1 Einblicke
1.1 Der Ausgangspunkt: Was fangen wir mit der Geschichte der Kirche an?
»Jesus verkĂŒndete das Reich Gottes und es kam die Kirche«, sagte der katholische Theologe und Historiker Alfred Loisy (1857 â 1940) am Beginn des 20. Jahrhunderts. Man kann diesen Satz unterschiedlich lesen â Loisy meinte ihn positiv: Immerhin kam die Kirche. Man kann ihn auch negativ lesen: Es kam nur die Kirche. Jedenfalls bringt er auf den Punkt: Das von Jesus Christus verkĂŒndete Reich Gottes und die Kirche als mittlerweile 2000 Jahre alte Institution des Christentums in den verschiedensten Erscheinungsformen sind nicht einfach dasselbe. Vielmehr ist âșKircheâč in evangelischer Perspektive im Gegensatz zum âșReich Gottesâč eine höchst menschliche, angesichts doch gerade sehr hoher AnsprĂŒche an christliche LebensfĂŒhrung vielfach sogar besonders enttĂ€uschende Einrichtung. Und dies gilt auch und in besonderer Weise im Blick auf die Kirchengeschichte: Belegen âșSchwertmissionâč, KreuzzĂŒge, Inquisition, Ketzer- und Hexenverfolgungen, Antijudaismus, Konfessionskriege, Religionskriege â um nur einige gravierende Beispiele zu nennen â nicht hinreichend, dass âșdie Kircheâč nicht das sein kann, was Jesus gemeint hat? Haben also diejenigen, die gerade aus dieser geschichtlichen Perspektive grundlegende Zweifel an Kirche und Christentum formulieren, nicht Recht?
Es liegt auf der Hand: Wer sich als Christ und nachdenkendes Glied einer Kirche versteht, kommt nicht darum herum, sich mit diesen Fragen auseinanderzusetzen â auch wenn er oder sie darauf heute vielleicht seltener offensiv angesprochen wird, als das beispielsweise in der DDR der Fall war. Es liegt auch auf der Hand, dass die Aufgabe nicht darin bestehen kann, âșdie Kircheâč samt ihrer Geschichte pauschal zu verteidigen oder Argumente zur EntkrĂ€ftung einzelner VorwĂŒrfe zu sammeln. Es geht vielmehr darum, sich diesen gerade auch auf dem Hintergrund historischer Ereignisse formulierten Anfragen zu stellen. Dazu bedarf es einerseits grundlegenden historischen Wissens â oder zumindest AuskĂŒnften darĂŒber, wo man zu welchem konkreten Thema zuverlĂ€ssige Auskunft bekommen kann. Andererseits bedarf es des Nachdenkens: Wie bringe ich âșKircheâč in ihrer jeweiligen historischen Gestalt mit der VerkĂŒndigung Jesu zusammen? Was hat Kirchengeschichte mit Gottes Heilsgeschichte mit den Menschen zu tun? Was gehört zur unaufgebbaren IdentitĂ€t von Kirche und Christentum? Warum haben Christen an dieser oder jener Stelle so und nicht anders gedacht und gehandelt? Und nicht zuletzt: Wie verortet sich meine Gemeinde und wie verorte ich mich als einzelner Christ in dieser 2000-jĂ€hrigen Geschichte? Wo haben wir heute womöglich âșblinde Fleckenâč, die uns vielleicht gerade in der Auseinandersetzung mit der Geschichte bewusst werden können?
