Plädoyer für eine Jobgarantie
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Plädoyer für eine Jobgarantie

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Plädoyer für eine Jobgarantie

About this book

Das vielleicht schädlichste Instrument beim Widerstand der Wirtschaftsführer gegen Maßnahmen im öffentlichen Interesse ist der Mythos, dass die Ausgaben der Bundesregierung von den Steuereinnahmen abhängen, die der Staat von ihnen erheben kann.Der Kampf um wirtschaftliche Emanzipation muss entschieden gegen dieses Volksmärchen vorgehen, sonst bleiben progressive Politiken die ewigen Geiseln der Ideologie der gesunden Finanzen.Um die hohen strukturellen und institutionellen Hürden in Angriff zu nehmen, die es so schwer machen, sich für arbeitende Menschen einzusetzen, muss man zumindest dem stärksten ideologischen Werkzeug die Stirn bieten, das den Reichen und Mächtigen zur Verfügung steht: dem Mythos, dass sie für alles aufkommen.Nichts davon ist "einfach", doch dürfen wir uns nicht einreden, dass diese Hindernisse unüberwindbar seien. Die meisten Argumente gegen die Jobgarantie wurden in der Vergangenheit auch gegen andere notwendige Staatsmaßnahmen vorgebracht. Das liegt in der Natur der Politik der Angst. Es gibt keine zwingenden moralischen oder wirtschaftlichen Gründe, um so weiterzumachen wie bisher. Die Frage ist, was wir mehr fürchten müssen – eine Welt, in der allen ein existenzsichernder Mindestlohn sicher ist, oder eine Welt, in der Massenentlassungen die Norm bleiben?– Pavlina R. Tcherneva

