Kapitel 1
Instanzen der Traditionswahrung und -durchdringung im frühen Mittelalter: Bischöfe, Mönche und der Hof der Karolinger
A.DER LANGE ÜBERGANG ZWISCHEN SPÄTANTIKE UND MITTELALTER
Wenn in der üblichen Weise die – sehr breite – Grenze zwischen Antike und Mittelalter durch die Zeit der sogenannten Völkerwanderung gezogen werden soll, wird die „Dekomposition der Alten Welt“5 geradezu zum Ausgangspunkt des Mittelalters gewählt. Damit ist unmittelbar ein Problem für die Bildungstraditionen gegeben, das Gregor von Tours (ca. 538–594) treffend auf den Punkt gebracht hat:
„Da die Pflege der schönen Wissenschaften in den Städten Galliens in Verfall geraten, ja sogar im Untergang begriffen ist, hat sich kein in der Redekunst erfahrener Grammatiker gefunden, um in Prosa oder Versen zu schildern, was sich unter uns zugetragen hat; und doch hat sich vieles ereignet, Gutes wie Böses, es raste die Wildheit der Heiden, und die Wut der Könige wurde groß, von den Irrgläubigen wurden die Kirchen angegriffen und geschützt von den Rechtgläubigen, in vielen erglühte und in nicht wenigen erkaltete der Glaube an Christus, die heiligen Stätten wurden von den Frommen reich geschmückt und geplündert von den Gottlosen. So mancher hat oftmals jenen Mangel beklagt und gesprochen: ‚Wehe über unsere Tage, dass die Pflege der Wissenschaften bei uns untergegangen ist und niemand im Volke sich findet, der das, was zu unsern Zeiten geschehen ist, zu Pergament bringen könnte!‘“6
Das von Gregor, einem Abkömmling einer vornehmen romanischen Senatorenfamilie, benannte Problem des Traditionsabbruchs ist das maßgebliche bildungsgeschichtliche Problem für den Übergang von der Antike zum Mittelalter: Die tradierten schulischen Instanzen zur Wahrung der antiken Bildung waren durch die „Völkerwanderung“ weitgehend außer Funktion gesetzt, neue Instanzen waren allenfalls rudimentär entstanden und wenn, dann mit anderer Ausrichtung: Als die Synode von Vaison 529 den Gemeindepriestern empfahl, Schulen zu errichten, so war das Bildungsprogramm klar auf religiöse Belange eingeschränkt: Es ging um die Lektüre von Bibel und Heiligenviten. So wird ein Teil der mittelalterlichen Geistesgeschichte auch die Geschichte von mehr oder minder zufälligen, durch Begegnung mit anderen Kulturkreisen hervorgerufenen Wiederentdeckungen antiken Erbes – etwa eines Großteils des aristotelischen Schriftencorpus um 1200 oder des platonischen Werkes im 15. Jahrhundert. Die Welt des Mittelalters hatte antike Bildungstraditionen nur insoweit zur Verfügung, als sie durch einen massiven Selektionsvorgang hindurchgegangen waren: Nur wenige funktionierende Instanzen kamen überhaupt für einen solchen Kulturtransfer von der Antike an das Mittelalter in Frage; für sie musste neben der Tatsache einer kontinuierlichen äußeren Existenz von der Antike zum Mittelalter auch der Erhalt von Schriftlichkeit maßgeblich sein. Hierfür kamen im Wesentlichen diejenigen Instanzen in Frage, die mit dem Christentum entstanden und einigermaßen intakt erhalten geblieben waren: die Bischöfe und die Klöster.
Die Tatsache, dass sich im Zuge der Kämpfe um die Macht für die Bischöfe eigene Formen bischöflicher Stadtherrschaft herausgebildet hatten, machte die Bischofsstellen attraktiv für Familien, die ihre angestammten Rechte mit dem Zusammenbruch des Römischen Reiches dahinschwinden sahen. Die hiermit verbundenen Verwaltungsaufgaben legten schon aus ganz äußeren Gründen einen gewissen Erhalt der Schriftlichkeit nahe, auch wenn, wie die Beispiele der weitgehend illiteraten weltlichen Herrscher der Zeit zeigen, diese Aufgabe natürlich prinzipiell an Kanzleien delegierbar war. Dennoch machen herausragende Bischofsgestalten – vor allem Isidor von Sevilla (ca. 560–636) – deutlich, dass einzelne der Bischöfe zu wichtigen Bildungsträgern ihrer Zeit werden konnten.
