Sprachwissenschaft
Um zu verstehen, wie Sie Ihrem Kind eine helfende Hand beim Thema Sprache sein können, sollten Sie sich als Erstes mit der Sprachwissenschaft vertraut machen. Die Sprachwissenschaft beschäftigt sich mit dem Sprachwandel, der Sprachentstehung, der Sprachentwicklung und dem Spracherwerb. Hier sollen vor allem Spracherwerb und Sprachentwicklung betrachtet werden, da deren Verständnis eine wichtige Rolle für die Sprachförderung spielen.
Sie können einen Prozess erst unterstützen, wenn Sie im Groben wissen, was passiert. Erst dann kann festgestellt werden, was genau gerade passiert und wie Sie dabei helfen können.
Auf den praktischen Teil (vor allem Spiele zur Sprachförderung) soll dann im Anschluss im nächsten Kapitel eingegangen werden.
Seit Ende des 19. Jahrhunderts hat sich die Spracherwerbsforschung als eigene Wissenschaft etabliert. In diesem Rahmen wurde erstmals die Sprache als eigenständiges System betrachtet. Sprache wurde erstmalig nicht bloß als Ergebnis des Denkens betrachtet, sondern davon losgelöst. Auch neu war, dass auch Dialekte und Kindersprache in den Fokus der Wissenschaft rückten, die vor der Etablierung der Spracherwerbsforschung nicht als vollwertige Sprachen gesehen wurden.
Großen Bekanntheitsgrad erlangten die Tagebuchstudien von Clara und William Stern, die Anfang des 20. Jahrhunderts veröffentlicht wurden. Sie dokumentierten die sprachliche Entwicklung ihrer Kinder, um zu beweisen, dass die Kindersprache keine minderwertige und unvollständige Version der Erwachsenensprache ist, sondern ein in sich geschlossenes Sprachsystem bildet und es trotz verschiedener Entwicklungsphasen mit typischen Eigenregeln und Abweichungen von der Erwachsenensprache eine eigene Kindersprache gibt.
Dieser Ansatz des Dokumentierens der sprachlichen Entwicklung der eigenen Kinder, um bestimmte Theorien zu unterstützen, wurde im Aufkommen der Spracherwerbsforschung von vielen Wissenschaftlern genutzt, sodass es heute viele verschiedene Tagebuchstudien gibt.
Dabei war von Anfang an sehr umstritten, ob der Spracherwerb in erster Linie durch Umwelteinflüsse oder durch genetische Veranlagung beeinflusst wird. Schnell bildeten sich in der Spracherwerbsforschung dementsprechend drei Strömungen heraus: Der Voluntarismus bezeichnet die Annahme, dass der Spracherwerb vor allem durch Umwelteinflüsse geschieht. Der Intellektualismus hingegen schreibt den Spracherwerb der genetischen Veranlagung zu, während die Konvergenz den Spracherwerb als Zusammenspiel von den Faktoren Umwelt und Veranlagung sieht.
VOLUNTARISMUS
Die Wissenschaftler, die den Spracherwerb als durch Umwelteinflüsse bestimmt sehen, beschreiben den Prozess des Spracherwerbs vereinfacht gesehen wie folgt: Kinder nehmen sprachliche Reize zum
Beispiel ausgehend von ihren Eltern auf. Die Eltern beschreiben den Kindern Situationen oder benennen Dinge, sie kommunizieren mit ihnen. Dies erzeugt eine sprachliche Reaktion bei den Kindern. Sie imitieren ihre Eltern. Dabei gehen Kinder überraschend systematisch vor und wiederholen nicht nur das, was sie hören, sondern verbinden Worte untereinander oder auch Worte mit Dingen. Dies geschieht alles unterbewusst.
Die Strömung des Voluntarismus sah sich allerdings schnell Einwänden gegenüber: So wurde zum Beispiel in genannten Tagebuchstudien schnell erkannt, dass Kinder nicht nur das Gehörte nachmachen, sondern unterbewusst Regeln aus dem Gehörten ableiten und diese auf für sie Neues anwenden. So passiert es auch schnell, dass Kinder sprachlich an sich korrekte Regeln auf sprachliche Ausnahmen anwenden, sodass Fehler entstehen.
