Schachnovellen
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Schachnovellen

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About this book

Auf Reisen führt manchmal der Zufall Regie. Viermal bricht Vicente Valero auf, nach ­Italien und Dänemark, nach Zürich und Augsburg. Stets im Gepäck: das von einem Onkel geerbte Reiseschach. Was unbeschwert beginnt, mit Schachpartien und Begegnungen mit offenem Ausgang, wird zu einer detektivischen Suche nach Orten und Plätzen, wo sich die Lebens­linien von fünf europäischen Geistern ­kreuzen: Brecht und Benjamin in Svendborg 1934; ­Nietzsche, kurz vor seinem geistigen Zusammenbruch in Turin; Kafka bei der berühmten Lesung in München 1916; Rilke schließlich, der 1921 in Berg am Irschel versucht, sein Hauptwerk endlich zu vollenden.

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Information

Warum ich so gute Ziele wähle

Letzten Sommer bin ich nach Turin gefahren, und auch wenn ich nicht sagen kann – das wäre übertrieben –, dass mir die Schamesröte ins Gesicht steigt, wenn ich daran denke, welch nichtige Gründe mich zu der Reise bewegt hatten – vor allem zur Wahl meines Reiseziels –, kann ich ebenso wenig behaupten, dass sie mir das Gefühl eines rundum zufriedenen Reisenden verleihen. Eine berühmte kurze Erzählung Kafkas hilft vielleicht, die Sache besser zu verstehen. Sie heißt Der Aufbruch. Ein Mann ist zu Hause und empfindet – oder »entdeckt« – plötzlich, dass er aufbrechen muss. Er befiehlt seinem Diener, ihm das Pferd zu satteln, während er in der Ferne ein Trompetensignal hört, dessen Bedeutung er nicht versteht. Der Diener begreift den Befehl nicht und hat auch keine Trompete gehört, weshalb der Mann sein Pferd selbst sattelt und losreitet. Im letzten Augenblick, »beim Tore«, möchte der Diener wissen, was der Grund für den unerwarteten Aufbruch ist, und fragt seinen Herrn nach dessen Ziel. Woraufhin dieser zu seiner Überraschung antwortet: »›Weg-von-hier‹ – das ist mein Ziel.« Diese kurze Geschichte habe ich, halb im Spaß, halb im Ernst, im Verlauf entspannter Unterhaltungen schon Dutzende Male erzählt, aber nachdem ich sie nun noch einmal nachgelesen habe, um sie hier wiedergeben zu können, stelle ich fest, dass ich sie regelmäßig ausgeschmückt habe. Ich habe zum Beispiel immer erzählt, dass die Sache auf einem Schloss spielt, bei Nacht und heftigem Regen, außerdem war bei mir stets von einem Grafen sowie von Dienern, statt eines Dieners, die Rede. Gibt es von dieser Erzählung eine andere Fassung, oder hat meine Fantasie sie im Lauf der Zeit umgeschrieben? Wie dem auch sei, an einem Tag im August letzten Jahres wachte ich jedenfalls um sieben Uhr auf und stellte fest, dass Weg-von-hier mein Ziel war. Ich schaltete den Computer an und erwarb auf einer bekannten Flugbuchungsseite ein Ticket nach Turin. Der Flug ging um elf und schien mir, so wie die Dinge standen, vor allem deshalb, aber auch des Preises wegen, am interessantesten. Ich duschte, frühstückte, packte meinen Koffer, wählte aus den Romanen, deren Lektüre ich mir für August vorgenommen hatte, zwei aus – Die Falle von Emmanuel Bove und Die schwarze Flamme von Marguerite Yourcenar – und machte mich auf den Weg zum Flughafen. Um zwei Uhr saß ich in einem kleinen Restaurant an der Piazza Corpus Domini, nicht weit vom Dom, der Porta Palatina und dem Hotel Santo Stefano entfernt, wo ich mein Gepäck gelassen hatte, und aß in aller Ruhe ein köstliches Risotto Carnaroli ai fiori di zucca e zafferano. Ich weiß, manche werden sich jetzt sagen, so zu reisen sei doch eine höchst anziehende Vorstellung, aber, wie anziehend auch immer, meine Art zu reisen war es nie und wird es auch nie sein, mir geht es im Gegensatz dazu wie so vielen: Für mich ist die Vorbereitung einer Reise einer ihrer reizvollsten Teile. Nur indem ich mir ausmale, was ich in einer bestimmten Stadt zu sehen bekommen und unternehmen werde, und mich dann darauf vorbereite, gelingt es mir, mich mit der nötigen Vorfreude am Flughafen einzufinden (und die Unannehmlichkeiten dort zu ertragen). Ehrlich gesagt weiß ich selbst nicht – ich habe es noch nie gewusst –, ob ich gerne reise oder nicht, ich müsste wohl erst einmal gründlich darüber nachdenken. In unserer so reiselustigen Zeit gehen wir ja alle ständig auf Reisen, oft ohne Sinn und Zweck, exotische Ziele habe ich jedoch immer ausgeschlagen, wie überhaupt Ziele, deren Besuch mich mehr als vierzehn Tage von zu Hause fernhalten würde. In Flugzeugen fühle ich mich nicht wohl, auf Schiffen, in Zügen oder Bussen genauso wenig, das gilt für egal welches Transportmittel. Touristen mag ich auch nicht, aber nachdem ich ja selbst ein Tourist bin, nehme ich ihre Anwesenheit ergeben in Kauf, wohin auch immer ich reise. Hotels finde ich langweilig, doch bei Freunden übernachte ich möglichst nie. Trotz all dieser Manien kehre ich aber jedes Mal zufrieden von meinen kleinen Reisen zurück und genieße es, an den darauffolgenden Tagen zu Hause an die besuchten Orte zurückzudenken und in Katalogen, Stadtführern und in Cafés gemachten Aufzeichnungen zu blättern. Weg-von-hier war mein Ziel, das stimmt, jedoch, wie immer, nicht allzu weit weg und nicht für allzu lange. Gründe dafür gab es durchaus, denn wer wie ich auf einer kleinen, vom Tourismus gegeißelten Insel lebt, spürt, so sehr er sich im Lauf der Jahre seine ganz persönlichen Hilfsmittel geschaffen hat, indem er sich in die Einsamkeit des Waldes oder der Bücher zurückzieht und gesellschaftlichen Banalitäten jeder Art ausweicht, trotz allem in gewissen Abständen das machtvolle Bedürfnis, eine Weile fortzugehen und »Festlandluft« zu atmen. Und da ich die Insel schon fast ein ganzes Jahr nicht mehr verlassen hatte, spürte ich an jenem Augustmorgen beim Aufwachen tatsächlich das dringende Bedürfnis, auf Reisen zu gehen. Außerdem war ich fast den ganzen Frühling über krank gewesen, wie so oft in dieser schönen Jahreszeit, zuerst hatte ich eine Bronchitis, dann etwas an den Nieren, und von beidem hatte ich mich, meinem Eindruck nach, noch immer nicht völlig erholt, vielleicht war ich auch ein wenig deprimiert, so genau weiß ich das nicht, jedenfalls hatte ich in manchen Nächten Fieber und morgens oft wenig Lust, aufzustehen und mich an den Schreibtisch zu setzen. In Turin war ich nie gewesen, obwohl das bei der Wahl meines Reiseziels, wie gesagt, keine Rolle spielte. Italien gefällt mir, wie fast allen, in jedem Fall sehr, dort fühle ich mich immer wie zu Hause, als wäre ich auf Reisen, ohne gänzlich auf Reisen zu sein, was, glaube ich, genau das ist, wonach ich suche, allerdings kam mir die Stadt zunächst wenig italienisch vor, woran ich wiederum erkannte, dass meine Vorstellung davon, was »italienisch« ist, genauso oberflächlich war wie die aller Touristen. Hierüber dachte ich nach, während ich in dem ristorantino an der Piazza Corpus Domini meinen Nachtisch verzehrte, einen bonet, also eine typisch piemontesische Süßspeise, über die mir der Kellner, ein kleiner kahlköpfiger Mann mittleren Alters, der, wie er sagte, in Novara geboren war, einen langen und gelehrten Vortrag hielt, wobei er die Gelegenheit nutzte, dass kaum Gäste auf der hübschen Terrasse saßen und er entsprechend wenig zu tun hatte. Von ihm erfuhr ich auch, dass August der schlechteste Monat des Jahres für einen Turinaufenthalt sei, der Hitze wegen und weil die Turiner um diese Zeit an die Küste fliehen, was zur Folge habe, dass viele Geschäfte geschlossen seien und die Stadt einen einsamen, ja traurigen oder langweiligen Eindruck mache. Diese wenig ermutigenden Informationen verdarben mir aber keineswegs die Stimmung, im Gegenteil, sie trugen ebenso sehr zu meiner Zufriedenheit bei wie der Nachtisch, der Kaffee und der Likör – ein Nocciolino di Chivasso del Piemonte –, den ich gerade zu mir genommen hatte. Auf meiner ersten, langen, noch am selben Nachmittag unternommenen Erkundungstour stellte ich, aufs Geratewohl umherstreunend, fest, dass der Stadt offenbar tatsächlich Einwohner abhandengekommen waren, Touristen gab es allerdings auch nur wenige, dafür umso mehr geschlossene Läden, zumeist handelte es sich jedoch um solche, die ich ohnehin bei diesem Aufenthalt nie betreten hätte – Kurzwarenhandlungen, Eisenwarenhandlungen, Friseursalons, Metzgereien … –, so dass mir letztlich bloß die Hitze womöglich zu schaffen machen würde, das aber auch nur, sagte ich mir, falls es hier heißer würde, als wir es an dem Ort zu ertragen gewohnt waren, von dem ich kam, was wenig wahrscheinlich war. Bei diesem ersten Spaziergang bestätigte sich, dass meine Vorstellung davon, was »italienisch« ist, nicht zu dem passte, was ich vor mir sah, in erster Linie, weil es in Turin weder zivile Renaissancegebäude noch römische Ruinen gibt – mit Ausnahme der Porta Palatina, die ich übrigens von meinem Hotelzimmer aus sehen konnte –, dafür weist das so geräumige wie helle und saubere Zentrum eine Vielzahl von Palästen und Plätzen aus dem 18. Jahrhundert auf, die hier, einer bewundernswert rationalistischen Anlage folgend, vom Haus Savoyen im besten französischen Stil errichtet wurden. Einen Stadtführer hatte ich mir noch nicht zugelegt, und so spazierte ich ziellos die großzügigen Straßen und Plätze entlang, ohne mir Gedanken darüber zu machen, was ich an den nächsten zehn Tagen hier unternehmen würde, bis ich, nachdem ich die große Piazza Carlo Alberto in nördlicher Richtung überquert hatte und meinen Weg gerade in der gleichnamigen Straße fortsetzen wollte, auf eine Gedenktafel stieß, auf der ich ein Bronzerelief mit dem Porträt Nietzsches entdeckte. In dem dazugehörigen Gebäude, das auf die Piazza wie auch auf die Via Carlo Alberto blickt, wohnte der Philosoph von April 1888 bis Januar 1889. In questa casa / FEDERICO NIETZSCHE / conobbe la pienezza dello spirito / che tenta l’ignoto / la volontà di dominio / che suscita l’eroe // Qui / ad attestare l’alto destino / e il genio / scrisse Ecce Homo / libro della sua vita // A ricordo / delle ore creatrici / primavera – autunno 1888 / nel 1° centenario della nascita / la città di Torino / pose / 15 Ottobre 1944 A. XXII E. F. [In diesem Haus erkannte / FRIEDRICH NIETZSCHE / die Geistesfülle / die das Ungewusste versucht / den Willen zu herrschen / der den Helden erweckt // Hier / schrieb er / das hohe Schicksal / und das Genie zu bezeugen / »Ecce Homo« / das Buch seines Lebens // Zum Andenken an / die Schöpferstunden / Frühling Herbst 1888 / im hundertsten Jahr seiner Geburt / von der Stadt Turin / angebracht // 15. Oktober 1944 A. XXII E. F.] Mit meinem Mobiltelefon machte ich mehrere Aufnahmen davon und folgte dann der Via Carlo Alberto bis zur Ecke Via Po, einer wesentlich breiteren Straße mit Bogengängen, offensichtlich eine der Hauptachsen Turins, wie sich mir in den folgenden Tagen bestätigte. Bald zog eine Buchhandlung in eben dieser Straße meine Aufmerksamkeit auf sich, La Bussola, und allein schon deren am Eingang angezeigte Öffnungszeiten – von zehn Uhr morgens bis Mitternacht – übten eine unerhörte Anziehungskraft aus. Ich trat also ein und machte mich auf die Suche nach Nietzsche, womöglich bereits in der Absicht, während meines Aufenthalts vor Ort mehr über das Leben des Philosophen in Turin herauszufinden. Vor allem erinnerte ich mich an die Szene mit dem Pferd, das heißt, an den dramatischen Augenblick, in dem es mit dem Verstand des Philosophen endgültig und unumkehrbar den Bach hinunter ging, an einem kalten Januartag, als er sich vor dem Haus, in dem er damals lebte, eines alten Kleppers erbarmte, der von seinem Besitzer mit der Peitsche malträtiert wurde, woraufhin Nietzsche, unverständliche Worte stammelnd, dem Tier um den Hals fiel; was er zu der Zeit schrieb – was also die letzten sinnvollen Worte waren, die er zu Papier brachte –, erinnerte ich dagegen nicht, es fiel mir erst bei der Lektüre des Textes auf der Gedenktafel wieder ein. In La Bussola war eine Vielzahl von Werken Nietzsches vorrätig, und ich kaufte ein Exemplar der italienischen Übersetzung von Ecce homo, was viele Erinnerungen in mir wachrief, von denen ich mich an diesem Nachmittag nicht mehr befreien konnte, weder in der Buchhandlung, noch als ich später die Via Po entlangspazierte, bis ich zur großen Piazza Vittorio Veneto gelangte, wo ich mich auf einer Caféterrasse in den Schatten setzte und trank, was, wie ich sah, hier alle tranken, einen Aperol Spritz.
