C. WIRKUNG
1. VOM TOD ZUM NACHLEBEN
1.1. Moses Tod als Ausgangspunkt
Wenn nach der »Darstellung« (B.) einer biblischen Gestalt ihre Wirkung behandelt werden soll, geht es nicht nur darum zu suchen, wo die betreffenden Texte aufgenommen wurden, noch darum zu fragen, welche Auswirkungen von der betreffenden Gestalt ausgegangen sind. Beide Aspekte spielen allerdings eine wichtige Rolle, denn die BeschĂ€ftigung mit einer »biblischen Gestalt«, wie sie im vorliegenden Buch erfolgt, ist nicht dem Nachzeichnen eines Lebens gewidmet, sondern der ErzĂ€hlung eines Lebens. Die Behandlung der Wirkung nimmt in diesem Fall also die »FortfĂŒhrung« des ErzĂ€hlten, und zwar in den auf den Pentateuch folgenden Texten in den Blick, ohne aus den Augen zu verlieren, was die erzĂ€hlte Person bewirkt hat. Dies geschieht, weil eine derart betrachtete Wirkung die Tiefenstruktur des ErzĂ€hlten zutage fördern kann, so dass Aspekte der Darstellung der biblischen Gestalt bestĂ€tigt und verstĂ€rkt werden können oder wenig Beachtetes in seiner Bedeutung klarer hervortritt, weil es aus einem Abstand heraus und in einem gröĂeren Zusammenhang betrachtet werden kann. Das, was im Leben von Menschen gilt, dass sich die Bedeutung einzelner Ereignisse fĂŒr die Menschen zumeist erst im Nachhinein, im RĂŒckblick, zu verstehen gibt, gilt noch mehr fĂŒr die ErzĂ€hlung ĂŒber Personen.
Im Bezug auf die biblische Gestalt des Mose ergibt sich daraus aber die Frage, wo mit der Wirkung anzusetzen ist. Beginnt sie dort, wo von Mose auĂerhalb der BĂŒcher, die mit ihm und seinem Leben unmittelbar in Verbindung stehen, dem Pentateuch, gesprochen wird, oder erst dort, wo Mose auĂerhalb der biblischen Literatur auftaucht, oder nur dort, wo das ErzĂ€hlte in Kunst, Literatur, Musik, Film etc. Â»ĂŒbersetzt« wird? Denkbar wĂ€re aber auch, die Wirkung dort beginnen zu lassen, wo etwas von dem, was mit der ErzĂ€hlung der Gestalt verbunden ist, spezielle Wirkungen zeitigt, so z. B. das von Mose ĂŒbermittelte Gesetz. Die Frage nach dem Ăbergang von der »Darstellung« (B.) der biblischen Gestalt des Mose zu ihrer »Wirkung« (C.) beantwortet die biblische ErzĂ€hlung in gewisser Weise dadurch, dass sie den Tod des Mose gerade nicht als Mitteilung ĂŒber das Ableben des Mose gestaltet, sondern als feinsinnigen RĂŒck- und Vorausblick, der literarisch Abschluss und FortfĂŒhrung in einem bildet. Die betreffende ErzĂ€hlung in Dtn 34 stellt die drei dazu wichtigen Aspekte zusammen:
3. In V. 1â4 das Gelobte Land als Abschluss und Ziel des Exodus und damit der Berufung des Mose aus Ex 3.
4. In V. 5â9 die Mitteilung ĂŒber den Tod des Mose und seine Folgen fĂŒr das Volk Israel.
5. In V. 10â12 die Bedeutung des Mose durch seine Charakterisierung im »Mose-Epitaph«.
Dtn 34,1â12
»1Und dann stieg Mose aus den Steppen von Moab hinauf zum Berg Nebo, dem Gipfel des Pisga, der Jericho gegenĂŒber liegt. Und dann lieĂ der HERR ihn das ganze Land sehen: Gileat bis Dan, 2und das ganze Naftali, und das Land Efraim und Manasse und das ganze Land Juda bis zum Mittelmeer 3und den Negev und den Graben, das Tal Jerichos, der Palmenstadt, bis Zohar. 4Und der HERR sagte zu ihm: Dies ist das Land, das ich Abraham, Isaak und Jakob folgendermaĂen zugeschworen habe: Deinem Samen werde ich es geben. Ich habe es deine Augen sehen lassen, aber dorthin wirst du nicht hinĂŒberziehen.
5Dann starb Mose, der Knecht des HERRN, im Land Moab auf GeheiĂ des HERRN. 6Und dann begrub er ihn im Tal im Land Moab gegenĂŒber Bet Peor; und niemand kennt sein Grab bis zum heutigen Tag. 7 Mose aber war 120 Jahre alt, als er starb. Sein Auge war noch nicht getrĂŒbt. Seine Frische war noch nicht geschwunden. 8Und dann beweinten die Söhne Israels Mose in den Steppen Moabs 30 Tage lang, dann waren die Tage der Trauerklage um Mose beendet. 9Aber Josua, der Sohn Nuns, war erfĂŒllt vom Geist der Weisheit, denn Mose hatte ihm seine HĂ€nde aufgelegt; und so hörten die Söhne Israels auf ihn, und sie taten so, wie der HERR dem Mose befohlen hatte.
