II. Literarische Einflüsse
II. 1. Friedrich Schiller
II. 1. 1. Die Vereinigung von Himmel und Hölle
„Ich habe Schiller auswendig gelernt, sprach mit seinen Worten, fieberte mit ihm und ich glaube, daß das Schicksal mir nichts besseres in meinem Leben bescherte als die Bekanntschaft mit dem gewaltigen Dichter gerade in diesem Lebensabschnitt … Schillers Name ist mir vertraut geworden als ein Zauberklang, der so viele Träume auslöst ...“21
Nicht nur, dass er Schiller im Original liest und sich in seinem Werk auf ihn bezieht. Kein Autor, zumindest kein russischer, verkörpert den Sturm und Drang und den dramatischen Dialog mehr für Dostojewski, der sich seit seinem 16. Lebensjahr nachhaltig mit Schillers Dramen beschäftigt und plant, sie in einer gemeinsamen Literaturzeitschrift mit seinem Bruder Michail zu übersetzen. Besonders der Aufsatz „Über naive und sentimentalische Dichtung“ inspiriert ihn nachhaltig: „Wir waren schon lange vor der Pariser Revolution von 1848 vom Zauber dieser Ideen gefangengenommen.“ Die in Dostojewskis Briefen geäußerte Einsicht Schillers lautet, dass der Mensch ein großes Geheimnis bleibt, dessen Seele sowohl im Himmel als auch in der Hölle beheimatet ist. „Die Atmosphäre der menschlichen Seele besteht aus seiner Vereinigung des Himmels mit der Erde.“ Willensfreiheit spielt sowohl in Schillers Dramen als auch den Romanen des Russen eine bedeutsame Rolle, gleichermaßen die Historisierung des Subjekts.
„Die Worte des Glaubens“ bekunden die drei großen Wahrheiten seiner Epoche: Glaube, Tugend, Freiheit mit ihrer starken Antithetik: wird der Mensch auch in Ketten geboren, so ist doch sein Herz frei geschaffen. Er ordnet diese Worte drei Trieben zu. In dem programmatischen Gedicht Schillers fließen die drei regulativen Ideen Kants, die Autonomie der Vernunft und die unverletzbare Würde zusammen. Die Zeilen „Und ein Gott ist, ein heiliger Wille lebt, / Wie auch der menschliche wanke“22 sind elementar wichtig für Dostojewski, der die Empfindsamkeit des Schönen an die moralische Erhabenheit knüpft. Schiller wird zum Führer seiner Gedanken durch die „Hülle der Seele“, den Verstand. Im Gegensatz zu den Rationalisten erkennt er die dominante Macht des Unbewussten und Irrationalen an. Natur, Seele, Gott als Formen der Liebe und Anmut zu erkennen oder zu verstehen ist nur mit dem Instinkte - Schillers „Herz“ intuitiv möglich. Dostojewski schreibt, man dürfe die Philosophie nicht als mathematische Aufgabe betrachten oder die Natur als Gleichnis in Zahlen; er beruft sich auf Schillers sentimentale Empfindungslyrik: „Dem Menschen ist nimmer sein Wert geraubt, / So lang' er noch an die drei Worte glaubt.“ So bettet Dostojewski in „Die Brüder Karamasow“ sieben Schillerzitate ein. Laut Literaturwissenschaftler Gerigk entwerfen beide den Menschen als „psychosomatische Einheit von Körper, Seele und Geist, mit dem Gewissen als Motor.“23 Hegels Gedanke von der Wechselwirkung zwischen Individuum und Geschichte wirkt über Schiller auch auf den Romancier.24
II. 1. 2. Das Erhabene, Gute und Schöne
Mit „Briefe über die Kunst“ kommentiert Dostojewski 1841 Schillers „Ästhetische Briefe“, die Kants „Kritik der Urteilskraft“ reflektieren. Primär geht es um die Trinität vom Schönen, Guten und Wahren, die in der „Moral der Pflicht zur Liebe“ kulminiert. Das Kantische Motiv der Erhabenheit, in dem laut Schiller „Pflicht und Neigung brüderlich Hand in Hand gehen“, wirkt in „Die Räuber“ (1781) ebenso wie in seinem Traktat „Über das Erhabene“ (1790). Dessen fundamentaler Eingangssatz lautet: „Kein Mensch muß müssen.“ Der Mensch soll das Gute aus freiem Entschluss wollen, damit er nicht „pflichtgemäß“, sondern aus „Pflichtgefühl“ heraus handle. Auch Dostojewski will das Gute noch in der bösen Tat erkennen und fasst daher Puschkins „Eugen Onegin“ als Variante von Schillers Helden „Don Carlos“ auf, den er 1842 ebenso wie seine Aufsätze übersetzt. „Das Gute beschäftigt unsere Vernunft, das Wahre und Vollkommene den Verstand; das Schöne den Verstand mit der Einbildungskraft, das Rührende und Erhabene die Vernunft mit der Einbildungskraft.“25