Beispiel: Kinder hören ihren Eltern beim Erzählen zu und erkennen unterbewusst schnell, dass die Vergangenheitsform des Präteritums oft mit -te gebildet wird:
Ich sage etwas. → Ich sagte etwas.
So kommt es schnell dazu, dass Kinder diese Regel auch auf Ausnahmen anwenden und so etwas entsteht:
Ich gehe weg. → Ich gehte weg.
Dies fiel vor allem auch Jean Berko um 1958 auf, der feststellte, warum Kindern diese Fehler passieren, die so typisch für Kindersprache zu sein schienen.
Ein weiterer Einwand gegen den Voluntarismus war, dass Kinder ihre Muttersprache lernen, ohne jemals alles von dieser Sprache gehört zu haben. Wenn sie nur das aufnehmen würden, was sie hören, würde ihnen nur ein kleiner und auch sehr begrenzter Teil der Sprache zum Nutzen zur Verfügung stehen. Zudem würde dieser Ausschnitt auch noch Fehler enthalten, die die Eltern unbewusst oder versehentlich gegenüber ihren Kindern benutzen.
Noam Chomsky stellte also in den 1960er-Jahren die Theorie auf, dass der Spracherwerb gerade kein rein passives Nachbilden des Gehörten ist, sondern vielmehr ein kreativer Ablauf: Die Kinder stellen unterbewusst Annahmen über die Sprache auf, die Regeln dieser Sprache sein könnten. Diese überprüfen sie wiederum an dem, was sie an Sprache hören. Diese so aufgestellten Regeln sind dann aber oft zu generell, wie das Beispiel oben zeigt.
Tipp: Für Eltern gibt es grundsätzlich zwei Möglichkeiten, auf solche „Über-Generalisierungen“ zu reagieren:
- Verwendung korrekter Sätze: Das zeigt dem Kind, was sprachlich möglich ist.
- Korrigieren der Fehler des Kindes: Das zeigt dem Kind, was sprachlich nicht möglich ist.
Aber Achtung: Korrekturen können nicht immer hilfreich für ein Kind sein! Sie müssen kurz, aber präzise sein und am besten mit der Verwendung der korrekten Version verknüpft werden. So hilft der Satz „Das sagt man aber so nicht!“ Kindern nicht weiter. Sie wissen nicht, ob sie ein Wort falsch ausgesprochen haben, die falsche Satzstellung verwendet haben oder einfach nur unhöflich waren.
Und denken Sie immer daran: Ein sprachlicher Fehler Ihres Kindes wie er oben beschrieben wurde, ist kein schlechtes Zeichen! Er bedeutet, dass Ihr Kind eine Regel erkannt hat und diese auf neue Worte anwenden will. Somit macht Ihr Kind einen wichtigen Schritt im Spracherwerb, wenn es solche Fehler macht.
INTELLEKTUALISMUS
Chomsky geht aufgrund dieser Argumente gegen den Voluntarismus vom Intellektualismus, dem Spracherwerb durch angeborene Veranlagung, aus. Er betont, dass ein Kind für den Spracherwerb gewisse geistige Fähigkeiten benötigt, um die Muster in der Sprache zu erkennen und sich an diese zu erinnern sowie mit Erinnerungen an die Sprache zu vergleichen. Da Sprache einen hohen sozialen Stellenwert hat, seien ebenso soziale Fähigkeiten notwendig, um die Intention der Sprache anderer zu verstehen (Was will die Person sagen? Was ist ihr Ziel/ihr Wunsch damit?).
Heutzutage ist unstreitig, dass es genetische Veranlagungen zum Spracherwerb gibt, es ist aber nicht abschließend geklärt, welche genau dies sind.
Chomsky meint, dass zu den genannten Veranlagungen noch weitere benötigt werden: Er geht davon aus, dass es Veranlagungen gibt, die ganz explizit auf den Erwerb von Sprachen gerichtet sind und die nur Menschen haben. Andere Wissenschaftler bezeichnen diese Anlage als „Sprachinstinkt“.
Chomsky beschäftigte daneben vor allem die Frage, wie ein Kind bei doch sehr begrenzten sprachlichen Reizen, die es während der Zeit des Spracherwerbs aufnimmt, so viel mehr sp...