Mensch – Maschinen – Musik
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Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk

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Mensch – Maschinen – Musik

Das Gesamtkunstwerk Kraftwerk

About this book

Die erweiterte Neuausgabe des großen Kompendiums. Eine umfassende Bestandsaufnahme nach fünfzig Jahren Mensch-Maschinen-Musik: Die Band Kraftwerk zwischen Vergangenheit und Zukunft, zwischen Düsseldorfer Bahnhofsviertel und MoMA, New York. Aktualisiert und mit einem neuen Vorwort von DJ Hell.Neue, kenntnisreiche und kritische Perspektiven auf das künstlerische Projekt Kraftwerk, das die Band aus dem Kling-Klang-Studio in die bedeutendsten Museen der Welt führte, prägen die Beiträge der insgesamt 22 Autoren dieses mit raren Interviews und Zeitschriftenartikeln angereicherten Essaybandes. Sie beleuchten entlang der Diskografie die zentralen Themen der jeweiligen Schaffensphasen und stilbildende Alben wie "Autobahn" (1974), "Die Mensch-Maschine" (1978) und "Computerwelt" (1981) in ihrem zeitgeschichtlichen Kontext. Anhand werkübergreifender Aspekte verorten weitere Texte Kraftwerk als multimediales Phänomen im kulturgeschichtlichen Hallraum von Pop Art und Konstruktivismus, technischer Innovation und künstlerischer Avantgarde. Ein Gespräch zwischen Alexander Kluge und Max Dax, ein Interview von Olaf Zimmermann mit Ralf Hütter und historische Features über Kraftwerk erweitern den Band zu einer noch größeren Umschau.In diesem Buch zu lesen: Ulrich Adelt, Max Dax, Heinrich Deisl, Alexander Harden, DJ Hell, Ralf Hütter, Marcus S. Kleiner, Alexander Kluge, Pavel Kracik, Alke Lorenzen, Didi Neidhart, Sean Nye, Christopher Petit, Melanie Schiller, Ingeborg Schober, Eckhard Schumacher, Uwe Schütte, Enno Stahl, Jost Uhrmacher, Johannes Ullmaier, Axel Winne, Olaf Zimmermann.

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Information

Edition
1
Subtopic
Music
KRAFTWERKSTUDIEN 1: DISKOGRAFIE

»VOM HIMMEL HOCH«

Kraftwerks Frühwerk im Kontext des Krautrock

Ulrich Adelt

Die Geschichte von Kraftwerks Frühwerk ist die Geschichte eines gezielten Vergessens. Spätestens seit Ende der 1970er Jahre verzichten Ralf Hütter und Florian Schneider auf jede Erwähnung ihrer ersten vier LPs, die sie zwischen 1969 und 1973 zunächst unter dem Bandnamen Organisation und dann als Kraftwerk aufgenommen hatten. Seit den 1980er Jahren wird weder das Repertoire der Anfangszeit bei Liveauftritten gespielt, noch wurden die Aufnahmen offiziell wiederveröffentlicht.1 Die Ausgrenzung dieser LPs aus der Retrospektive Der Katalog gibt der Exorzierung des Frühwerks einen offiziellen Status, der dem Mythos zuarbeitet, die Geschichte Kraftwerks würde quasi im November 1974 mit Autobahn als einer creatio ex nihilo beginnen.
Gerade deshalb ist es faszinierend, sich die frühen Einspielungen von Kraftwerk anzuhören. Einerseits zeigen sie, wie die Gruppe langsam ihren Sound und ihre Konzeption als Gesamtkunstwerk entwickelte, andererseits stehen die ersten vier Alben noch ganz im Zeichen des Krautrock, und mithin einer retrospektiv als höchst bedeutend erkannten Epoche deutscher Musik, die eine ungeahnte Wirkung auf die Entwicklung der internationalen Pop-Musik entfalten sollte. Kraftwerk wollten sich davon freilich abgrenzen und ihre Wurzeln im Krautrock verleugnen.
Betrachtet man ihr Frühwerk im Kontext des Krautrock, so ergeben sich erhebliche Parallelen zu anderen deutschen Bands wie beispielsweise Tangerine Dream, Can, Neu!, Ash Ra Tempel, Faust, Popol Vuh und Amon Düül. Wie für diese Gruppen ging es auch für Kraftwerk zunächst um das Entwickeln eines neuen Nationalbewusstseins nach dem Nationalsozialismus und der unmittelbaren Nachkriegszeit. Dieses Bewusstsein, das sich sowohl von der Nazi-Vergangenheit als auch vom anglo-amerikanischen »Imperialismus« abzugrenzen suchte, manifestierte sich in alternativen Lebensmodellen wie Kommunen und New Age (die sogenannte kosmische Musik), aber auch in der Verschmelzung von Mensch und Maschine durch den Synthesizer. Anders als viele Krautrock-Gruppen, deren Blütezeit zwischen 1968 und 1974 lag, erschienen die wichtigsten Alben von Kraftwerk erst in den darauffolgenden Jahren. Sie markierten zudem eine Rückkehr zu »typisch« deutschen Klang- und Bilderwelten und bereiteten insofern auch die Neue Deutsche Welle als nächste entscheidende musikalische Bewegung nach dem Krautrock vor.