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Information

Publisher
Lola Books
Year
2021
eBook ISBN
9783944203584
Edition
1

1

EINE STAATLICHE OPTION FÜR GUTE JOBS

Elf lange Jahre dauerte es, die Arbeitslosenrate nach der großen Finanzkrise in den USA wieder auf das Nachkriegstief von 3,5 Prozent zu senken. Noch immer gab es Millionen von Menschen, die keine bezahlte Arbeit finden konnten. Im Februar 2020 lag die Zahl offiziell bei 5,8 Millionen, doch bei richtiger Zählung wäre diese Ziffer mehr als doppelt so hoch.1 Arbeitsverlust ist kein Leid, das alle Menschen gleich trifft. Unverhältnismäßig stark betroffen sind Junge, Arme, Behinderte, People of Color, Kriegsveteranen und ehemalige Strafgefangene.
Das Wirtschaftswachstum, wird uns gesagt, wird alle Boote wieder flott machen. Dennoch sind langanhaltende Aufschwünge ohne Arbeitsplätze nun bereits seit einem halben Jahrhundert die Norm, und Arbeit wird zunehmend schlecht bezahlt. Auf die Frage, „Wer profitiert davon, wenn die Wirtschaft wächst?“, erhalten wir eine beunruhigende Antwort. Als die Wirtschaften unmittelbar nach dem Krieg nach jeder Rezession wuchsen, floss der Großteil der Gewinne an die unteren 90 Prozent der Familien. Genau umgekehrt war es während der letzten vier Expansionen (Abbildung 1).2 Seit den 1980er Jahren vermehrt sich bei Wirtschaftswachstum hauptsächlich das Einkommen der reichsten 10 Prozent der Familien. Schlimmer noch, während des Aufschwungs nach der Großen Rezession ging das durchschnittliche Realeinkommen der unteren 90 Prozent der Familien in den ersten drei Jahren der Expansion zurück.
Abbildung 1 Verteilung des durchschnittlichen Einkommenswachstums bei Expansionen
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Quelle: Pavlina R. Tcherneva, „Reorienting Fiscal Policy: A Bottom-up Approach“, Journal of Post Keynesian Economics, 37(1), 2014: 43-66
Heute finden Millionen Menschen keine bezahlte Arbeit, und weitere Millionen brauchen einen Lohn oberhalb der Armutsgrenze. Die Löhne stagnieren seit Jahrzehnten. 2017 betrug das reale Durchschnittseinkommen der unteren 90 Prozent der Familien 34.580 US-Dollar, 2,2 Prozent weniger als vor zwanzig Jahren. Währenddessen stieg das reale Durchschnittseinkommen der reichsten 0,01 Prozent der Familien im selben Zeitraum um 60,5 Prozent (Tabelle 1) und war beinahe 556-mal höher als das der unteren 90% (oder 1000-mal höher bei Berücksichtigung der Kapitalertäge).3
Tabelle 1 Eskalierende Ungleichheit
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Quelle: Tabellarische Darstellung der Autorin von T. Piketty und E. Saez, „Income Inequality in the United States, 1913-1998“, Quarterly Journal of Economics, 118(1), 2019 [2003]: 1-39
Hinter den Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Ungleichheit verbirgt sich die Vielfalt der Millionen von Gesichtern, Erfahrungen, Lebensumständen und persönlichen Problemen derer, die unter Arbeitslosigkeit und ungerechter Bezahlung leiden.
Vielleicht gehören Sie dazu, oder Sie kennen jemanden, der dazugehört. Vielleicht haben Sie während der Großen Rezession Ihre Arbeit verloren und arbeiten nun in zwei Halbtagsjobs, um mit Mühe die Rechnungen bezahlen zu können. Vielleicht haben Sie das Abitur gemacht, können sich kein Studium leisten und möchten erst einmal Geld ansparen. Vielleicht sind die Kinder aus dem Haus und Sie möchten nun in den Beruf zurückkehren, waren aber jahrzehntelang nicht berufstätig und wissen nicht, wo Sie anfangen sollen. Vielleicht haben Sie bereits 215 Lebensläufe verschickt,4 können jedoch selbst in dieser „starken Wirtschaft“ noch immer keine feste, gut bezahlte Arbeit finden. Vielleicht liegt es an Ihrem Alter, Ihrem Geschlecht, Ihrer Hautfarbe oder Ihrem Strafregister. Vielleicht haben Sie eine Behinderung und suchen Arbeit, doch eine Beschäftigung zu finden, die Sie ausüben könnten, scheint unmöglich, und wenn Sie doch eine finden, braucht Ihnen Ihr Arbeitgeber nach aktuellem Recht nur $1/Stunde zu zahlen.5 Vielleicht hat Ihre Firma eine „bessere“ Kandidatin gefunden. Sie klopfen an die nächste Türe, schreiben den nächsten Arbeitgeber an, bekommen jedoch nie einen Anruf.