Wer sich mit derartigen Fragen auseinandersetzt, erfĂŒllt freilich nicht nur eine Aufgabe âșnach auĂenâč, sondern zugleich eine sehr wichtige Aufgabe âșnach innenâč, denn: Auseinandersetzung mit der eigenen Geschichte bedeutet Kompetenzgewinn fĂŒr die Gegenwart. Man kann sich das am besten am Bild des Komposthaufens verdeutlichen: Alles, was in einem bestimmten Augenblick passiert, ist im nĂ€chsten Augenblick zwar bereits Vergangenheit â aber es ist damit nicht einfach verschwunden. Es ist vielmehr ein weiterer Bestandteil dessen, woraus sich neue Gegenwart speist und insofern von Gegenwart und Zukunft. Das bedeutet, dass die Art des Umgangs mit der eigenen Geschichte erhebliche Folgen fĂŒr die Gegenwart hat â oder anders gesagt: Der âșKomposthaufen der eigenen Geschichteâč will ebenso wie der im Garten gepflegt sein. Es gilt, die eigene Geschichte auf- und durchzuarbeiten, und nicht Teile davon sozusagen âșunter Plastikfolienâč isolieren zu wollen, denn dann fangen sie an zu âșmodernâč und verhindern im wahrsten Sinne des Wortes die notwendige âșErdungâč der Gegenwart. Um es an einem Beispiel zu sagen: Es mag auf den ersten Blick âșbesserâč erscheinen, die unrĂŒhmliche Rolle eines Theologen, einer Gemeinde oder auch einer diakonischen Einrichtung in der NS-Zeit zu verschweigen â faktisch verzerrt diese Art der Wahrnehmung oder besser gesagt âșAusblendungâč von Vergangenheit aber auch die eigene Gegenwart als Bestandteil derselben Geschichte.
Man kann das auch grundsĂ€tzlicher formulieren und sagen: Geschichte âșerdetâč. Wer sich mit konkreten Situationen in der Geschichte auseinandersetzt, wird ein differenziertes, keineswegs immer erfreuliches Bild vorfinden â auch von der Kirche nicht. Er oder sie wird ein GespĂŒr dafĂŒr bekommen, dass auch die eigene Situation â wie jede frĂŒhere â historisch bedingt ist und dass die RealitĂ€t immer widerspenstig ist gegenĂŒber allen Versuchen der Systematisierung. Wer historische Situationen durchdenkt, wird insbesondere skeptisch werden gegenĂŒber jeglicher âșSchwarz-WeiĂ-Malereiâčâ ob sie nun die eigene oder die Position und Situation anderer in ein pauschal gutes oder schlechtes Licht setzt. Genau dieses Differenzierungsvermögen aber ist es, was Gegenwart und Zukunft am ehesten förderlich ist.
1.2 Die Aufgabe: Schneisen schlagen
Angesichts der 2000-jĂ€hrigen Kirchengeschichte besteht die Schwierigkeit zunĂ€chst einmal darin, sich nicht von vornherein von einer unĂŒberschaubaren Menge von Namen, Daten und Fakten âșerschlagenâč zu lassen. Offensichtlich ist das MissverstĂ€ndnis, Geschichte treiben bestehe darin, möglichst viele solcher Namen, Daten und Fakten im GedĂ€chtnis zu haben und damit dann auch beeindrucken zu können, nach wie vor weit verbreitet. Studierende, die ich an der UniversitĂ€t erlebe, kommen nicht selten aus einem so dominierten Geschichtsunterricht, der dann bereits jegliches Interesse an Geschichte zerstört hat. Die Frage ist: Wie kommt man aus solchen Sackgassen heraus?