Von sehr wenigen Büchern kann ich behaupten, ich hätte sie vor meinem achtzehnten Geburtstag zum ersten Mal gelesen, aber eins davon ist just Ecce homo, was wiederum daran liegt, dass ein Philosophielehrer am Gymnasium uns zwang, es zu lesen. An den Lehrer erinnere ich mich noch genau, er war jung, sehr gesprächig, unordentlich und gelehrt, und es kostete ihn keinerlei Mühe, bei seinen Vorträgen in Tiefen vorzustoßen, in die keiner von uns ihm folgen konnte. So ging es uns natürlich auch mit der aufgezwungenen Nietzsche-Lektüre, der Text war für uns undurchdringlich, außerdem wussten wir nichts über den Autor, und dennoch, ich glaube, ich kann das so sagen, sorgte seine erstaunliche Energie dafür, dass ich zum ersten Mal erlebte, wie viel Elan man aus dem Lesen beziehen kann. Während ich auf dem riesigen Platz am Po-Ufer saß und meinen Aperol Spritz trank, bedauerte ich, dass ich mein altes Exemplar des Buchs nicht bei mir hatte – es ist stark abgegriffen, denn auf die erste frühe Lektüre folgten zu verschiedenen Zeiten meines Lebens zahlreiche weitere –, aber bei meinem hastigen Aufbruch am Morgen dieses Tages hatte ich, abgesehen von den zwei Romanen, die ich zur Unterhaltung eingesteckt hatte, keine Zeit gehabt, an irgendwelche literarischen Dinge zu denken, weshalb ich nichts von Nietzsche dabei hatte, allerdings auch nichts von Pavese, Primo Levi oder Natalia Ginzburg – andere Turiner Schriftsteller hatte ich bislang nicht zur Kenntnis genommen, bis auf Emilio Salgari, den ich ebenfalls noch vor meinem achtzehnten Geburtstag gelesen habe, vielleicht sogar schon vor meinem sechzehnten. Einen Gutteil meines ersten Turiner Nachmittags verbrachte ich damit, auf der Caféterrasse sitzend in dem soeben erworbenen Buch zu blättern und die Leute um mich herum zu beobachten – »Müssiggang eines Gottes am Po« las ich an einer Stelle und konnte von da an bis zum letzten Tag meiner Reise nicht mehr aufhören, an Nietzsche zu denken. Natürlich unternahm ich an den folgenden zehn Tagen alles, was von einem guten Touristen erwartet wird, ich besichtigte das beeindruckende Ägyptische Museum, den Königspalast, die berühmte Mole Antonelliana, die ein amüsantes Filmmuseum beherbergt, die Galleria Sabauda, den Dom, in dem sich die Pilger drängten, die das heilige Grabtuch sehen wollten, und schlenderte immer wieder die wichtigsten Straßen der Stadt entlang, aß Eis und Pizza al taglio und probierte den typischen bicerin, eine Mischung aus Espresso und heißer Schokolade, und dennoch ging ich jeden Tag, nachdem ich aufgestanden war, geduscht und mich rasiert, allerdings noch nicht gefrühstückt hatte, zunächst auf direktem Weg zur Piazza Carlo Alberto und setzte mich vor das Gebäude, in dem der Philosoph in einem Zimmer seiner Wohnung im dritten Stock mit Blick auf eben diesen Platz Ecce homo geschrieben hatte, das – höchste Zeit, dass ich es sage – seltsamste und beunruhigendste Buch, das ich je gelesen habe, und dessen Untertitel »Wie man wird, was man ist« mir um nichts weniger mysteriös erscheint, um von den Überschriften der ersten drei Kapitel gar nicht erst zu reden: »Warum ich so weise bin«, »Warum ich so klug bin«, »Warum ich so gute Bücher schreibe«. Ich blieb jedes Mal eine oder eineinhalb Stunden dort, betrachtete den Platz, der sich, seit Nietzsche ihn erlebte, bestimmt nur wenig oder auch gar nicht verändert hat, die mächtigen Paläste aus