Das Arbeitsamt ist für Sie da – Sie bilden sich weiter, polieren Ihren Lebenslauf auf und trainieren für Vorstellungsgespräche. Sie zeigen sich von Ihrer besten Seite und scheitern doch wieder. Oder vielleicht werden Sie eingestellt, doch ist es wieder nur ein niedrig bezahlter Job ohne Nebenleistungen. Sie kommen nur knapp über die Runden, und bei dem langen Heimweg und den unregelmäßigen Schichten schaffen Sie es kaum, zum Abendessen zu Hause zu sein oder den Kindern bei den Hausaufgaben zu helfen.
Sie sind bereit, hart für diesen Job zu arbeiten, doch es bleibt mühsam. Dabei haben Sie diesmal noch Glück. Erinnern Sie sich noch an 2009, als in den überfüllten Arbeitsämtern und den vielen Online-Anzeigen zu lesen war, „Arbeitslose bitte nicht bewerben“?6
Vielleicht gehören Sie jedoch gar nicht zu den soeben genannten Menschen. Vielleicht ist Ihre Arbeit gar nicht so schlecht, zumindest, wenn Sie sich in Ihrem Bekanntenkreis umsehen. Die Bezahlung ist nicht gerade die beste, aber die Firma verspricht Ihnen Aufstiegsmöglichkeiten. Sie können Ihre Familie ernähren, und in ein paar Monaten haben Sie sich Ihren zweiwöchigen bezahlten Urlaub verdient. Das einzige Problem dabei ist, dass Ihr Chef Sie gnadenlos schikaniert. Doch Sie halten durch. Könnten Sie wirklich auf diese „feste“ Stelle verzichten? Und Sie sind doch so nah dran. Sie können das Meer förmlich riechen.
Vielleicht leben Sie in Puerto Rico, und Ihr Geschäft wurde vom Wirbelsturm Maria davongeweht. Viele Menschen sind gestorben, noch mehr sind geflüchtet, und eineinhalb Jahre später war jeder Zwölfte auf der Insel noch immer auf Arbeitssuche. Oder vielleicht sind Sie den Bränden in Kalifornien entronnen, haben aber Ihre Arbeit verloren, und die Katastrophenbeihilfe für Ihr abgebranntes Heim ist bald aufgebraucht. Sie und viele andere in von Wirbelstürmen und Überschwemmungen heimgesuchten Gebieten müssen weiterhin die Rechnungen bezahlen, und der Wiederaufbau der lokalen Gemeinschaften muss weitergehen.
Wie viele solche Geschichten können wir erzählen? In den USA – Millionen; weltweit – Hunderte Millionen. Der Verlust der Arbeit und des Lebensunterhalts ist nicht nur eine Folge ungewöhnlicher Umstände oder „höherer Gewalt“. Er geschieht regelmäßig. Der Trommelschlag der Wirtschaft, die in guten Zeiten expandiert und in schlechten schrumpft, führt gemeinsam mit Outsourcing und technischem Wandel kontinuierlich zu Arbeitsverlusten. Zwar entstehen auch neue Beschäftigungsmöglichkeiten, doch selbst auf dem Höhepunkt einer Expansion gibt es für all die Arbeitssuchenden nicht genug davon. Währenddessen arbeiten viele in unsicheren, schlecht bezahlten Jobs. 2018 lag der Verdienst von 6,9 Millionen Arbeitnehmern unterhalb der offiziellen Armutsgrenze.7 Für Millionen Amerikaner reicht ein einziger Job einfach nicht aus.
Was wäre, wenn wir es anders machen und es uns zum wirtschaftlichen Ziel setzen würden, dass kein Arbeitswilliger ohne Arbeit mit (zumindest) angemessener, existenzsichernder Bezahlung bleibt? Welche Folgen hätte das für das Leben der Menschen, für Gemeinden und die Wirtschaft?
Stellen Sie sich vor, Sie gehen wieder zum Arbeitsamt und finden dort neben allen anderen Ressourcen auch eine Liste von lokalen Stellenangeboten im öffentlichen Dienstleistungssektor vor, alle zu einem Grundlohn (angenommen $15/Stunde) mit Krankenversicherung und bezahlbarer Kinderbetreuung. Sie können zwischen Halbtags- und Vollzeitstellen wählen. Wie bisher bietet das Amt weiterhin zusätzliche Leistungen an, unter anderem Erwachsenenbildung, Zertifizierungen, das Nachholen von Schulabschlüssen, familienorientiertes Case Management, Transportzuschüsse sowie Beratungs- und Vermittlungsdienste.
Es handelt sich um lokale Arbeitsmöglichkeiten bei der Stadtverwaltung oder bei gemeinnützigen Organisationen vor Ort (endlich kürzere Arbeitswege), doch finanziert werden sie vom Bund (was Sie nicht kümmern muss, Gehalt ist Gehalt). Der städtische Fischereiverein startet an den örtlichen Schulen ein neues MINT-Programm. Die historische Gesellschaft digitalisiert ihre Karten und Dokumente. Der Green New Deal hat ein umfassendes Programm zur energetischen Sanierung ins Leben gerufen, und Projekte für grüne Energie sind im Überfluss vorhanden. Ein Projekt sucht Arbeitskräfte für die seit Jahren fällige Auswechselung der Wasserrohre, und für die Reinigung des brachliegenden Grundstücks hinter dem Stadtpark wird Personal benötigt. Lokale Gemeindegruppen organisieren Outreach-Programme für Kriegsveteranen, Obdachlose, gefährdete Jugendliche und ehemalige Häftlinge, und in Gemeindekrankenhäusern gibt es Angebote für Ausbildungen und Fortbildungen. Ein Volkstheater bietet ein Nachmittagsprogramm für Schulkinder und Abendkurse für Erwachsene.
