Wahrnehmung und Gedächtnis
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Wahrnehmung und Gedächtnis

Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie

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Wahrnehmung und Gedächtnis

Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie

About this book

Die Bereiche Wahrnehmung und Gedächtnis gehören zu den zentralen Erkenntnisbereichen von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie. Sowohl für klinische als auch nicht-klinische Anwendungsbereiche der Psychoanalyse liefern sie unverzichtbare Grundlagen. Beschreibt Freud mit dem Konzept der Erinnerungsspuren eine valide gedächtnispsychologische Theorie der Konsolidierung? Lässt sich die Verdrängung unter der Perspektive gestörter Prozesse des Abrufs von Gedächtnisinhalten beschreiben? In diesem Band werden beide Bereiche unter der Perspektive der genannten Disziplinen betrachtet und die Möglichkeiten zum interdisziplinären Austausch und Dialog skizziert.

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Information

Year
2021
Print ISBN
9783170222717
eBook ISBN
9783170307421
Edition
1

1       Einleitung

 
 
 

Einführung

Freuds Anliegen ist es von Beginn an gewesen, Erkenntnisse über allgemeine psychische Prozesse, wie das Denken, die Wahrnehmung und das Gedächtnis, zu gewinnen. Zur Untersuchung dieser Prozesse wählte er die Perspektive ihrer konflikthaften und damit dynamisch unbewussten Aspekte. Folgt man diesem Verständnis der Psychoanalyse als allgemeiner Theorie der Psyche, ergeben sich auch in zeitgenössischer Perspektive Verbindungen zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie.