KRAUTROCK

Der Begriff »Krautrock« ist in seiner Bestimmung mitunter etwas vage. Für unsere Zwecke bezeichnet er die Musik einer Reihe von westdeutschen Rockgruppen, die ab 1968 afro- und anglo-amerikanische Einflüsse mit der elektronischen Musik moderner europäischer Komponisten zu verschmelzen begannen. Viele Krautrock-Bands pflegten Beziehungen zur Studentenbewegung in der Bundesrepublik und verstanden ihr musikalisches Experimentieren als politisch motiviert. Krautrock war ein primär westdeutsches Phänomen und hatte wenig Gemeinsamkeiten mit dem »Ostrock« in der DDR, der deutsche Texte mit traditionellen Songstrukturen verband. In den späten 1970er Jahren wurde der Krautrock vom deutschen Punk und der Neuen Deutschen Welle verdrängt, hat sich aber als starker Einfluss auf die Musikszenen in Großbritannien und den USA erwiesen.
Die Ursprünge des Krautrock sind in der Zeit unmittelbar nach dem Zweiten Weltkrieg zu suchen. Nach den Bombenangriffen der Alliierten und der bedingungslosen Kapitulation im Mai 1945 sollte die Bundesrepublik »entnazifiziert« und »wieder aufgebaut« werden. Besonders erfolgreich erwies sich dabei die Kolonialisierung der BRD durch die Populärkultur der USA. Die Jugendbewegung der Halbstarken orientierte sich am amerikanischen Rock ’n’ Roll und an Hollywood-Filmen mit Marlon Brando und James Dean. Statt sich kritisch mit der Vergangenheit auseinanderzusetzen, konzentrierten sich viele Westdeutsche auf das Wirtschaftswunder und den ökonomischen Wiederaufbau des Landes. Während ehemalige Nazis weiterhin mächtige Positionen ausfüllten, unterstützten die USA den Wirtschaftsaufschwung mit dem Marshall-Plan. Die Amerikanisierung Deutschlands stieß jedoch teilweise auf Widerstand, der sich in den späten 1960er Jahren vor allem in Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg äußerte.
Auch wenn die Studentenbewegung in der Bundesrepublik viele Parallelen zu den Protesten in den USA, Frankreich und der Tschechoslowakei aufwies, stellte die Nazi-Vergangenheit eine besondere Herausforderung für die jungen Deutschen dar, welche sich im problematischen Konzept der »Vergangenheitsbewältigung« ausdrückte. Die »Kinder der Täter« begannen die schwierige Auseinandersetzung mit der Kollektivschuld einer verunsicherten Nation.2 Die sogenannte 68er-Bewegung setzte sich aus verschiedenen Organisationen zusammen und hatte unterschiedliche Schwerpunkte, unter anderem die Reform des Hochschulwesens, dezidierte Kritik an den Massenmedien (insbesondere der Springer-Presse) und vehemente Proteste gegen die nukleare Aufrüstung. Die Außerparlamentarische Opposition (APO) und andere Gruppen wie der Sozialistische Deutsche Studentenbund (SDS) wandten sich gegen die Notstandsgesetze der Großen Koalition aus CDU und SPD, die Einschränkungen der persönlichen Freiheit legitimieren sollten, sowie gegen die vom Staat ausgehende Gewalt, die zum gewaltsamen Tod des Studenten Benno Ohnesorg geführt hatte. Als gewaltsame Abspaltung von APO und SDS entstand später auch die Rote-Armee-Fraktion (RAF), die als linksterroristische Vereinigung viele Jahre zum Staatsfeind Nummer eins avancierte.
Die stark politische Ausrichtung der westdeutschen Gegenkultur wich, ähnlich wie in den USA, recht schnell einem Interesse an bewusstseinserweiternden Drogen und alternativen Modellen der Sexualität; zwei Bereiche, die zudem einfach zu vermarkten waren. Wie Jakob Tanner bemerkt, »waren diese subkulturellen Impulse erstaunlich leicht in jene universelle Kommerzialisierungsspirale zu integrieren, welche die Konsumgesellschaft vertiefte und die Globalisierung im Zeichen eines amerikanischen Traums vorantrieb«3. Inzwischen hatte sich jedoch auch eine spezifisch westdeutsche Gegenkultur herausgebildet, die sich vornehmlich in populärer Musik manifestierte.