Die Gründe, aus denen Klöster zu den wenigen verbleibenden Orten von Schriftkultur in einer Zeit allgemeinen Niederganges der Schriftlichkeit werden konnten, lagen näher an deren spirituellen Aufgaben: die Lektüre der Bibel oder auch – wie z. B. im Kloster des Johannes Cassian († ca. 430/5) – der von Letzterem zusammengestellten „Collationes patrum“, machte, wo sie gepflegt wurde, wenigstens in geringem Maße das Vorhandensein von Texten unausweichlich. Allerdings war das Mönchswesen selbst im frühen Mittelalter zahlreichen Veränderungen unterworfen und kann keineswegs im Sinne eines Idealbildes kontinuierlicher Entwicklung seit Benedikt von Nursia (ca. 480 – nach 547) gelten7: Dass die von Benedikt in Anlehnung an die „Regula Magistri“ verfasste Regel zur maßgeblichen Regel wurde, war erst eine Folge der Karolingerzeit. Für das frühe Mittelalter ist mit einer Vielzahl von Mischregeln zu rechnen, deren Wurzeln außer bei Benedikt selbst seit der iro-schottischen Mission des frühen Mittelalters maßgeblich im irischen Mönchtum sowie in einer Fülle lokaler Traditionen und Anforderungen lagen. Auch war es keineswegs selbstverständlich, dass die Klöster vornehmlich ihrem geistlichen Zweck dienten und mit ihm auch die Schriftlichkeit pflegten.
So wird man den von Gregor von Tours beschriebenen Traditionsabbruch keineswegs gänzlich als typische Verfallsaussage eines Vertreters einer alten, absterbenden sozialen Elite ansehen dürfen. Das Wahrscheinlichste ist für das frühe Mittelalter eigentlich, dass die antiken Texte, die auf verderblichem Material niedergeschrieben waren, verschwanden. Bischofssitze und Klöster boten die Chance zu ihrem Erhalt – ein schmales Nadelöhr, das noch schmaler dadurch wurde, dass hier auch inhaltlich gefiltert wurde: Tradiert wurde nur, was im christlichen Kontext brauchbar schien. Die Antike, die geistig an das Mittelalter weitergegeben wurde, war also schon durch eine christliche Relecture gegangen, die ausgeschieden hatte, was mit dem neuen Weltbild nicht kompatibel schien. Eben derselbe Gregor von Tours, der oben als Zeuge für die Klage über den Verfall antiker Bildung angeführt worden ist, erklärte auch:
„Also ist es nötig, dass wir dem folgen, das schreiben und sagen, was die Kirche Gottes auferbaut und was die einfachen Gemüter in heiliger Erweisung zur Erkenntnis des vollkommenen Glaubens befruchtet. Nicht nämlich dürfen wir die trügerischen Fabeln ins Gedächtnis bringen und auch nicht der Gott feindlichen Weisheit der Philosophen folgen, damit wir nicht auf Grund der Entscheidung des Herrn unter das Gericht des ewigen Todes fallen.“8
Diese Situation brachte es auch mit sich, dass Bildung im Mittelalter nicht nur sozial – repräsentiert durch Kleriker und Mönche – sondern auch inhaltlich von ihren Anfängen her nur als christliche Bildung denk- und realisierbar war.
B.DIE SPÄTANTIKEN TRADITIONEN UND IHRE CHRISTIANISIERUNG
1. Der antike Bildungskanon der artes
Zu den tradierten Elementen gehörte das Bildungskonzept der septem artes liberales, der sieben freien Künste, oder angemessener: Fertigkeiten. Der erstmals bei Cicero begegnende Begriff bezog sich darauf, dass es sich hier um die eines freien Römers würdigen Fertigkeiten handelte. Für die Überlieferung des damit verbundenen Wissens war nicht die erste, nicht erhaltene Gesamtdarstellung des Varro (116–27 v. Chr.) maßgeblich, der in den Disciplinarum libri novem, wie der Name erkennen lässt, noch eine Neunzahl von Disziplinen kannte: neben Grammatik, Rhetorik und Dialektik sowie Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik auch Medizin und Architektur. Maßgeblich wurde vielmehr das allegorische Lehrbuch des Martianus Capella, De nuptiis Mercurii et Philologiae (um 430), das die im Spätmittelalter vollzogene Konzentration auf sieben maßgebliche Fertigkeiten – die genannten ohne Medizin und Architektur – aufgriff und die artes als Brautjungfern bei der Hochzeit von Merkur und Philologie auftreten ließ. Etwa ein Jahrhundert später schuf Boethius (ca. 480–524) für die mathematisch-naturwissenschaftlichen Disziplinen (Arithmetik, Geometrie, Astronomie und Musik) den Begriff „Quadrivium“, Vierweg, und Isidor, der Bischof von Sevilla, schließlich fasste Grammatik, Rhetorik und Dialektik als „Trivium“ zusammen.