Unverzichtbar ist zunĂ€chst einmal ein âșGelĂ€nderâč, das es ermöglicht, historische VorgĂ€nge so weit einzuordnen, dass man sich ihnen auf sinnvolle Weise nĂ€hern kann. HierfĂŒr hat sich in der kirchengeschichtlichen Wissenschaft ein zeitliches Raster etabliert, das folgende grobe Periodisierung vornimmt:
| Urchristentum und Alte Kirche | 1. bis Ende 4. Jahrhundert (Beginn Völkerwanderung) |
| Kirche im Mittelalter | 5. bis 15. Jahrhundert (bis Vorabend der Reformation) |
| Reformationszeit | 16. Jahrhundert |
| Kirchengeschichte der Neuzeit | 17. bis frĂŒhes 20. Jahrhundert |
| Kirchliche Zeitgeschichte | seit dem Ersten Weltkrieg |
Auch die Reformationszeit gehört schon zur FrĂŒhen Neuzeit (16. â 18. Jahrhundert), wird wegen ihrer besonderen Bedeutung fĂŒr die Kirchengeschichte aber immer eigens thematisiert. Zweifellos ist es hilfreich, sich ausgehend von dieser groben Periodisierung einige Grunddaten und -themen der verschiedenen Zeitabschnitte vor Augen zu fĂŒhren â solche âșDurchblickeâč werden im folgenden Kapitel geboten. Zugang findet man oft aber am besten durch Querschnittsthemen, die man epochenĂŒbergreifend verfolgt. Gegenstand eines solchen Interesses können ebenso eine Gemeinde, ein GebĂ€ude, ein Dorf oder eine Region sein wie ein Orden, ein theologischer Gedanke, Aspekte der Rolle der Frauen in der Kirche, ein Lied, eine Missionsgesellschaft oder Fragen der Verbindung von Glaube und Alltag oder von Kirche und Politik â um nur Beispiele zu nennen. Methodisch kann man dabei grundsĂ€tzlich unterscheiden zwischen einer Kirchen- bzw. Christentumsgeschichte, die sich mit der Entstehung und Entwicklung von christlichem Leben, dessen Institutionalisierung und Verortung in der Gesellschaft befasst, und einer Dogmen- oder Theologiegeschichte, die stĂ€rker nach der Entwicklung und Festschreibung christlicher Lehren fragt. Letztere ist in besonderer Weise der Philosophiegeschichte verwandt, erstere der allgemeinen Geschichte. Man kann sich auf das eine oder andere stĂ€rker konzentrieren, aber man sollte sich bewusst machen, was man dann jeweils eher âșausblendetâč.
FĂŒr einen problemorientierten Zugang zur ErschlieĂung von Kirchen- und Christentumsgeschichte eignen sich insbesondere zwei Leitfragen:
a) Was haben die Geschichte der Kirche(n) und die des einzelnen Christen mit Gott zu tun?
b) Wer ist ein Christ und was macht wahre Kirche aus?
a) Den ersten Christen â also Juden, die glaubten, dass mit Jesus Christus der Messias gekommen war â lag der Gedanke an eine lĂ€ngere âșGeschichteâč der Christenheit zweifellos fern. Sie rechneten mit der unmittelbar bevorstehenden Wiederkunft Christi. Indem diese aber ausblieb, standen die Christen vor der Aufgabe, sich in der Welt mehr oder weniger dauerhaft einzurichten und âșGeschichte zu machenâč. Und hierzu gehörte (und gehört) ihre Interpretation im Rahmen von Gottes Heilsgeschichte mit den Menschen: Welchen Sinn soll dieses oder jenes Ereignis â auch in meinem eigenen Leben â haben? Inwiefern âșlenktâč Gott ĂŒberhaupt Geschichte, und gibt es Menschen, die dabei âșSchlĂŒsselrollenâč einnehmen? ZĂ€suren in der Geschichte der Kirche(n) ergaben sich nicht selten daraus, dass man den Zusammenhang von Geschichte und Heilsgeschichte neu deutete und âșder Weltâč entsprechend neue Optionen zuschrieb.
Angesichts der politischen Wende in Deutschland 1989 lag fĂŒr manchen der Gedanke nahe, hier habe Gott direkt gehandelt â sozusagen wie an Israel zur Zeit des Alten Testaments. So nahe dies in diesem Falle liegen mag, gilt es doch, genau hinzusehen. Wer geschichtliche Situationen unmittelbar mit göttlichem Wirken in Zusammenhang bringen will, kommt schnell auch in die â in Deutschland nicht unbekannte â Gefahr, Gott gewissermaĂen als âșseinen Alliiertenâč betrachten und mit ihm gegen die gemeinsamen âșFeindeâč ziehen zu wollen.
