiert bedacht und in eine Form des Wissens gebracht werden. Gleichwohl sieht Thomas die Grenzen einer wissenschaftlichen Behandlung des Glaubens: »Vernunftbeweise sind … nicht imstande, die Wahrheit des Glaubens zu begründen« (Summa theologica I: q 1, a 8 ad 1).
Die Wahrheit des Glaubens ist einer wissenschaftlich verfahrenden Theologie vorgegeben und damit auch ihre Prinzipien. Was jedoch aus dieser Wahrheit des Glaubens folgt, ja, wie sie überhaupt zu begreifen und zu formulieren ist, dies muss dann auf wissenschaftlich methodische Weise ermittelt werden. Zu einer Wissenschaft, deren Wissenschaftlichkeit aus ihrer Methode folgt, gehört auch die Einsicht in die Grenzen des Verfahrens: Gerade der Versuch, die Wahrheit des Glaubens mittels der Vernunft zu beweisen, würde die Theologie unwissenschaftlich werden lassen.
1.2 Lobpreis der Vernunft: Martin Luther
In einer universitären Disputation im Jahr 1536 »Über den Menschen« formulierte Martin Luther (1483 – 1546) Thesen, in denen er den Menschen aus zwei Perspektiven zu erkennen und zu begreifen versuchte: aus der Sicht der Philosophie und aus der Sicht der Theologie bzw. des Glaubens. Die Philosophie steht hier für eine wissenschaftliche Anthropologie. Diese Disputation ist für das Verhältnis von Wissenschaft und Glaube nicht nur deshalb interessant, weil derselbe Erkenntnisgegenstand (der Mensch) in den zwei Perspektiven von philosophischer Wissenschaft und Theologie bzw. Glaube zu erkennen versucht wird. Sie ist auch deshalb interessant, weil Luther in dem ersten Teil der Disputation, in dem er die Erkenntnis des Menschen aus Sicht der Philosophie darlegt, ein Loblied auf die menschliche Vernunft vorträgt und darin auch auf eine allein von der Vernunft geleitete Wissenschaft.
Nach der philosophischen Definition ist der Mensch »ein vernunftbegabtes, sinnenhaftes, körperliches … Lebewesen« (Luther, 1536 : 663 – 669.665). Mit dieser klassischen Definition wird der Mensch zuerst einmal eingeordnet in die Fülle aller Lebewesen, insbesondere der Tiere. Unter diesen hat der Mensch die Besonderheit, eine Vernunftseele zu haben. Gerade dieses, die Vernunft, die den Menschen zu einem besonderen Tier macht, ist nun für Luther in philosophischer, wissenschaftlicher Perspektive »die Hauptsache von allem … und vor allen übrigen Dingen dieses Lebens das Beste und etwas Göttliches« (Luther, 1536 : 663 – 669.665). Diese herausragende Ausstattung des Menschen mit der Vernunft zeigt sich besonders daran, dass sie, die Vernunft, »die Erfinderin und Lenkerin aller [freien] Künste, der Medizin, der Rechtswissenschaft und alles dessen, was in diesem Leben an Weisheit, Macht, Tüchtigkeit und Ruhm von Menschen besessen wird« (Luther, 1536 : 663 – 669.665), ist.
Mit den Künsten sind die zu jener Zeit unter dem Oberbegriff »Philosophie« an den Universitäten gelehrten sieben freien Künste (Arithmetik, Geometrie, Musik, Astronomie, Grammatik, Rhetorik, Dialektik) gemeint. In der Universität des 16. Jahrhunderts kamen zu diesen philosophischen Fächern die drei praktisch ausgerichteten Studienfächer Jura, Medizin und Theologie hinzu. Es ist damit deutlich, dass Luther in seiner Formulierung gerade auch die Wissenschaften – allerdings ohne die Theologie – im Blick hat, wenn er die Leistungsfähigkeit und Lebensdienlichkeit der Vernunft preist. Die Vernunft »soll eine Sonne und eine göttliche Macht sein, gegeben, um diese Dinge in diesem Leben zu verwalten« (Luther, 1536 : 663 – 669.665).