dem 18. Jahrhundert, das Reiterdenkmal Carlo Albertos, König von Sardinien-Piemont und Herzog von Savoyen, dachte über Nietzsches Bücher und Reisen und Gedanken nach und hielt dabei – für den Fall, dass sich jemand dort zeigen könnte, was aber in keinem Moment geschah – im Augenwinkel sein Fenster im Blick, bis ich irgendwann, das üppige und vielfältige Frühstück meines Hotels ausschlagend, ins Fiorio ging, um einen Cappuccino zu trinken und ein Stück Kuchen zu essen – ins Fiorio in der Via Po, eines der vielen alten Cafés dieser Stadt, auf dessen mit rotem Samt bezogenen Stühlen sich einst auch Nietzsche niedergelassen hat. Bei meinem ersten Besuch im Fiorio sah ich zum ersten Mal das Ehepaar Ferretti – Luigi und Marcella –, die sich an einem kleinen runden Marmortisch gegenübersaßen und Schach spielten, und nachdem ich mich ihnen am nächsten Tag gleichermaßen schüchtern und neugierig genähert hatte, um die Partie zu verfolgen, vielleicht aber ebenso sehr, um die beiden besser in den Blick nehmen zu können, woraufhin wir irgendwann anfingen, uns halb auf Spanisch, halb auf Italienisch zu unterhalten, sollten wir uns bis zum Tag meiner Abreise nicht mehr trennen. Ich kann nicht behaupten, dass das, was wir für gewöhnlich Freundschaft nennen, mich in meinem Alter noch allzu sehr überzeugt, und dass gerade die Philosophen, die begeisterte Abhandlungen zum Lob der Freundschaft geschrieben haben, an anderer Stelle auch auf den Tod ein Loblied anstimmen – auf die seltsamen Vorzüge, die es angeblich mit sich bringt, wenn man tot ist –, fand ich schon immer einigermaßen verdächtig, als ich mich jedoch, zwei Wochen nachdem wir uns kennengelernt hatten, am Turiner Flughafen von den Ferrettis verabschiedete, hatte ich – zum ersten Mal seit vielen Jahren – das Gefühl, wir seien, fast ohne es zu merken, tatsächlich Freunde geworden. Luigi und Marcella hatten bis zu ihrer Pensionierung am Gymnasium unterrichtet, er italienische Literatur, sie Philosophie, sie waren seit über vierzig Jahren verheiratet, hatten zwei Söhne, die sie aber nur selten sahen, denn der eine wohnte in Neapel, der andere in Bologna, und bestimmt hatten sie auch Enkel, doch soweit ich mich erinnere, sprachen wir nicht darüber, über die Söhne ehrlich gesagt auch nicht allzu viel, ich weiß allerdings noch, dass der Ältere, wenn ich richtig verstanden habe, Archäologe war. Es gibt zwei Arten von Turinern, die die Stadt im August nicht verlassen: die, die nicht über ausreichend Mittel verfügen, um es auf eine Weise zu tun, die wenigstens ansatzweise ihrem Gefühl für Würde entspricht, und die, die keine Lust mehr auf die Behauptung haben, es sei erholsam, sich am Ufer des ölig glänzenden Meeres zwischen lauter Menschen in den Sand zu legen. Seit ihre Söhne alt genug waren, um allein beziehungsweise mit ihren Freunden und Freundinnen ans Meer zu fahren, gehörten Luigi und Marcella zur zweiten Art von Turinern. Als Rentner genossen sie nicht nur die halb leeren Straßen und Cafés des Turiner August, im Winter ließen sie es sich auch nicht nehmen, mit dem Auto regelmäßig an die ligurische Küste zu fahren, wo sie, wenn die Temperaturen es zuließen, sich gelegentlich sogar in einer einsamen Bucht bei Savona oder Portofino ein ausgiebiges Bad genehmigten. In die stets am Turiner Horizont gegenwärtigen Alpen fuhren sie selten, die Berge waren nichts für sie. An jenem Morgen nun