Die im ersten
Leipziger Jahrgang 1723/â24
aufgefĂŒhrten Kantaten
BWV 75
Die Elenden sollen essen
1. Sonntag nach Trinitatis, 30. Mai 1723, Nikolaikirche
1. Oboe I/âII, Streicher
Die Elenden sollen essen,
dass sie satt werden,
und die nach dem Herrn fragen,
werden ihn preisen.
Euer Herz soll ewiglich leben. Psalm 22,27
2. Rezitativ Bass Streicher
Was hilft des Purpurs MajestÀt,
Da sie vergeht?
Was hilft der gröĂte Ăberfluss,
Weil alles, so wir sehen,
Verschwinden muss?
Was hilft der Kitzel eitler Sinnen,
Denn unser Leib
muss selbst von hinnen?
Ach, wie geschwind ist es geschehen,
Dass Reichtum, Wollust, Pracht
Den Geist zur Hölle macht!
3. Arie Tenor Oboe, Streicher
Mein Jesus soll mein alles sein!
Mein Purpur ist sein teures Blut,
Er selbst mein allerhöchstes Gut,
Und seines Geistes Liebesglut
Mein allersĂŒĂâster Freudenwein.
4. Rezitativ Tenor
Gott stĂŒrzet und erhöhet
In Zeit und Ewigkeit.
Wer in der Welt den Himmel sucht,
Wird dort verflucht.
Wer aber hier die Hölle ĂŒberstehet,
Wird dort erfreut.
5. Arie Sopran Oboe dâamore
Ich nehme mein Leiden
mit Freuden auf mich.
Wer Lazarusâ Plagen
Geduldig ertragen,
Den nehmen die Engel zu sich.
6. Rezitativ Sopran
Indes schenkt Gott ein gut Gewissen,
Dabei ein Christe kann
Ein kleines Gut mit groĂer Lust genieĂen.
Ja, fĂŒhrt er auch durch lange Not
Zum Tod,
So ist es doch am Ende wohlgetan.
7. Choral Oboen mit Streichern separat
Was Gott tut, das ist wohlgetan;
Muss ich den Kelch gleich schmecken,
Der bitter ist nach meinem Wahn,
Lass ich mich doch nicht schrecken,
Weil doch zuletzt
Ich werd ergötzt
Mit sĂŒĂem Trost im Herzen;
Da weichen alle Schmerzen.
Was Gott tut, das ist wohlgetan, Strophe 5
Samuel Rodigast 1674
Zweiter Teil
8. Sinfonia Trompete, Streicher (mit Oboen?)
9. Rezitativ Alt Streicher
Nur eines krÀnkt
Ein christliches GemĂŒte:
Wenn es an seines Geistes Armut denkt.
Es glĂ€ubt zwar Gottes GĂŒte,
Die alles neu erschafft;
Doch mangelt ihm die Kraft,
Dem ĂŒberirdschen Leben
Das Wachstum und die Frucht zu geben.
10. Arie Alt Violinen unisono
Jesus macht mich geistlich reich.
Kann ich seinen Geist empfangen,
Will ich weiter nichts verlangen;
Denn mein Leben wÀchst zugleich.
11. Rezitativ Bass
Wer nur in Jesu bleibt,
Die Selbstverleugnung treibt,
Dass er in Gottes Liebe
Sich glĂ€ubig ĂŒbe,
Hat, wenn das Irdische verschwunden,
Sich selbst und Gott gefunden.
12. Arie Bass Trompete, Streicher
Mein Herze glaubt und liebt.
Denn Jesu sĂŒĂe Flammen,
Aus denâ die meinen stammen,
Gehn ĂŒber mich zusammen,
Weil er sich mir ergibt.
13. Rezitativ Tenor
O Armut, der kein Reichtum gleicht!
Wenn aus dem Herzen
Die ganze Welt entweicht
Und Jesus nur allein regiert.
So wird ein Christ zu Gott gefĂŒhrt!
Gib, Gott, dass wir es nicht verscherzen!
14. Choral (wie 7.)
Was Gott tut, das ist wohlgetan,
Dabei will ich verbleiben.
Es mag mich auf die rauhe Bahn
Not, Tod und Elend treiben;
So wird Gott mich
Ganz vÀterlich
In seinen Armen halten;
Drum lass ich ihn nur walten.