Lernziele

•  Eine Perspektive auf die Psychoanalyse als allgemeine Theorie der menschlichen Psyche einnehmen, die über Krankheitslehre hinaus reicht
•  Ein Verständnis dafür entwickeln, an welchen Punkten sich Psychoanalyse und Allgemeine Psychologie berühren und an welchen Stellen Abgrenzungen zwischen den Disziplinen bestehen
Mit den Bereichen Denken, Lernen, Wahrnehmung und Gedächtnis sind vier jeweils große Bereiche der menschlichen Psyche benannt (vgl. zu Denken und Lernen im Besonderen: Storck & Billhardt, 2021). Unsere Wahrnehmung der äußeren und inneren Welt und wie wir in Auseinandersetzung mit ihr denken, lernen, wahrnehmen und erinnern, berührt alle Bereiche der Psychologie und alle Bereiche unseres täglichen Lebens. Neben dem Gefühlsleben bilden diese Prozesse die Grundlage für viele Merkmale unserer Individualität, etwa dafür, wie wir zu anderen Menschen und zu uns selbst in Beziehung treten und für unser Gefühl von persönlicher Identität.
Psychische Vorgänge finden nicht innerhalb eines von der Außenwelt abgeschnittenen Bezugsrahmens statt, sondern basieren maßgeblich auf der Wahrnehmung unserer Umwelt und auf Erinnerungen an vergangene Eindrücke und Beziehungserfahrungen. Unser Erleben beruht dabei ebenso auf der äußeren Wahrnehmung dessen was wir sehen, hören und spüren als auch auf der Interozeption, also der Wahrnehmung von inneren Reizen, wie Körperempfindungen und Emotionen. Neben der Wahrnehmung von gegenwärtigen Eindrücken wird unser Leben auch von unserer Geschichte bestimmt, die durch Prozesse des Erinnerns – und Nicht-Erinnerns – Einfluss auf unsere Gedanken, Wahrnehmungen und Emotionen ausüben kann.
Die Allgemeine Psychologie befasst sich mit psychischen Prozessen, die allen Menschen gemein sind. Entsprechend stellen Wahrnehmung und Gedächtnis einen zentralen Forschungsbereich für sie dar. Aber auch die Psychoanalyse beschäftigt sich seit Freuds Zeiten mit ihnen (vgl. zur Skizze einer »allgemeinen Psychoanalyse« Storck & Billhardt, in 2021, Kap. 2). Freud wählte zwar mit dem Ausgangspunkt im klinischen Arbeiten einen anderen Forschungsansatz als die Allgemeine Psychologie, ihm lag aber immer auch daran, etwas Allgemeines über die menschliche Psyche herauszufinden. Bereits in seinem 1895 verfassten und zu Lebzeiten unveröffentlichten Entwurf einer Psychologie geht es ihm um eine Gesamttheorie der Psyche, damals noch auf unter starkem Einbezug eines biologisch-neurologischen Modells, ein Ansatz, den er aufgrund des damaligen unzufriedenstellenden Forschungsstandes jedoch bald zurückstellte und sich der Untersuchung des Psychischen zuwandte (Freud, 1950a), ohne gleichwohl die Biologie gänzlich fallen zu lassen. Das Anliegen, eine allgemeine Theorie des Psychischen und damit einhergehend mit den Prozessen des Wahrnehmens und des Erinnerns, zu entwickeln, steht also am Ausgangspunkt und im Zentrum der psychoanalytischen Theorie.
In der Darstellung der psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Perspektiven auf Gedächtnis und Wahrnehmung wird sich immer wieder zeigen, dass neben Bewusstem auch Unbewusstes berührt wird. Dabei wird jedoch auch deutlich werden, dass das Verständnis des Unbewussten in Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie voneinander abweicht. Neben den unbewussten Aspekten von Wahrnehmung und Gedächtnis müssen wir im vorliegenden Band darauf verzichten, eine umfassende Gegenüberstellung von psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Theorien des Bewussten und Unbewussten vorzulegen, auch wenn Theorien des Bewusstseins in der jüngeren Vergangenheit zunehmend in den Fokus der Allgemeinen Psychologie rücken (zu einer psychoanalytisch begründeten interdisziplinären Sicht auf das Unbewusste vgl. Leuzinger-Bohleber & Weiß, 2014, in der vorliegenden Reihe).
Die genannten Berührungspunkte zwischen Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse lassen einen interdisziplinären Austausch naheliegend erscheinen und werfen die Frage auf, wieso es bisher nur vereinzelt und überwiegend auch erst in jüngerer Zeit zu einem solchen gekommen ist. Anstelle von Interdisziplinarität ist die Geschichte von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie von einer teils scharfen Abgrenzung der beiden Disziplinen gegenüber einander gezeichnet. Dies liegt vermutlich auf Seiten der Allgemeinen Psychologie im hohen Abstraktionsgrad der psychoanalytischen Konzepte begründet, der ihre Überführung in experimentell überprüfbare Untersuchungsdesigns erschwert. Auf psychoanalytischer Seite lassen sich als Gründe für die Abgrenzungsbestrebungen einerseits ein anderes Wissenschaftsverständnis identifizieren sowie andererseits vermutlich die Vorstellung, dass eine interdisziplinäre Verbindung, anstelle einer stärkeren Einbindung in den akademischen Diskurs, zu einem Verlust der Eigenständigkeit der Psychoanalyse führen könnte.
Unsere Perspektive ist es, dass eine Annäherung von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie für beide Disziplinen gewinnbringend sein kann. Die Allgemeine Psychologie könnte etwa davon profitieren, über die Vermittlung von psychoanalytischen Konzepten ihren Forschungsbereich auf das dynamisch Unbewusste auszuweiten, während die Psychoanalyse durch die Rezeption von allgemeinpsychologischer Forschung eine Anreicherung oder Konkretisierung ihres theoretischen Fundaments erreichen könnte. Granzow (1994) befasst sich mit der Aufnahme von allgemeinpsychologischen Befunden in die psychoanalytische Theorie und stellt fest, dass eine Integration auf vier Ebenen möglich ist (a. a. O., S. 197):
•  auf einer deskriptiven Ebene (bzgl. der Befunde)
•  auf der Ebene der (gemeinsamen) Modellbildung
•  auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Gedächtnistheorie angesichts kognitionspsychologischer Befunde
•  auf der Ebene einer Reformulierung der psychoanalytischen Metapsychologie (mit dem Ziel des Schaffens einer gemeinsamen methodologischen Rahmung).
Eine Integration auf der deskriptiven Ebene, also eine Beschreibung und Gegenüberstellung des Status quo der psychoanalytischen und allgemeinpsychologischen Theorien, ist eine notwendige Voraussetzung, um eine gemeinsame Modellbildung oder eine Aufnahme allgemeinpsychologischer Befunde in psychoanalytische Theorien zu ermöglichen. Im vorliegenden Band nehmen wir eine solche deskriptive Integration von Allgemeiner Psychologie und Psychoanalyse im Hinblick auf die Bereiche Wahrnehmung und Gedächtnis vor. Dabei geht es uns neben einer Bestandsaufnahme und einer Gegenüberstellung der Theorien auch darum, Wege für eine weiterführende interdisziplinäre Zusammenarbeit zu skizzieren. Entsprechend ist die Struktur des Bandes so gewählt, dass wir zunächst die allgemeinpsychologischen und psychoanalytischen Theorien zu Gedächtnis und Wahrnehmung darstellen, um am Ende der beiden Hauptteile des Buches jeweils den Versuch zu unternehmen, Kontakt zwischen beiden Perspektiven herzustellen. Zum Abschluss des Buches werden wir ein Fazit ziehen und Vorschläge für eine psychoanalytisch informierte Allgemeine Psychologie und eine kognitionswissenschaftlich anschlussfähigere Psychoanalyse machen.
Philosophische Positionen zu Wahrnehmung und Gedächtnis, in denen sich historisch auch Vorläufer einer psychologischen und psychoanalytischen Sicht finden, können wir im Kontext dieses Bandes nicht aufgreifen. Auch werden Aspekte von Motivation und Emotion als Teile der Allgemeinen Psychologie und als Kernstück psychoanalytischer Theorie keine Berücksichtigung finden (vgl. dazu Benecke & Brauner, 2017). Ebenso werden wir Fragen nach Repräsentation, Symbolisierung oder Mentalisierung nur teilweise berühren (vgl. dazu Deserno, 2020, in der vorliegenden Reihe), und auch den Bereich der psychoanalytischen Behandlungstechnik (Mertens, 2015) sowie die allgemeine und spezielle Krankheitslehre nicht vertieft behandeln.
Ein weiterer Aspekt ist eingangs noch von besonderer Bedeutung. Wahrnehmung und Gedächtnis sind nicht schlicht der Sphäre des Psychischen allein zuzuordnen, sondern es handelt sich, je nach Betrachtungsweise, um leibliche Prozesse, um Prozesse, die man als »embodied« bezeichnen kann bzw. deren neurobiologisches Korrelat untersucht wird. Wir werden kursorisch auf neurobiologische Befunde eingehen (ein entscheidender Bereich der Kognitionspsychologie), ebenso auf die leibliche bzw. psychosomatisch-ganzheitliche Betrachtungsweise der erörterten Konzeptbereiche. Der Schwerpunkt liegt dabei allerdings nicht auf der Ebene der kognitiven Neurowissenschaft oder der Neuropsychoanalyse. Nichtsdestoweniger können wichtige Vorarbeiten hier genannt werden, so die Überblicksarbeit von Leuzinger-Bohleber et al. (2015) oder Leuzinger-Bohleber, Arnold & Solms (2016), Vermittlungen von Seiten der Neurowissenschaften bei Roth & Strüber (2014), erkenntnistheoretische und -praktische Modelle bei Northoff (2015) sowie Studien zur analytischen Psychotherapie (z. B. Buchheim et al., 2012) oder einzelnen Konzepten wie der Verdrängung (z. B. Keyhayan et al., 2018) oder unbewussten Prozessen (z. B. Snodgrass, Shevrin & Abelson, 2014).

