1 Umwelt
1.1 Palästina zur Zeit Jesu
Zu Beginn des 1. Jahrhunderts n. Chr. stellte sich die politische und religiöse Situation in der Region Palästina folgendermaßen dar: Israel wurde von König Herodes dem Großen von 40 (bzw. 37) bis 4 v. Chr. regiert. Er verstand sich als Förderer des Judentums. Er baute einen Königspalast und ein Amphitheater in Jerusalem, legte den Grundstein für den Neubau des nach ihm benannten herodianischen Tempels, gründete die hellenistische Stadt Cäsarea am Meer und trat als hellenistischer Herrscher auf, der eng mit den römischen Herrschern kooperierte. Nach seinem Tod wurde das Königreich auf seine drei Söhne aufgeteilt. Landesherr der nördlichen Provinzen Peräa und Galiläa wurde Herodes Antipas (4 v. Chr. bis 39 n. Chr.). Er war mit Herodias verheiratet und Landesherr des Jesus aus Nazareth. Im südlichen Zentrum Israels, in den Provinzen Judäa mit Jerusalem, Samaria und Idumäa, herrschte Archelaus (Mt 2,22). Diese Region wurde 6 n. Chr. nach Unruhen unter direkte römische Verwaltung gestellt. Im östlichen Jordanland herrschte Philippus (4 v. – 34 n. Chr.; Lk 3,1; Mk 6,17). Später übernahm Herodes Agrippa, Enkel von Herodes des Großen und Bruder der Herodias, die Herrschaft im Norden und nach und nach im ganzen Land (bis 37–44 n. Chr.). Die Juden konnten ihr Land selbst verwalten. Sie waren vom römischen Herrscherkult befreit und genossen Privilegien. Der Hohepriester war oberster Verwalter des Landes. Er vertrat das Volk gegenüber dem römischen Statthalter, der seine Residenz in Cäsarea am Meer hatte. Der Hohepriester saß dem Hohen Rat (Synhedrium, 70 Mitglieder) vor, der Hohe Rat verwaltete den Tempel, das geistige und politische Zentrum des Judentums. Immer wieder kam es zu Aufständen gegen die verhassten Römer. Dies mündete in den Jüdischen Krieg (67–70 n. Chr.), in dem die Römer nach einem Aufstand der Zeloten Jerusalem und den Tempel eroberten und zerstörten.
Zwischen 37 v. Chr. und 96 n. Chr. herrschten folgende Kaiser in Rom: Augustus, Tiberius, Gaius, Claudius, Nero, Vespasian, Titus, Domitian. In dieser Zeit wurde der Kaiserkult zunehmend forciert (Aufstellung von Kaiserstatuen zur Verehrung in den oströmischen Provinzen), wurden Juden aus Rom ausgewiesen, begann die Christenverfolgung in Rom und darüber hinaus wurde Jerusalem erobert und der Tempel zerstört, zuletzt wurden die Juden aus Palästina vertrieben. Verschiedene römische Statthalter vertraten den Kaiser in den jüdischen Provinzen: Quirinius (Lk 2,2), Pontius Pilatus (Lk 13,1 u. ö.), Antonius Felix (Apg 24,25 f.), Porcius Festus (Apg 25 f.).
Zur Zeit Jesu lag die Macht über den Tempel in den Händen der Sadduzäer, einer religiösen Partei innerhalb des Judentums. Sie stellten den Tempelkult und die Tora in die Mitte des religiösen Lebens. Sie bemühten sich um gute Kontakte zu den Römern und um Ruhe und Ordnung in Jerusalem. Mit der Zerstörung des Tempels gingen sie unter. Die Essener bildeten eine feste religiöse Gemeinschaft innerhalb des Judentums, sie lebten zum Teil in abgeschiedenen Gemeinschaften (Qumran). Sie grenzten sich von der »unreinen Welt« ab und wollten als Söhne des Lichtes allein Gott dienen. Auch sie gingen im Zuge der Jüdischen Kriege unter. Die Zeloten führten in Erwartung einer nahenden Gottesherrschaft und im Einsatz für die Tora einen bewaffneten Kampf gegen die römischen Besatzer für den alleinigen König Jahwe. Den Pharisäern war die Frömmigkeit im Alltag besonders wichtig. Sie relativierten die Alleinstellung des Tempels und setzten sich darüber mit den Sadduzäern auseinander. In Fragen der Auferstehungshoffnung, nach dem Jüngsten Gericht und der Messiaserwartung unterschieden sie sich von den Sadduzäern. Elemente ihrer Theologie und Frömmigkeit fanden Eingang in die Strömung des rabbinischen Judentums, die nach der Tempelzerstörung das Judentum ohne Tempel prägte.