Was Gott tut, das ist wohlgetan, Schlussstrophe 6
Nicht gerade ein dankbares, zur Vertonung gefĂ€lliges Sujet bot dieser Sonntag fĂŒr Bachs Leipziger Antrittsmusik. Das Evangelium Lukas 16,19 â 31 mit dem GegenĂŒber von reichem Mann, der in der Hölle schmort, und armem Lazarus im Himmel ist ein eindringlicher BuĂtext, der drastisch den Ernst der Lage fĂŒr buĂunwillige Menschen vor Augen malt. Eine Kantate, die sich dem stellt, kann kaum »gefallen«. Ein Jahr spĂ€ter wird Bach mit O Ewigkeit, du Donnerwort (BWV 20 Bd. I, S. 32 ff.) die Hörer tatsĂ€chlich nicht schonen. Aber fĂŒr den Einstieg in Leipzig hat er mit seinem Librettisten wohl abgesprochen, dass »die Music »eine tröstliche, glaubensstĂ€rkende Ausrichtung haben soll. Mein Jesus (Satz 3) ist das zentrale Heilswort schon in der ersten Arie. Vom Ende beider Kantatenteile bleibt in Ohren und Herzen: Was Gott tut, das ist wohlgetan. Diese beiden Liedstrophen packt Bach in einen hitverdĂ€chtigen Instrumentalsatz als Ohrwurm-Schluss. Zudem eröffnet er den zweiten Kantatenteil mit einer instrumentalen Choralbearbeitung dazu. UngefĂ€hr zehn Jahre spĂ€ter wird er zum ganzen Lied als Lebensmotto noch eine Choralkantate gestalten, wo er diesen Schlusssatz integriert (BWV 100 Bd. I, S. 346 ff.). Was Gott tut, das ist wohlgetan offeriert Bach den Leipzigern am 30. Mai 1723 also dezidiert als seine Visitenkarte.
Auch die betrĂ€chtlichen 14 SĂ€tze der Kantate sind als BACH-Signierung evident. Das Libretto sagt wie die beiden Liedstrophen hĂ€ufig ich/ âmich. Alle Arien sind als persönliches Glaubenszeugnis formuliert, die Rezitative demgegenĂŒber katechetisch lehrhaft. Mit den Textwiederholungen in den Arien sind die Ich-SĂ€tze stĂ€rker gewichtet. Bach schreibt dazu ausgesprochen gefĂ€llige Musik und artikuliert so ein frohes, gewisses Ich im Glauben an Jesus. Dass seine Antrittsmusik laut Zeitungsmeldung »mit gutem applausu » aufgenommen wurde, liegt sicher mit an der wohl-gefĂ€lligen Tendenz der Kantate in Libretto wie musikalischer Umsetzung, am froh machenden Glaubenszeugnis bei eigentlich beĂ€ngstigendem Evangelium.
Der Kantateneinstieg ist allerdings herb. Das als Diktum gewĂ€hlte, mehrgliedrige Psalmwort verheiĂt den Elenden die Umkehrung ihres Geschicks, wie es das Evangelium vom armen Lazarus erzĂ€hlt, der nach seinem Tod im Himmel in Freuden lebt. Bachs Musik konfrontiert aber mit Elend, Mangel ist auskomponiert. Es fehlt bereits die erste Takteins, ebenso in Takt 3 und 5. Im Instrumentalritornell kommt kein klarer Rhythmus zustande, der Dreiertakt wird in Kadenz-Hemiolen gefesselt, ehe er als Dreier ĂŒberhaupt erfahrbar wurde. Punktierungen und Sechzehntel-Auftakte lassen eine Ouverture assoziieren, plausibel als Antrittsmusik. Dies ist aber eher das Zerrbild einer Ouverture, ein Lamento der einsam agierenden Oboe, von wirren AkkordschlĂ€gen der anderen Instrumente akzentuiert. Signifikant ist das erste Oboen-Intervall, die »Exclamatio« der kleinen Sexte hÂŽ/âgÂŽÂŽ in e-Moll. Auch der bloĂgelegte Vokaleinsatz im Bicinium von Alt und Sopran mit kanonisch einsetzenden Seufzerfiguren betont die Klage-Sexte, indem der Sopran...