Das Erhabene und das Lächerliche bei Schiller entsprechen der Demut und der Demütigung bei Dostojewski. Stefan Zweig äußert in seiner Monografie, „Gottesknecht“ Dostojewski suche in Schillers Pathos der Erhabenheit „die ungeheure seelische Ekstase aus den schmutzigsten Winkeln der Wirklichkeit … In Schnapszimmern verkünden die trunkenen Menschen die Wiederkehr des Dritten Reiches.“26 Das Schöne dient Schiller stets als sinnlicher Ausdruck der geistigen Herrlichkeit göttlicher Schöpfung und seelischer Reinheit. Er beruft sich auf Platon, für den das Schöne stets Zeugung bedeutet. Ferdinand äußert in „Kabale und Liebe“ (1784): „Dieses schöne Werk des himmlischen Bildners – wer kann das glauben?“
Schillers Mörder zeigen sich ergriffen vom Anblick innerer (charakterlicher) oder äußerer (formaler) Schönheit. Seine Helden sind Zeugnisse heroischer Selbstüberwindung. Das Traktat „Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet“ (1784) wirkt daher als Manifest für die Katharsis von Verbrechern. Das Fantastische bei dem Seelenforscher Schiller ist das Unbewusste und Wunderbare, das sich in der Schönheit offenbart. Immer wieder integriert Dostojewski Dialoge über bildendende, musikalische oder poetische Kunstwerke in seinen Romanen, wodurch er Ästhetik, die Empfindung und Empfindsamkeit für das Schöne für die Entwicklung der conditio humana festlegt: „Dass Dostojewski vor allem die Schillersche Bestimmung des Schönen als notwendige Bedingung des Humanen und sein ästhetisches Ideal mit der klassischen Trias vom Wahren, Guten und Schönen korrespondiert.“27
So bezieht sich Dostojewski in „Verbrechen und Strafe“ auf Schillers „Die Räuber“ (1781), der „das Lumpenpack“ und damit die Ästhetik des Gemeinen in seinem Drama thematisiert. Er verleiht dem Mörder, Engel und Teufel zugleich,28 eine moralische Stimme und schenkt den Aussätzigen Gehör, womit er die gesellschaftlichen Bedingungen auf die Anklagebank setzt. Dostojewski folgt Schiller in seiner bürgerlichen Emanzipationsbewegung und weitet sie auf das Stadtproletariat aus.
Beide Autoren entwickeln dabei eine religiös-ethische Utopie mit Kritik an der rationalen Aufklärung, die in der positiven Konnotation des Sentimentalen und dem Naiven deutlich wird. Schiller integriert Kriminalberichte wie in „Der Verbrecher aus verlorener Ehre – eine wahre Geschichte“ (1786), in der eine körperliche Deformierung (Krankheit) den Ausgang für die Infamie (Beleidigung, Demütigung) bildet, worauf der Ausgestoßene gesetzesbrüchig wird. Das Modell des Verbrechers wider Willen findet in der Gestalt Raskolnikows und Ippolits seine Entsprechung. Die Mörder verspüren aufgrund ihres sentimentalen Gemüts trotz ihrer Verbrechen menschliche Regungen, Selbstwertgefühl und Ehrbewusstsein und versuchen, in die Gesellschaft zurückzukehren. Schiller prangert soziale Missstände an, seine Poesie ist nicht nur rührselig, sondern kämpferisch und solidarisch, sie ist um vieles politischer als die Goethes.
In „Das Siegesfest“ kolportiert der Ehebruch einer verführten Gattin die Fragilität der Gesellschaft: „Das Weib ist falscher Art, und die Arge liebt das Neue“. Dostojewski variiert das Motiv des entdeckten Verrats in „Der ewige Gatte“ (1870): Der Witwer erfährt aus den Briefen der Verschiedenen, dass seine tugendhafte Frau ihn mit dem Lebemann Weltschaninow betrog. Beide betonen dabei die Fähigkeit zu verzeihen und fordern nicht die Ausmerzung des Bösen: „Laßt das Unkraut zusammen mit dem guten Korn bis zum Tag der Ernte wachsen“29.
Schiller bezeichnet das Laster als nützliches Unkraut der Tugend und die Sünde als Heilkraut der Moral. Beide Künstler verbinden zudem Armut, politisches Exil, schwere Krankheit und die Vorliebe für den süßfauligen Geruch verwesender Äpfel. Schillers antiaristokratische „reine Seelenschönheit“ entspricht Myschkins tadellosem Charakter. Swidrigailow bezeichnet Raskolnikow in Anlehnung an Karl Moor als „schönen Menschen“. Dostojewskis Werk amalgamiert die hellenistische Version vom zyklisch wiederkehrenden goldenen Zeitalter und die christliche Verheißung vom ewigen Paradies, wie sie Schiller im ethnographischen Synkretismus vom „schönen Menschen“ thematisiert. Die Vielschichtigkeit seiner ineinander verwobenen Geschichten erinnert dabei an Matrjoschka-Puppen.