Die endgültige Systematisierung dieses antiken Bildungsprogramms erfolgte also erst im christlichen Kontext. Das setzte voraus, dass es christlich akzeptierbar war. Hierfür war, auch wenn aus diesem Programm nur die Schrift „de musica“ erhalten ist, sicher maßgeblich, dass Augustin den Plan gehegt hatte, ein enzyklopädisches Sammelwerk der artes zu erstellen.9 Inhaltlich profilierender wirkte, dass Cassiodor (ca. 485 – ca. 588) für das von ihm nach seinem Rückzug aus der Politik auf seinem Landgut gegründete Kloster Vivarium ein Lehrbuch verfasste, das unter dem Titel Institutiones zwei Teile umfasste, deren einer dem Bibelstudium, den divinae litterae, und der andere den saeculares litterae, das heißt, dem Programm der artes, gewidmet war. Damit war ein Entwurf geschaffen, in dem geistliches und weltliches Wissen aufs Engste miteinander verbunden waren. Zugleich stellte Cassiodors Kloster eine jener Keimzellen dar, die es möglich machten, dass das Mönchtum zum maßgeblichen Bildungsträger des Mittelalters wurde. Auch wenn Vivarium selbst wohl nur wenige Jahre über den Tod des Gründers hinaus Bestand hatte, liegt hier eine der wichtigen Schnittstellen für die Überlieferung des antiken Bildungsgutes an das Mittelalter vor – das zeigt sich an der relativ großen Häufigkeit von Handschriften von Cassiodors Werken und von auf sie bezogenen Zitierungen im mittelalterlichen Schrifttum. Freilich wird man Cassiodor und sein Kloster auch nicht isoliert sehen dürfen; von ebenfalls großer Bedeutung war eine zeitlich etwas früher anzusetzende Erscheinung im südlichen Gallien: die sogenannten „Flüchtlingsklöster“,10 in denen sich Adelige aus dem nordgallischen Raum auf der Flucht vor den Franken sammelten und ihre antike Bildungspflege fortsetzten. Unter ihnen ragten Lerinum sowie das Kloster von Massilia unter Johannes Cassian hervor; mit der iro-schottischen Mission seit Columban d. J. (ca. 543–615/6) fassten solche gebildeten Klöster auch im mitteleuropäischen Raum Fuß, wobei das im frühen 8. Jahrhundert gegründete Kloster St. Gallen nahe dem Bodensee geradezu paradigmatisch wurde.
Dass es nicht allein die Klöster waren, die solche Schleusen zwischen antiker und mittelalterlicher Bildung darstellten, zeigt der bereits erwähnte Isidor von Sevilla. Insbesondere seine Etymologiae, die in umfassender Weise geistliches und weltliches Wissen der Spätantike sammelten und durch etymologische Begriffsanalyse zu durchdringen suchten, wurden für spätere Generationen zu einer Fundgrube definitorischer Bestimmungen – zugleich waren sie kennzeichnend für einen sich durchsetzenden eher sammelnden als systematisch durchdringenden Zugang zum Wissen. Die große Verbreitung zeigt sich auch daran, dass der angelsächsische Mönch Beda Venerabilis (ca. 672–735) sie kannte, der seinerseits neben seinem Hauptwerk, der Historia ecclesiastica gentis Anglorum, eine Fülle von Lehrbüchern für den artes-Schulbetrieb verfasste und in chronologischen Schriften die antiken Fertigkeiten unter anderem auf die Berechnung eines christlichen Kalenders seit der Inkarnation anwandte.