10 Aber nicht wieder ist in Israel ein Prophet aufgetreten wie Mose, den der HERR von Angesicht zu Angesicht kannte, 11 in Bezug auf all die Zeichen und Wunder, die der HERR ihn zu tun sandte am Land Ăgypten, dem Pharao und all seinen Dienern und seinem ganzen Land; 12 und in Bezug auf alle Machterweise und alle Furcht erregenden und groĂen Taten, die Mose vor den Augen von ganz Israel getan hatte.«
Schon die ersten Verse dieses Abschnitts weisen darauf hin, dass hier etwas AuĂergewöhnliches vorliegt, denn das, was Mose gezeigt wird, ĂŒberschreitet alle menschlichen Möglichkeiten: Mose bekommt das ganze Land westlich des Jordans zu sehen. Dieses Sehen ist ĂŒbernatĂŒrlich, denn es geht teilweise in eine Entfernung, die 200 Kilometer ĂŒberschreitet und ĂŒber alle Gebirge hinweggeht. Ist jedoch dieses auĂergewöhnliche Sehen des Landes vollstĂ€ndig aus antiken Rechtsvorstellungen bei GrundbesitzĂŒbertragungen zu erklĂ€ren, bei denen man den zu verkaufenden Grundbesitz von einem besonderen Punkt aus â unter Zeugen â gemeinsam vom VerkĂ€ufer und KĂ€ufer anschauen lieĂ? Solch eine frĂŒhe Rechtsvorstellung mag bei der Beschreibung der Schau des Landes durchaus mitgewirkt haben, aber sie erklĂ€rt das Besondere des Textes nicht. Denn durch den von Gott selbst erwĂ€hnten Schwur an die VĂ€ter, Abraham, Isaak und Jakob, deutet sich die ErfĂŒllung der an sie ergangenen LandverheiĂung zwar an, aber indem Mose das Land sehen darf, bekommt weder er es als Besitz ĂŒbertragen noch das an diesem Sehen nicht beteiligte Volk Israel. Der Text schlĂ€gt einen ErzĂ€hlbogen vom Anfang der ErzelternerzĂ€hlung (Gen 12) bis zum Ende der Mose-Geschichte (Dtn 34) und bringt im Motiv des Sehens Mose mit der GröĂe »VerheiĂenes Land« in Verbindung. AusdrĂŒcklich wird das Sehen dem HinĂŒberziehen, das der Inbesitznahme gleichzusetzen ist, entgegengestellt: »Ich habe es deine Augen sehen lassen, aber dorthin wirst du nicht hinĂŒberziehen.« (Dtn 34,4) Doch findet sich kein Hinweis darauf, dass Mose in besonderer Weise dadurch bestraft oder geĂ€rgert werden sollte, dass er das Land nur sehen konnte, dann aber unmittelbar vor dem Ziel sterben musste. Wenn Mose durch dieses ihm gewĂ€hrte Â»ĂŒbernatĂŒrliche Sehen« des gesamten VerheiĂenen Landes auf dieses Land ausgreift, aber die ErfĂŒllung der VerheiĂung nicht in eigener Person miterleben kann, dann lĂ€sst sich diese Spannung nicht anders erklĂ€ren als in einer Unterscheidung zwischen der Person des Mose und dem, was von ihr ausgeht. Diese Unterscheidung wird deutlich, wenn man beachtet, dass Mose in den ErzĂ€hlungen des Pentateuchs vor allem als Mittler der Offenbarung gesehen wird, er dann aber im Buch Deuteronomium, das als seine groĂe Abschiedsrede stilisiert ist, die göttlichen Weisungen fĂŒr das Leben im VerheiĂenen Land auszulegen beginnt. Dieser Logik des Pentateuchs folgend enden Auftrag und Werk des Mose an der Grenze zum VerheiĂenen Land, wobei diese Grenze nicht besser beschrieben werden kann als durch die von Gott gewĂ€hrte Schau des ganzen Landes.