1.2 Die antike Welt zur Zeit Jesu – der Hellenismus
In der Schlacht bei Issos (333 v. Chr.) besiegte der makedonische König Alexander der Große die Perser und schuf die Grundlagen der griechischen Herrschaft bis nach Indien. Griechische Sprache, griechisches Denken, griechische Bildung und Weltvorstellung und auch das griechische Steuersystem gewannen überall Einfluss, der Hellenismus entstand. Das machte sich auch in Israel bemerkbar. Unter dem König Antiochus IV. (167–142 v. Chr.) wurde der Jerusalemer Tempel dem Zeus Olympios geweiht. Darauf brach ein Aufstand unter Führung der Makkabäer los. Der zunehmende Einfluss der griechischen Kultur, Denkweise und Religion vollzog sich aber auch weniger geräuschvoll. Die frühen judenchristlichen Gemeinden kommunizierten selbstverständlich in der Welt- und Handelssprache Griechisch (neben der Volkssprache in der Region Palästina Aramäisch und der Amtssprache Latein), Männer im Umkreis Jesu trugen griechische Namen (Andreas), Steuer- und Zollfragen spielten auch in Galiläa eine Rolle – ein Beleg für die effizient strukturierte Verwaltung. Christen reisten von Stadt zu Stadt und konnten sich jeweils problemlos vor Ort verständigen. In den Schriften des Neuen Testaments wurden alttestamentliche Texte von Judenchristen in griechischer Sprache zitiert und schriftlich fixiert. Nach dem Aufstieg des Römischen Reiches setzte sich der Einfluss des Hellenismus in der antiken Welt fort. Allerdings entwickelten sich nun auch neue religiöse Strömungen.
Abb. : Palästina zur Zeit Jesu
Die Religiosität in der hellenistischen Welt bildete vor der Zeitenwende neue Formen aus. Die alten griechischen Gottheiten verschmolzen mit den römischen Gottheiten. Sie wurden weiter im Bewusstsein gehalten, ihnen zu Ehren errichtete man aber keine neuen Tempel mehr, ausgenommen Zeus als kosmischen All- und Reichsgott. Aufschwung erlebte vor allem in oströmischen Regionen der Herrscher- bzw. Kaiserkult. Dem Kaiser in Rom wurden Beinamen wie Soter (Heiland) oder Epiphanes (sichtbarer Gott) verliehen, Götterstatuen wurden für die Kaiser errichtet und diese kultisch verehrt. Mit der Verehrung des Kaisers als Gott begründete und legitimierte man die Staatsgewalt und die Einheit von politischem und sozialem Gemeinwesen religiös. Die offizielle Staatsreligion forderte von den Bürgern des Reiches Anerkennung und verhielt sich zugleich tolerant gegenüber anderen Religionen. Wenn Christen die Anerkennung des Kaisers als »Soter« verweigerten, stellten sie die religiösen Grundlagen des Gemeinwesens und seine Ordnung in Frage und trafen auf Unverständnis und Gegenwehr der antiken Gesellschaft.