So erfährt Schillers Großinquisitor aus „Don Carlos“ in „Die Brüder Karamasow“ seine Wiederauferstehung. In beiden Werken wird die Theodizee hinterfragt; es geht um die Prioritätsverschiebung innerhalb der Trinität von Freiheit zu Brot, Liebe zu Gehorsam und Glaube zu Wunder. Auch Schillers Drama vollzieht eine Ablösung vom traditionellen Patriarchat und einer ödipalen Struktur. Beide Autoren pflegen analoge Weiblichkeitskonzeption mit einem anmutigen Frauenbild, die naiven Protagonistinnen exkludiert, zugleich das Ringen zwischen Vergeistigung und Sinnlichkeit, Pflicht und Neigung, akzentuiert. Beide Autoren verzichten um keinen Preis auf Leidenschaft, da sie für Menschlichkeit und Freiheit unentbehrlich bleibt.
Die Religiosität Schillers ist nicht nur durch das Zitat aus seinem späten Drama „Die Braut von Messina oder die feindlichen Brüder“ verbürgt, in dem es heißt: Unter der Hülle aller Religionen liegt das Göttliche“. Sämtliche Themen wie Rivalität zwischen Tugend und Sinnlichkeit („Der Not gehorchend, nicht dem eigenen Triebe“), Verstrickung in Schuld, Prophezeiung und Erfüllung oder Einfluss von Traum und Unbewusstem auf Handlungen – die Ohnmacht des Subjekts – kommen zum Tragen. Zweifellos liefert das Drama eine Blaupause für Dostojewskis Ausnahmemenschen in Ausnahmesituationen und den heroischen Konflikt zwischen Verzicht und Gefühlsregung. Der persönliche Glaube, nicht die Konfession, wird entscheidend. Auch wenn sich Dostojewski später unnachgiebig gegen andere Sekten als das orthodoxe Christentum ausspricht, so bleibt sein Engagement für die Menschlichkeit und gelebte Barmherzigkeit zentral.
Eine dritte Gemeinsamkeit bildet die negativ gezeichnete Aristokratie mit dem Schwerpunkt der ökonomischen Ungerechtigkeit, ein vierter die Herabwürdigung der Frau zu einem geschlechtlichen Besitztum und Attribut männlichen Jagderfolgs. Eine biografische Marginalie liefert der Umstand, dass Schiller 45 jährig, seine Mutter 37 jährig der Tuberkulose erlagen.
II. 2. E. T. A. Hoffmann
II. 2. 1. Doppelgänger - Motiv und das Unbewusste
Wie aus den Tagebüchern hervorgeht, plant Dostojewski neben Schiller aus das Gesamtwerk. Dieser ist auch aufgrund des Obskuren in Russland ohnehin der weithin populärste und einflussreichste Romantiker.30 Allerding deutet der den Einfluss des Dämonischen und Fantastischen weniger symbolisch als psychologisch und weniger heilsam als krankhaft. Die Charaktere Dostojewski sind keine Typen oder Funktionsträger. Das signifikante Motiv des Doppelgängers taucht auch bei Puschkin, Gogol und Lermontow häufig auf. Dostojewski interessiert besonders, wie es dem Erzähler gelingt, einem gesunden ein krankes „Ich“ gegenüberzustellen und auf diese Weise den bewussten Verstand mit der dämonischen Triebkraft des Unbewussten zu kontrastieren. Er schildert Bruder Michail die Wirkung von „Der Magnetiseur“ (1813) auf ihn: „Es ist grauenvoll einen Menschen zu sehen, der die Macht über das Unvorstellbare hat, der nicht weiß, was er tun soll, der mit einem Spielzeug spielt, das Gott heißt.“31
Dostojewski teilt Hoffmanns Vorliebe für das Unerklärliche und Bedrohliche, die Grenzüberschreitung des Geträumten, Eingebildeten oder Fantastischen mit dem Realen. Bewusstsein, Un- und Unterbewusstes werden über schwarze Magie und traumatische Erlebnisse verknüpft. So vermag der Magnetisieur Alban, zugleich Doppelgänger eines dänischen Majors, nur zu heilen, weil er um die Geheimnisse seiner Patienten weiß. Hoffmann zentriert nicht nur hier häufig unbewusstes Wissen, das im somnambulen Zustand zum Vorschein kommt. Sein Verdikt „mit höllischen Künsten gemordet“ zu haben, entspricht laut Dostojewski „einer überreizt arbeitenden Phantasie“ in „Das Majorat“ (1817), die der Russe als „die innere Stimme“ und nicht einem physischen Doppelgänger deutet. Aufgrund des somnambulen Zustandes eignen sich Traumatisierung...