forderten sie mich zunächst auf, mit ihnen Schach zu spielen, und gegen Mittag, also etwa drei oder vier Stunden später, luden sie mich bereits zu sich nach Hause zum Essen ein, womöglich nicht aus übertriebener Gastfreundschaft, sondern weil ich, wie immer wenn ich allein im Ausland unterwegs bin, offensichtlich einen ein wenig verlassenen Eindruck machte, als sähe man mir an, dass ich nicht recht weiß, was ich als Nächstes tun oder wohin ich gehen soll oder was ich überhaupt an diesem Ort verloren habe. Die Ferrettis verließen jeden Morgen um acht ihre Wohnung am Corso Galileo Ferraris, fuhren mit dem Bus zur Piazza Castello und gingen von dort zu Fuß ins Fiorio – manchmal auch ins ein Stück weiter die Straße hinab, bereits an der Piazza Vittorio Veneto gelegene Elena, oder aber ins Beccuti in der Via Pietro Micca oder ins Torino an der Piazza San Carlo –, wo sie frühstückten, Zeitung lasen und mehrere Partien Schach spielten. Sie nahmen stets ihr eigenes Spielbrett samt Figuren mit, außerdem eine Uhr, da Luigi, wie Marcella erzählte, zum Verzweifeln langsam spielen konnte, wenn kein Minutenanzeiger vorhanden war, der seine Züge überwachte. Als ich sie zum ersten Mal spielen sah, im Fiorio, an einem kleinen, abseits stehenden Tisch, mit ihren Kaffeetassen, Zeitungen und den auf einem Nebentisch abgelegten Hüten, hin und wieder unterbrochen von den Kellnern, die sich ihnen vertrauensvoll näherten, um eine lustige Bemerkung zu machen, sagte ich mir, wie ich mich erinnere, dass eine von zwei Schachspielern geführte Ehe zweifellos ein Leben lang halten könne, vorausgesetzt, keiner der beiden ist ein schlechter Verlierer. Dass sie verheiratet sein mussten, schien mir von Anfang an klar – was sonst, hatte ich doch einen Mann und eine Frau um die siebzig vor mir, die sich morgens um halb neun in einem leeren Café eine Schachpartie lieferten. Jedes Mal wenn sie eine Partie beendet hatten, bestellten sie ein neues Getränk und ein weiteres kleines mit Sahne oder Schokolade gefülltes Stück Gebäck, nahmen sich erneut die Zeitungen vor und kommentierten die neuesten Nachrichten, anders gesagt: ruhten aus, um jedoch schon bald wieder loszulegen, die Figuren aufzustellen und die nächste Partie zu beginnen. Nach einer ersten kurzen Unterhaltung nahmen sie mich in dieses Wechselspiel auf, dem ich mich nur zu gerne anschloss, wobei jedem – wir spielten Schnellschach – jeweils nur fünf Minuten auf der Uhr zustanden, was zu allen möglichen durch die Eile bedingten Fehlern, aber auch lautem Gelächter, aufgeregtem Gefuchtel und den verschiedensten in seltsamen Dialekten formulierten Flüchen führte und im weiteren Verlauf des Vormittags natürlich auch den einen oder anderen neugierigen Zuschauer anlockte. Ohne es darauf anzulegen, im Gegenteil, gewann ich die Zuneigung des Schachspielerpaars, indem ich ihnen mehrere Tricks beibrachte und außerdem erklärte, woher ich kam – von einer Insel, auf der, wie ihnen ihr Verstand sagte, niemand geboren sein konnte, wurde sie doch offenbar Jahr für Jahr bloß den Sommer über für die Touristen freigegeben, um anschließend wieder geschlossen zu werden, ähnlich wie manche Skigebiete im Winter, oder hat schon mal jeman...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Inseln hinter den Inseln
  5. Warum ich so gute Ziele wähle
  6. Tropische Münchhausiade
  7. Von Schloss zu Schloss
  8. Bibliografie
  9. Impressum