Abb. : Der östliche Mittelmeerraum in neutestamentlicher Zeit
Daneben fanden sogenannte Mysterienkulte großer Zulauf. Von solchen Gottheiten wie Asklepios, Isis und Osiris, Hermes, Kybele erhoffte man sich Heilung, Schutz und Erfolg im privatem Leben sowie Rettung im Jenseits. Man schloss sich festen (Kult-)Gemeinschaften an und praktizierte in verschiedener Weise subjektive Frömmigkeit. Auch das Christentum setzte sich mit diesen Strömungen auseinander und bildete Züge einer Erlösungsreligion aus.
Prägend in dieser Zeit war das Leben in der Stadtkultur. Städte wie Rom, Antiochia, Alexandria, Ephesus, Korinth bildeten Zentren der Kultur, Bildung, Politik und Wirtschaft. Die ersten christlichen Gemeinden entstanden in diesen Stadtzentren und spiegelten deren Lebensumstände wider (vgl. 1 Kor).
2 Personen und Geschichte
2.1 Jesus aus Nazareth
Jesus von Nazareth stammte dem Namen nach aus einer Familie in Nazareth. Sein Vater war Handwerker (Lk 4,22; Joh 1,46), er hatte Brüder und Schwestern, deren Namen uns teilweise überliefert sind und die in der späteren Geschichte der christlichen Gemeinde eine Rolle spielen (Mk 3,31–35; 6,3; Gal 1,19; 2,1–14).
Mt 2,1 zufolge wurde Jesus in Bethlehem zur Zeit der Herrschaft von König Herodes geboren. Nach Lk 2,1–21 verließen Maria und Josef ihren Wohnort Nazareth und gingen nach Bethlehem wegen einer Volkszählung, die Cäsar Augustus (31 v. Chr. bis 14 n. Chr.) angeordnet hatte. Die Volkszählung fand statt, als Quirinius Statthalter der Provinz Syrien (6/7 n. Chr.) war. Josef stammte aus dem jüdischen Geschlecht David. Während ihres Aufenthaltes in Bethlehem wurde Jesus geboren. Der Evangelist nutzte die Information von einer Volkszählung, um die Reise von Maria und Josef nach Bethlehem zu motivieren. So brachte er in Übereinkunft, dass Jesus als Abkomme des Stammes David und damit als möglicher Messias (dt.: Gesalbter und damit von Gott für den Königsthron bestimmter Herrschaftsanwärter) zwar in Bethlehem geboren wurde, aber aus Nazareth stammte.
Lk 3,23 zufolge war Jesus 30 Jahre alt, als er öffentlich auftrat. Er begegnete Johannes dem Täufer, von dem es in Lk 3,1 heißt, er sei im 15. Jahr von Kaiser Tiberius (14–37 n. Chr.) öffentlich wirksam geworden. Jesus war also um 30 n. Chr. im Alter von 30 Jahren als Prediger, Heiler und Menschensammler in Galiläa und Judäa aktiv. Die Evangelien berichten von einem Zeitraum von einem Jahr des öffentlichen Wirkens Jesu (Mk, Mt, Lk) oder zweieinhalb Jahren (Joh), wobei es sich hier jeweils um komponierte Darstellungen handelt.
Jesus starb in der Zeit der Herrschaft des römischen Statthalters Pontius Pilatus (26–36 n. Chr.) und des Hohepriesters Kaiphas (18–37 n. Chr.) an einem Passafest, das immer mit dem Abend des 14. Nisan (= 7. Monat nach jüdischem Kalender) beginnt. Todestag war offenbar ein Freitag. Hinzu kommt die johanneische Angabe, dass Jesus am Tag vor dem Fest hingerichtet wurde (was aus politischen und prozesstechnischen Gründen historisch wahrscheinlich ist). Der Termin seines Todes lässt sich nicht exakt bestimmen, aber die verschiedenen Angaben weisen in die Zeit um 30 n. Chr.
Was wissen wir über die historische Person des Jesus von Nazareth?
Jesus wuchs in einer jüdischen Familie auf und wurde beschnitten (Lk 2,21), er lebte als Jude mit der Tora, betete in der Synagoge und besuchte den Tempel in Jerusalem. Der Gott Israels bestimmte sein Leben. Nach seiner Beg...