Vor Einführung der Jobgarantie gäbe es alle diese Stellen entweder überhaupt nicht, oder die Programme würden unter chronischem Personalmangel leiden. Wenn Ihre Gemeinde von extremen Wetterbedingungen oder Umweltrisiken betroffen war, wird das Programm für die Aufräumarbeiten und den Wiederaufbau sowie für die wiederbelebten Programme zu Hochwasser- und Brandschutz Arbeitskräfte bereitstellen. Und dieses ganze Menü an Optionen wird mit freundlicher Unterstützung durch die Jobgarantie organisiert und zur Verfügung gestellt. Das Programm sorgt in Kooperation mit örtlichen und städtischen Verwaltungen und lokalen gemeinnützigen Vereinen dafür, dass kein Arbeitssuchender jemals abgewiesen wird.
Das Büro der Jobgarantie soll beim Übergang zu besser bezahlter Arbeit im privaten oder öffentlichen Sektor helfen. Die Wirtschaft wächst, und neue Stellenanzeigen versprechen Aufstiegschancen, flexible Arbeitszeiten und Telearbeit. Dank Ihrer zusätzlichen Erfahrung und Schulung erhalten Sie weitere Arbeitsangebote. Sie verabschieden sich von der Jobgarantie und treten die nächste Stelle an.
Oder vielleicht brauchen Sie die Jobgarantie überhaupt nicht. Schließlich sind Sie hochgebildet und qualifiziert und haben eine gänzlich andere Arbeitserfahrung – Ihre Karriereleiter ist vorgezeichnet, Sie haben viele Kontakte und können mit Leichtigkeit von einer Position zur nächsten springen. Sie haben ein gutes Einkommen, versorgen Ihre Familie und werden voraussichtlich nie auf die Jobgarantie angewiesen sein. Doch das Programm hat den Wiederaufbau Ihres Wohnviertels unterstützt, Gemeinschaftsgärten in den Schulen Ihrer Kinder angelegt, neue Programme und Veranstaltungen in der örtlichen Bibliothek organisiert und die nahegelegenen Wanderwege und öffentlichen Strände erneuert.
Kann dieses Szenario Realität werden? Können wir ein Programm einführen, das Menschen bei Bedarf mit einer gesicherten Tätigkeit auffängt und dabei dringend gebrauchte Gemeinwesenarbeit schafft, von der alle selbst in den kleinsten und entlegensten Staaten und Bezirken profitieren? Spätere Kapitel werden zeigen, dass die Antwort darauf Ja ist, und dass wir für die Verwirklichung bereits beträchtliches Vorwissen haben. Ein solches Programm wäre von riesigem Nutzen – für Wirtschaft, Gesellschaft und Umwelt.
Vielleicht fühlen Sie sich von diesen Geschichten angesprochen, und Sie erkennen, welche Auswirkung eine staatliche Beschäftigungsoption haben könnte. Mit der Jobgarantie könnten Sie vor Ort an einem gemeinnützigen Projekt mitwirken, das Ihnen am Herzen liegt. Sie könnten ausbeuterische Arbeitsangebote ablehnen, wenn Ihnen stattdessen ein existenzsichernder Lohn bezahlt würde. Sie bekämen ein berufliches Sprungbrett, von dem aus Sie andere Gelegenheiten wahrnehmen könnten, und könnten sich die Frustration ungezählter Absagen ersparen, weil den Arbeitgebern Ihr dürftiger Lebenslauf vielleicht nicht gefällt. Sie müssten nicht mühsam Essenszuschüsse und andere staatliche Subventionen beantragen, weil Sie mit Ihrem Lohn genug verdienen. Wir kratzen hier lediglich an der Oberfläche dessen, was eine Jobgarantie im Leben der Millionen Menschen hinter den Zahlen zu Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung bewirken könnte.
Doch vielleicht fühlen Sie sich von diesen Geschichten nicht angesprochen. Es klingt einfach zu gut, um wahr zu sein. Gibt es da nicht so etwas wie die „natürliche Arbeitslosenquote“? Was kann die Regierung dagegen schon unternehmen? Kann sie überhaupt Jobs schaffen, und würde sie bei dem Versuch nicht die Marktanreize verzerren? Vielleicht haben Sie Sorge, dass die Menschen weniger hart arbeiten würden, wenn sie keine Arbeitslosigkeit fürchten müssten. Oder dass das Programm die Produktivität beeinträchti...

Table of contents

  1. Cover
  2. Widmung
  3. Titel
  4. Impressum
  5. Inhalt
  6. Danksagung
  7. Vorwort
  8. Einleitung
  9. 1 Eine staatliche Option für gute Jobs
  10. 2 Ein stolzer Preis für einen kaputten Status Quo
  11. 3 Die Jobgarantie: Neuer Gesellschaftsvertrag und makroökonomisches Modell
  12. 4 Wie wollt ihr das denn bezahlen?
  13. 5 Was, wo und wie: Jobs, Planung und Umsetzung
  14. 6 Die Jobgarantie, der Green New Deal und danach
  15. Anmerkungen