Als erstes Großereignis des Krautrock gelten die Essener Songtage, die vom 25. bis 29. September 1968 in der Ruhr-Metropole stattfanden. Neben internationalen Stars wie Frank Zappa und Alexis Korner traten die deutschen Gruppen Amon Düül, Tangerine Dream und Guru Guru auf. Organisiert wurde das Festival von dem exzentrischen Musikjournalisten Rolf-Ulrich Kaiser, der später die Krautrock-Labels Ohr und Kosmische Kuriere gründete. In der Dekade nach den Essener Songtagen wurden sehr unterschiedliche deutsche Bands gegründet, die heute als exemplarische Krautrock-Gruppen gelten.
Viele davon wandten sich bewusst von den Bluesstrukturen der anglo- und afro-amerikanischen Gruppen ab und veröffentlichten ihre Aufnahmen auf kleinen Labels wie Pilz und Brain. Weitere Gemeinsamkeiten waren das Experimentieren mit frühen Synthesizern, das Zusammenleben in Kommunen und der Konsum von Drogen wie Haschisch und LSD. Krautrock entstand in mehreren nicht vernetzten lokalen Szenen wie Düsseldorf (Kraftwerk, Neu!, Wolfgang Riechmann), Köln (Can), Hamburg (Faust), München (Amon Düül, Popol Vuh) und Westberlin (Tangerine Dream, Ash Ra Tempel).
»Krautrock« wurde als Begriff von der deutschen Musikpresse zunächst gar nicht verwendet, um die neuen deutschen Gruppen zu bezeichnen. Bis 1973 sprachen etwa Musikexpress und Sounds vornehmlich von »Deutschrock«. Die englische Musikpresse brachte »Krautrock« in den frühen 1970er Jahren neben anderen Begriffen wie »Teutonic rock« und »Götterdämmer-Rock« ins Spiel. In Großbritannien war Kraut als abfälliger Begriff für Deutsche bekannt, abgeleitet vom Wort »Sauerkraut«. Trotz der negativen Konnotationen galt Krautrock in England bald schon als ein Gütesiegel für die kosmische Musik made in Germany. Viele der deutschen Musiker distanzierten sich jedoch von dem Begriff und sahen sich nicht als Teil einer Bewegung, auch wenn Faust 1973 einen Song mit dem Titel »Krautrock« aufnahmen und Brain 1974 ein Dreifach-Album mit westdeutschen Bands unter dem Titel Kraut-Rock herausbrachte.
Winfrid Trenkler schrieb dazu in den Liner Notes:
So macht dieser Mammut-Sampler schon nach wenigen Takten klar, daß sich der Rock aus der Bundesrepublik vor dem anglo-amerikanischen Rock längst nicht mehr zu ducken braucht. Vor allem dann nicht, wenn die deutschen Musiker gar nicht erst versuchen, wie ihre ruhmhaften Kollegen aus den USA und England zu klingen.4
Spätestens seit den 1990er Jahren wird Krautrock erfolgreich international vermarktet. So erschien etwa im April 1997 eine Ausgabe des britischen Magazins Mojo mit der fast dreißigseitigen Titelstory »Kraftwerk, Can & the return of the Krautrockers«.
Den Krautrock musikalisch einzugrenzen erweist sich, wie gesagt, als schwierige Angelegenheit. Seine ›deutschen‹ Bestandteile gehen ja weniger aus einer Rückbesinnung auf Komponisten der klassischen deutschen Tradition und schon gar nicht aus einer Bezugnahme auf Volksmusik oder Schlager hervor. Krautrock-Gruppen wandten sich außerdem vom deutschen Rock ’n’ Roll eines Peter Kraus oder deutschen Beat-Gruppen wie den Beatles-Imitatoren Rattles und Lords ab. Musikalische Einflüsse waren hingegen moderne Komponisten wie Karlheinz Stockhausen (der schon früh mit elektronischen Klängen experimentierte u...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Inhalt
  4. Vorwort: Auf der A8 in Richtung Zukunft
  5. KRAFTWERKSTUDIEN 1: DISKOGRAFIE
  6. KRAFTWERKSTUDIEN 2: DISKURSE
  7. Nachbemerkung und Danksagung
  8. Über die Beiträger
  9. Impressum