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Die Predigten John Wesleys und deren Bezug zur anglikanischen Tradition â Eine EinfĂŒhrung
1.1Der »mittlere Weg« in der anglikanischen Tradition
England wurde im 6. Jahrhundert eine christliche Nation als zunĂ€chst die Königin und bald darauf auch der König den christlichen Glauben annahmen und sich taufen lieĂen. Seit jener Zeit gab es in England eine enge Verbindung zwischen der Monarchie und der Kirche. Die Kirche lebte damals in Einheit mit Rom, aber die NĂ€he zum Königshaus war bedeutsamer. WĂ€hrend des gesamten Mittelalters versuchte England, nicht unter fremde Herrschaft zu kommen. Wyclif (1320â1384) protestierte gegen den Reichtum der Kirche und die Regelungen zu ihrer Finanzierung. Dabei wollte er der Bibel wieder eine zentralere Stellung geben, indem er ihre AutoritĂ€t im GegenĂŒber zur Tradition und zur Macht des Papstes betonte. Es war ein erstes Zeichen sowohl von RĂŒckbesinnung auf Grundlagen des Glaubens als auch von englischer UnabhĂ€ngigkeit. SpĂ€ter, ab 1520, wurden die Gedanken Luthers in England diskutiert.
König Heinrich VIII. (1509â1547 König von England) nahm zu Beginn seiner Herrschaft Stellung zugunsten der römisch-katholischen Kirche gegen die Schriften Luthers. Er erhielt dafĂŒr die Auszeichnung Verteidiger des Glaubens. Doch als Folge verschiedener persönlicher und politischer Ereignisse wechselte er seine Stellung gegenĂŒber Rom zugunsten einer eigenstĂ€ndigeren Kirche in England. In den dreiĂiger und vierziger Jahren des 16. Jahrhunderts legten eine Reihe von Reformen die Grundlage fĂŒr eine Kirche von England. Das Parlament ernannte den König sowohl zum politischen Herrscher als auch zum religiösen Oberhaupt in England (1531/34). Der Papst verlor seine Jurisdiktion ĂŒber England. Die Kirche von England wurde eine Staatskirche. Alle Fragen der Lehre, Struktur, Liturgie oder Ernennungen mussten vom königlichen Herrscher genehmigt werden. Doch die Kirche von England verĂ€nderte nicht plötzlich ihre Lehre. Die EinfĂŒhrung der Reformation war nicht einfach ein politischer Akt. Reformatorische Ăberzeugungen gewannen aber in den dreiĂiger Jahren zunehmend Einfluss, sowohl aufgrund der Beziehungen zur lutherischen Reformation auf dem Kontinent als auch ĂŒber die neue Ăbersetzung der Bibel ins Englische (William Tyndale und Miles Coverdale).
Gegen Ende seiner Regierungszeit stand Heinrich VIII. in der Versuchung, zu den katholischen Ăberzeugungen zurĂŒckzukehren. Dennoch veröffentlichte Erzbischof Thomas Cranmer eine Sammlung von Predigten (Homilies), die als Modelle fĂŒr die Predigt in der Kirche gedacht waren (1546). In diesen Predigten war der Einfluss der lutherischen Reformation deutlich spĂŒrbar. Unter dem Nachfolger von Heinrich VIII., König Edward (ab 1547), verstĂ€rkte sich der reformatorische Einfluss. Erzbischof Cranmer veröffentlichte ein Allgemeines Gebetsbuch (Book of Common Prayer, 1549, revidiert 1552), das durch Parlamentsbeschluss zur offiziell gĂŒltigen Liturgie der Kirche wurde. Das Book of Common Prayer vereinheitlichte die Liturgie fĂŒr das ganze Land und fĂŒhrte den Gebrauch der englischen Sprache ein. Es stand unter dem Einfluss lutherischer Vorbilder. Ab 1530 engagierte sich Cranmer auch fĂŒr die Abfassung von Glaubensartikeln (Thirteen Articles, 1538; 42 Articles, 1553). Die 39 Glaubensartikel, die schlieĂlich 1563/1571 angenommen wurden, spiegelten stĂ€rker als die frĂŒheren Dokumente einen bewusst protestantischen Einfluss wider, ohne allerdings in Extreme zu gehen. Sie wurden zu einem Zeitpunkt verabschiedet, als der Einfluss der calvinistischen Reformation langsam spĂŒrbar wurde.
WĂ€hrend der kurzen Regierungszeit von Königin Marie Tudor (1553â58) wurden alle reformatorischen Entscheide widerrufen. Unter ihrer Nachfolgerin, Königin Elisabeth I. (1558â1603), wurde die Kirche von England wieder auf die Grundlagen von vor 1553 gestellt (Act of Supremacy und Act of Uniformity, 1559). Drei Elemente wurden nun fĂŒr die Kirche von England konstitutiv: (1) das Allgemeine Gebetsbuch als Liturgie (Book of Common Prayer), (2) die 39 Glaubensartikel und (3) die Sammlung von Predigten (Book of Homilies). Die beiden ersten Elemente, die Liturgie und die Glaubensartikel, behielten im Wesentlichen die gleiche Gestalt wie in der Ausgabe von Cranmer. Die Anzahl Predigten in der Sammlung der Homilien verdoppelte sich jedoch. Diese Predigten sollten regelmĂ€Ăig gelesen werden, um die Gemeindeglieder zu unterrichten.