b) Die Notwendigkeit, sich âșauf die Welt einzulassenâč, stellte und stellt die Christen auch vor die Aufgabe, zu definieren, was eigentlich die IdentitĂ€t eines Christen ausmacht. Die Entstehung von Kirche als Institution, in der die VerkĂŒndigung des Reiches Gottes im wahrsten Sinne des Wortes dauerhaft âșzu Hauseâč ist, bedeutete, eine christliche IdentitĂ€t festzulegen und auch zu garantieren. Damit verband und verbindet sich eine Entlastung: Wer sich zu einer christlichen Gemeinde und Kirche hĂ€lt, galt und gilt als Christ und muss sein Christsein insofern nicht stĂ€ndig neu hinterfragen. Dies setzt freilich die Anerkennung der Kirche, zu der man gehört, als in Glaubensfragen kompetent und vertrauenswĂŒrdig voraus.
Genau hier liegt nun aber auch das Problem, denn auch kirchliche Institutionen, Lehren und Lebensformen sind so, wie sie sind, durch Menschen geprĂ€gt, die grundsĂ€tzlich ja auch irren konnten und können. So verwundert es nicht, dass sich maĂgebliche Wenden in der Kirchengeschichte daran festmachten, dass man die letztgĂŒltige christliche Kompetenz der Kirche(n) bezweifelte und dabei neue Konzepte von Kirche entwarf und etablierte. Zur Suche nach authentischem Christsein gemÀà der im Neuen Testament nachlesbaren Botschaft Jesu Christi gehörte schon seit der Alten Kirche zum Teil auch die Vorordnung des GottesverhĂ€ltnisses des Einzelnen vor das Vertrauen in dessen Management durch Kirche. Damit verbunden entstand die Idee der Sammlung der âșwirklich Frommenâč neben der Kirche. Auch der Gedanke, dass die wahren Kinder Gottes ĂŒberhaupt nicht als organisierte Gemeinschaft sichtbar, sondern eine sozusagen virtuelle Gemeinschaft sind, spielte von Anfang an eine Rolle. Jede Kirche und christliche Gemeinschaft gab und gibt anders akzentuierte Antworten auf die Frage, wie und wo sich authentisches Christsein vollzieht.
1.3 Die Spuren: Wer schreibt (Kirchen-)Geschichte?
WĂŒrde man eine Umfrage machen unter dem Thema »Wer macht Kirchengeschichte?«, wĂ€ren verschiedene Antworten denkbar â wie z. B. »die Bischöfe« oder »die Theologen« oder aber auch »die Gemeinden« oder »die Christen«. Es kĂ€me vielleicht eine Diskussion auf, ob das âșGeschichte machenâč nur eine Sache einiger leitender Personen ist, oder ob daran nicht letztlich alle beteiligt sind. Die Mehrzahl der GeschichtsbĂŒcher erweckt freilich den Eindruck, dass in der Tat nur ein geringer Teil der Menschen Geschichte gemacht hat: Könige, FĂŒrsten, PrĂ€sidenten, ParteifĂŒhrer, Theologen, Philosophen, Dichter, Forscher, Abenteurer, manchmal auch »Ketzer«. Es sind wenige herausragende Personen, meist MĂ€nner, die augenscheinlich die Geschicke der Menschheit bestimmt haben, und die irgendwie fĂŒr alle anderen stehen. Im Gegenzug zu dieser Sicht hat sich in den letzten Jahrzehnten eine Art der Geschichtsschreibung entwickelt, die auch nach den Wegen der Verbreitung von Ideen, nach alltĂ€glichen VollzĂŒgen und MentalitĂ€ten breiter Bevölkerungsschichten und deren Wechselwirkungen mit weichenstellenden politischen und theologischen Entwicklungen und Entscheidungen fragt. In einer solchen Perspektive ist z. B. der DreiĂigjĂ€hrige Krieg nicht nur ab eine Reihe von Schlachten und TruppendurchzĂŒgen aufgrund der Entscheidungen einzelner ...