2. Die neuplatonische Tradition
Die geistige Situation des Mittelalters ist ganz wesentlich dadurch mitbestimmt, dass Plato dem Mittelalter nur indirekt und abgewandelt, meist schon in christianisierter Form, tradiert worden war. Bis in das 12. Jahrhundert hinein war als originaler Plato-Text lediglich ein Teil des Timaios erhalten, und auch Plotin (ca. 205–270), den wichtigsten neuplatonischen Philosophen, kannte man im Mittelalter praktisch gar nicht. Maßgebliche Tradenten neuplatonischen Denkens für das Mittelalter wurden neben Augustin Porphyrios (234 – vor 305) Proklos (421–485) und vor allem Dionysios Areopagita.
Porphyrios wurde dabei für das Mittelalter weniger auf Grund spezifischer neuplatonischer Konzepte bedeutsam als dadurch, dass er ihm eine Problemstellung übermittelte, die den Grundkonflikt zwischen aristotelischer und platonischer Philosophie auf den Punkt brachte: In seiner „Isagoge“, der „Einleitung“ in die Kategorienschrift des Aristoteles, die Boethius (ca. 480–524) ins Lateinische übersetzte, ordnete er – in Anlehnung an eine weitere aristotelische Schrift, Topik I,4–6 – der Gruppe der aristotelischen Kategorien, die die möglichen Aussageinhalte einfacher Sätze aus Subjekt und Prädikat systematisierten, also auch etwa den Ort oder die Zeit, die Prädikabilien zu. Wörtlich handelte es sich um die aussagbaren Dinge. Hier ging es nicht wie bei den Kategorien darum, auf welche Fragen ein Satz antworten kann, sondern in welcher Weise das Prädikat vom Subjekt des Satzes ausgesagt wird. Die fünf Prädikabilien, die dann auch als Universalien bzw. Allgemeinbegriffe (universalia) zusammengefasst wurden, waren: Gattung (genus), Art (species), Unterschied (differentia), eigentümliches Merkmal (proprium) und zufälliges Merkmal (accidens). Damit war aber zugleich auch die Frage nach dem Seinsstatus eben dieser Allgemeinbegriffe gestellt: ob es also, am Beispiel der Art „Mensch“ formuliert, eine Menschheit an sich gibt – so die platonisch-neuplatonische Position – oder, in Ausdeutung des Aristoteles gedacht, lediglich die Vielzahl von Menschen, die zunächst durch die begriffliche Arbeit des Intellektes einem gemeinsamen Allgemeinbegriff zugeordnet werden. Mit dieser Fragestellung war das Problem des „Universalienstreites“ vorgegeben, der im Mittelalter immer wieder aufbranden sollte.
Proklos erlebte als eigenständiger Autor vor allem im dominikanischen Neuplatonismus des 13. und 14. Jahrhunderts eine Renaissance, die auf eine vergleichsweise umfangreiche Überlieferung zurückgreifen konnte. Bedeutsamer freilich war die Wirkung, die er über Pseudo-Dionysios Areopagita entfaltete, einen spätantiken Autor, der in seinem Werk Spuren gelegt hatte, auf Grund deren man ihn traditionell mit jenem Griechen Dionysios identifiziert hat, der nach Apg 17,34 durch die Areopagrede des Paulus seine Bekehrung erfuhr. Dass diese Zuweisung nicht richtig sein kann, lässt sich eben dadurch nachweisen, dass die im „Corpus Dionysiacum“ enthaltenen Schriften – „De caelesti hierarchia“, „De ecclesiastica hierarchia“, „De divinis nominibus“ und „De mystica theologia“ – das System des Proklos voraussetzen, also schwerlich deutlich vor dem Ende des 5. Jahrhunderts entstanden sein können – aber wohl auch nicht viel später, da sie erstmals bei Severus von Antiochien (gest. 538) um 518/528 erwähnt werden.
Dionysios war so stark im neuplatonischen Denken verwurzelt, dass er gelegentlich sogar als pagan und nicht christlich eingeordnet werden konnte, was allerdings einen historisch schwer anwendbaren Normbegriff von Christlichkeit voraussetzte, da der Autor sich durch seine literarischen Anspielungen ja überdeutlich als Teil des christlichen Traditionskrei...