Die Kirche von England wĂ€hlte damit einen mittleren Weg (lat.: via media) zwischen dem römischen Katholizismus und dem kontinentalen Protestantismus, insbesondere in seiner calvinistischen AusprĂ€gung. Die Liturgie verĂ€nderte sich nur wenig gegenĂŒber der katholischen Tradition, wĂ€hrenddem die Glaubensartikel und die Sammlung der Homilien stĂ€rker von der Reformation beeinflusst waren. Im Jahre 1570 wurde Königin Elisabeth I. von Papst Pius V. exkommuniziert.
Der Theologe Richard Hooker (1554â1600) schuf weitere KlĂ€rung bezĂŒglich der Grundlagen dieses mittleren Weges der Kirche von England. Er wollte die grundlegende Frage nach den Kriterien aufnehmen, auf denen die AutoritĂ€t der Kirche grĂŒndet. Hooker antwortete mit einem dreifachen Kriterium:
1) Schrift: Die Heilige Schrift ist die wesentliche Quelle der Wahrheit. Sie ist ein sicherer FĂŒhrer in den groĂen Fragen des Heils. Jedoch, so betonte Hooker im Gegensatz zu den Puritanern, gibt die Heilige Schrift nicht auf alle Fragen eine Antwort, zum Beispiel auf die Frage nach der Struktur und Verwaltung der kirchlichen Dinge.
2) Tradition: Die Tradition hat einen hohen Stellenwert, vor allem die ersten Jahrhunderte des Christentums. Sie steht noch nahe am biblischen Zeugnis und sollte in besonderer Weise wertgeschÀtzt werden. Jedoch, so betonte Hooker im Gegensatz zu den Katholiken, stehe die Tradition nicht auf der gleichen Stufe wie die Heilige Schrift. Vor allem im Mittelalter habe es auch Verirrungen gegeben.
3) Vernunft: Die Vernunft erlaubt es, sowohl die Heilige Schrift als auch die Tradition zu verstehen. Sie hilft festzuhalten, was wahr und gut ist. Allerdings kann die offenbarte Wahrheit ĂŒber die Vernunft hinausgehen. Sie kann aber nicht im Gegensatz zur Vernunft stehen.
Dieses dreifache Kriterium von Schrift, Tradition und Vernunft kennzeichnet die Kirche von England. Es gibt ihr eine eigenstÀndige Art des theologischen Nachdenkens und positioniert die Kirche auf einem mittleren Weg zwischen Katholizismus und kontinentaleuropÀischer Reformation, ob lutherisch oder calvinistisch.
1.2Die Theologie John Wesleys und die Bedeutung seiner Predigten
Wer die Theologie John Wesleys kennen lernen möchte, kann nicht eine Einzelschrift zur Hand nehmen. Wesley hat weder eine Dogmatik geschrieben noch ein Buch, das mit der Institutio von Calvin vergleichbar wĂ€re. Man sucht bei ihm auch vergeblich theologische Grundschriften, die mit den groĂen Schriften Luthers vergleichbar wĂ€ren. Man findet auch kein spezifisch methodistisches Bekenntnis. Als es darum ging, grundlegende Dokumente fĂŒr die methodistische Bewegung festzulegen, nahm John Wesley auf drei Dinge Bezug (vgl. Model Deed, 1763):
1) Konferenzverhandlungen: Die methodistischen Konferenzen, eine Art jÀhrlicher Synoden (seit 1744), befassten sich nicht nur mit Fragen von Ordnung und Verwaltung, sondern sie diskutierten auch Lehrfragen, vor allem zu Beginn der Konferenzen. Die wichtigsten Entscheidungen wurden zusammengefasst in einem Band, den so genannten Large Minutes (Minutes of Several Conversations; mit Entscheidungen von 1744 bis 1789).
2) Anmerkungen zum Neuen Testament: Wesley publizierte seine Anmerkungen zum Neuen Testament im Jahr 1754 (Explanatory Notes upon the New Testament). Als Vorlage dafĂŒr benutzte er Werke von anderen Theologen: Theological Lectures von John Heylyn, Practical Expositor von John Guyse, Family Expositor von Philipp Doddridge und Gnomon Novi Testamenti von Johannes Bengel, einem deutschen Pietisten, bei dem sich zugleich die ersten AnfĂ€nge eines historisch-kritischen Zugangs zum Neuen Testament zeigen. Die Anmerkungen von Wesley geben eine Grundlage fĂŒr das VerstĂ€ndnis der neutestamentlichen Texte.
3) Lehrpredigten: Wesley wĂ€hlte aus den Predigten eine gröĂere Anzahl aus, die er in SammelbĂ€nden veröffentlichte (Sermons on Several Occasions). Bis zu Beginn der sechziger Jahre waren vier BĂ€nde erschienen. Sie wurden bekannt unter der Bezeichnung »Lehrpredigten« (Standard Sermons) und beschrieben die Lehren, die in methodistischen VersammlungshĂ€usern gepredigt werden sollten.