In allen Bereichen und Aspekten menschlichen Lebens außer der Religion kann und soll der Mensch die zu seiner geschöpflichen Ausstattung gehörende Vernunft gebrauchen, um kreativ das je individuelle und das gemeinschaftliche Leben weiter zu entwickeln und zu erhalten. Dazu dienen auch die Wissenschaften mit der Ausbildung der mathematischen, sprachlichen, musischen und kosmologischen Kenntnisse und Kompetenzen (in den freien Künsten) sowie den spezifischen Kenntnissen zur Erhaltung des Lebens in der Medizin und für eine lebensdienliche und befriedende Sozial- und Rechtsordnung in der Rechtswissenschaft. Für das Verhältnis von Glaube und Wissenschaft ist Luthers explizite Feststellung von Bedeutung, dass »auch nach dem Fall Adams … Gott der Vernunft diese Majestät nicht genommen, sondern vielmehr bestätigt« (Luther, 1536 : 663 – 669.665) hat. Nach Luthers Auffassung bedarf der Mensch in seiner wissenschaftlichen Erforschung und wissenschaftlich reflektierten Gestaltung der Welt und des menschlichen Lebens keiner Grundorientierung durch den Glauben, um der Erhaltung und Wohlordnung des Lebens zu dienen. Luthers Hochschätzung der menschlichen Vernunft gilt jedoch nicht auf dem Gebiet des Glaubens und der Theologie. Die theologische Perspektive auf den Menschen würde falsch, wenn sie von der Vernunft entworfen würde.
»Die Theologie … definiert aus der Fülle ihrer Weisheit den ganzen und vollständigen Menschen …. Nämlich, dass der Mensch Gottes Geschöpf ist, das aus Fleisch und einer lebendigen Seele besteht, vom Anfang an zum Bild Gottes gemacht ohne Sünde, dass er sich vermehre und über die Dinge herrsche und niemals sterbe …. Aber nach dem Fall Adams der Macht des Teufels unterworfen, der Sünde und dem Tod, beides Übel, die durch seine Kräfte nicht zu überwinden und ewig sind …. Und dass [das Geschöpf] nur durch den Sohn Gottes, Christus Jesus, (wenn es an ihn glaubt) befreit und mit der Ewigkeit des Lebens beschenkt werden kann« (Luther, 1536 : 667).
Diese Einsicht in die Geschöpflichkeit des Menschen, in dem sich Gott selbst auf Erden als seinem Bild darstellt, aber auch in den nicht aufzuhaltenden Fall des Menschen und seine von ihm selbst nicht zu überwindende Unterwerfung unter die Macht des Bösen und des Todes und auch in die Befreiung und Rettung für die Ewigkeit durch Jesus Christus kann der Mensch nicht aus seiner Vernunft erzeugen und auch nicht mit seiner Vernunft aus der Reflexion des Lebens gewinnen.
Die wirklich fundamentalen Bedingungen und der umfassende Horizont menschlichen Lebens liegen außerhalb der dem Menschen eigenen Erkenntnis- und Gestaltungsmöglichkeiten. Bei diesen Themen menschlichen Lebens geht es um Glauben und nicht um wissenschaftliches, vernünftiges Erforschen. Das Einzige, was Menschen hier mit ihrer Vernunft und insofern auch wissenschaftlich erkennen und bedenken können, ist die Unterscheidung zwischen dem, was ihre Sache, und dem, was eben nicht ihre Sache, sondern Gottes Sache ist. Und im Blick auf das, was in jedem menschlichen Leben Gottes Sache ist, gibt es dann für den Menschen nur Furcht und Vertrauen: die zwei Grundemotionen, die nach Luther den Glauben...