Die ErzĂ€hlung vom Tod des Mose im zweiten Abschnitt von Dtn 34 stĂŒtzt diese Sicht der AbschlusserzĂ€hlung. Der besondere Charakter des Textes und sein ans ĂbernatĂŒrliche rĂŒhrender Inhalt zeigen sich vor allem in dem Hinweis, dass er mit 120 Jahren nicht an AltersschwĂ€che starb, sondern ganz im Gegenteil sterben musste, weil Gott es so wollte und so festgesetzt hatte und er mit 120 Jahren das höchstmögliche Alter (vgl. Gen 6,3) erreicht hatte. Findet sich das Sterben auf GeheiĂ Gottes an einem bestimmten Ort schon zuvor bei Aaron (vgl. Num 20,28), so wird doch das Besondere des Mose zum einen durch die ihm zugesprochene VitalitĂ€t herausgestrichen und zum anderen durch die Beschreibung der Geschehnisse nach seinem Tod. Der auf die Todesnachricht folgende V. 6 steht im hebrĂ€ischen Text im Singular (»er begrub«), so dass man vom Kontext her denken muss, dass Gott selbst es war, der Mose begraben hat. Genau dieses VerstĂ€ndnis des Textes geben einige Darstellungen der bildenden Kunst wieder, wenn sie Gott Mose begrabend abbilden, wie beispielsweise die Miniaturen einiger Handschriften der Weltchronik des Rudolf von Ems (z. B. ZĂŒrich, Zentralbibliothek, Ms. Rh. 15, fol. 112 v).
Abb. 5: Weltchronik des Rudolf von Ems (ZĂŒrich), Gott begrĂ€bt Mose
Diese Vorstellung muss aber schon sehr frĂŒh als anstöĂig empfunden worden sein, wie die entsprechende TextĂ€nderung in den Plural in einigen Handschriften und Versionen zeigt, so dass man den Text verstehen konnte als »sie begruben« bzw. »man begrub«. Damit mag zwar die AnstöĂigkeit der Aussage, dass Gott Mose begraben haben soll, beseitigt sein, doch passt sie nicht zur nachfolgenden Mitteilung, dass »niemand bis heute sein Grab kenne«. Es bleibt also etwas Eigenwilliges und Geheimnisvolles in dieser Beschreibung vom Tod des Mose.
Die Notiz, dass niemand sein Grab kenne, verbietet und verunmöglicht selbstverstÀndlich jede nur denkbare Grabestradition. Damit aber liegt die Aussage auf derselben Ebene wie der im ersten Abschnitt betrachtete Aspekt, dass Mose das Land sehen, aber nicht betreten darf. Auch hier wird die reale Person des Mose zugunsten des mit ihr in Verbindung Gebrachten ausgeblendet. Was mit ihr in Verbindung gebracht wird, zeigt sich in der Fortsetzung der ErzÀhlung.
1.2. Mose â Tora â Josua
Moses Tod ist eben nicht als Ende, sondern vor allen Dingen als Ăbergang und Anfang zu verstehen; er markiert den Beginn einer neuen Epoche, denn mit dem Nachfolger Josua kommt vor allem die mit seinem Namen verbundene literarische Fortsetzung der Geschichte im Buch Josua in den Blick. In Jos 1,7 heiĂt es dazu
»⊠achte darauf, nach der ganzen Tora zu handeln, die mein Knecht Mose dir befohlen hat. Weiche nicht davon ab, weder nach rechts noch nach links, damit es dir gelingt auf all deinen Wegen. Nicht soll das Buch dieser Tora von deinen Lippen verschwinden; sinne darĂŒber Tag und Nacht nach, damit du darauf achtest nach all dem zu handeln, was darin geschrieben ist.«
Hier â zwischen Mose und Josua â hat eine entscheidende VerĂ€nderung stattgefunden, denn Josua hĂ€lt als Erster den gesamten Gotteswillen, Gottes Weisung (Tora), im wahrsten Sinn des Wortes in HĂ€nden. Torastudium und Gebotsgehorsam werden zum Rezept seines militĂ€rischen und politischen Erfolgs. Der Ăbergang von der MĂŒndlichkeit zur Schriftlichkeit scheint stillschweigend zwischen Dtn 34 und Jos 1 vollzogen zu sein. Von Jos 1 nach Dtn 34 zurĂŒckblickend impliziert dies, dass dort in Dtn 34 das abgeschlossen worden sein muss, was Jos 1 voraussetzt: die Verschriftung des von Mose vormals verkĂŒndigten und schon ausgelegten Gotteswillens. FĂŒr den Leser des Deuteronomiums geschieht dieser Ăbergang allerdings nicht ganz so stillschweigend, wie es auf den ersten Blick von Dtn 34 her scheint. Von Anfang an bereitet das Buch Deuternomium den Gedanken vor, dass Mose nicht nur Gottes Willen verkĂŒndet, sondern ihn auch schriftlich niederlegt. So stellt Dtn 31 das Faktum, dass Mose spricht und schreibt, unmittelbar nebeneinander:
»Mose trat vor ganz Israel und sprach diese Worte ⊠und Mose schrieb diese Tora auf«.
Und schlieĂlich hĂ€lt Dtn 31,24 auch unzweideutig fest, dass Mose diese Tora komplett verschriftet habe.
In diesem Kontext stellt sich nun auch die Frage nach der Funktion von Dtn 34 ganz neu, denn nicht das biologische Ende des Menschen Mose scheint hier im Vordergrund des Interesses zu stehen und auch nicht eine biographische Abschlussnotiz zum FĂŒhrer der Exodusgruppe, sondern das alles Entscheidende ist...