Diese drei Elemente waren und sind wichtig in Lehrfragen. Jeder Laien-Reiseprediger zur Zeit Wesleys musste sich regelmĂ€Ăig Zeit zum Studium dieser drei Elemente nehmen, um sich theologisch zu bilden. In unserem Zusammenhang ist es bedeutsam, dass die Predigtsammlungen von Wesley offiziell zu den wichtigen Kerndokumenten zĂ€hlen. Darin zeigt sich seine Verwurzelung im anglikanischen Gedankengut.
Diese besondere anglikanische PrĂ€gung kommt noch stĂ€rker zum Ausdruck, als die amerikanischen Kolonien im Frieden von Paris 1783 unabhĂ€ngig von England werden und die Jurisdiktion des Bischofs von London endet. Dies fĂŒhrt John Wesley in hohem Alter dazu, der methodistischen Bewegung in Amerika eine eigene kirchliche Basis zu geben. Er trifft eine interessante Auswahl: eine Kurzfassung des Allgemeinen Gebetsbuchs der Kirche von England (Book of Common Prayer), eine verkĂŒrzte Fassung der 39 Glaubensartikel der Kirche von England sowie als drittes Element anstelle der Sammlung der Homilien der Kirche von England oder einer Kurzfassung davon seine eigene Sammlung von Lehrpredigten. Bei diesem dritten Element anglikanischer Tradition ersetzt er somit die Homilien seiner Kirche durch eine eigene Predigtsammlung.
Seit Beginn der methodistischen Bewegung spielte die WortverkĂŒndigung eine groĂe Rolle, auch wenn der Methodismus nicht nur auf eine Predigtbewegung reduziert werden kann. Wesley ritt durch das ganze Land, predigte, lud die Menschen ein, dem Zorn Gottes zu entfliehen (vgl. die biblische Anspielung in den Allgemeinen Regeln) und die Vergebung der SĂŒnden im Glauben an Jesus Christus zu erfahren. GemÀà seinen privaten Tagebuchaufzeichnungen schĂ€tzt man, dass er in seinem Leben um die 50.000 Mal gepredigt hat!
Bei den Methodisten war die WortverkĂŒndigung nicht mehr auf den Stand eines ordinierten Priesters der Kirche von England beschrĂ€nkt. Laien begannen zu predigen. Es geschah ohne Wissen von John Wesley und zunĂ€chst wollte er es unterbinden. Doch er lieĂ sich ĂŒberzeugen, dass die Predigt eines Laien genau so viel Frucht bringen kann wie seine eigene. Der Einsatz von Laien in der VerkĂŒndigung wurde dann zu einem SchlĂŒssel des Erfolgs der methodistischen Erneuerungsbewegung.
1.3Geschriebene Predigten und mĂŒndliche VerkĂŒndigung
John Wesley begann bereits frĂŒh, ohne ausgeschriebenes Manuskript zu predigen. Ein erstes Beispiel ist mit einer Predigt vor Gefangenen aus dem Jahr 1733 bekannt, also einige Jahre vor seiner »evangelischen Bekehrung« (s. Kap. 3) von 1738. WĂ€hrend seiner gesamten Zeit als anglikanischer Priester nutzte er die Veröffentlichung von Predigten als Mittel der Unterweisung. Deshalb beschrĂ€nkt sich dieses Buch auf die publizierten Predigten. Sie sind nicht zwingend identisch mit den mĂŒndlichen Predigten. Die schriftlich gefassten publizierten Predigten geben oft den Eindruck, recht anspruchsvoll zu sein fĂŒr die Leserin oder den Leser â umso mehr fĂŒr Zuhörende! In der Regel hat Wesley denn auch Predigten geschrieben und veröffentlicht, um Methodisten zu unterweisen, insbesondere die Laien-Reiseprediger, und um seine theologischen Ăberzeugungen einem gröĂeren Publikum zugĂ€nglich zu machen. Seine Predigten sind damit Lehrpredigten (nicht nur die vier ursprĂŒnglich veröffentlichten BĂ€nde, die diesen Titel erhalten haben) im Sinne einer Theologie, die das christliche Leben prĂ€gen will. GemÀà Zeugnissen von Hörern hat Wesley oft die gleiche Grundstruktur einer geschriebenen Predigt in der mĂŒndlichen VerkĂŒndigung verwendet und sie dann mit konkreten Beispielen angereichert. Es gibt aber auch biblische Texte, ĂŒber die Wesley mĂŒndlich gepredigt hat, ohne dass schriftliche Spuren ĂŒber deren Inhalt erhalten geblieben sind, ebenso wie umgekehrt, dass er eine Predigt geschrieben und publiziert hat, aber dass man diesen biblischen Text nirgends sonst in seiner Auflistung der gehaltenen Predigten findet.1
Solche Unterscheidungen zwischen geschriebenen und mĂŒndlich vorgetragenen Predigten lassen sich nicht fĂŒr all...