Zusammenfassung

Wahrnehmung und Gedächtnis sind zentral für das menschliche Leben und Erleben. Der Ausgangspunkt von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie in der Erforschung dieser beiden großen Bereiche ist ähnlich, beide Disziplinen streben danach, allgemeingültige Theorien zu ihrer Funktionsweise zu formulieren. Die Grundannahmen und die Untersuchungsmethoden von Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie unterscheiden sich jedoch und so ergeben sich neben den Berührungspunkten auch Abgrenzungsmerkmale, insbesondere in der Konzeptgeschichte. Eine überwiegend von falschen Vorstellungen von Abgrenzungen gezeichnete Geschichte der beiden Disziplinen führt noch heute dazu, dass viele Möglichkeiten des interdisziplinären Austausches ungenutzt bleiben. Als Basis für einen Dialog zwischen Psychoanalyse und Allgemeiner Psychologie ist zunächst konzeptuelle Vermittlungsarbeit erforderlich und wird im vorliegenden Band versucht.

Weiterführende Literatur

Bucci, W. (1997). Psychoanalysis and cognitive science. A multiple code theory. New York, London: Guilford.
Mertens, W. (2014). Psychoanalyse im 21. Jahrhundert. Eine Standortbestimmung. Stuttgart: Kohlhammer.

Fragen zum weiteren Nachdenken

•  Welche Unterschiede existieren im Hinblick auf das Menschenbild zwischen Allgemeiner Psychologie, Neurowissenschaften und Psychoanalyse und wie wirken sich diese auf die jeweiligen Forschungsmethoden der Disziplinen aus?
•  Was ist nötig, um die Ergebnisse neurobiologischer Forschung mit den konzeptuellen Annahmen der Psychoanalyse zu verbinden?
•  Auf welche Weise kann eine Operationalisierung von psychoanalytischen Konzepten erfolgen, die sie einer Erforschung in Allgemeiner Psychologie und Neurowissenschaften zugänglich macht?

2 Wahrnehmung

Im Weiteren folgen wir der Struktur, zunächst die allgemeinpsychologischen Theorien der Wahrnehmung vorzustellen, um anschließend die psychoanalytische Perspektive wiederzugeben. An geeigneten Stellen werden wir dabei auf Querverbindungen hinweisen, bevor wir in Kapitel 3.3 einen zusammenfassenden Vergleich beider Disziplinen vorlegen. Für einige der folgenden Darstellungen ist die eingangs erwähnte Unterscheidung verschiedener Konzeptionen des Unbewussten in Psychoanalyse und Psychologie wichtig. Wenn es beispielsweise um unbewusste Wahrnehmungsprozesse geht, dann ist allgemeinpsychologisch in aller Regel gemeint, dass subliminale Wahrnehmung eine Rolle spielt, eine solche also, die unterhalb der (bewussten, subjektiven) Wahrnehmungsschwelle liegt. Die Konzeption des psychoanalytischen Unbewussten umfasst noch andere Aspekte, unter ihnen vor allem die eines dynamisch Unbewussten, das im Zusammenhang mit psychischen Konflikten steht.

2.1 Allgemeinpsychologische Theorien der Wahrnehmung

Einführung

Anders als in den Bereichen Denken und Gedächtnis liegt keine umfassende psychoanalytische Wahrnehmungstheorie vor. Gleichzeitig berühren jedoch viele psychoanalytische Theorien das Thema Wahrnehmung. Entsprechend handelt es sich hierbei um einen Teilbereich der psychoanalytischen Theoriebildung, der von einer Anreicherung durch allgemeinpsychologische Befunde besonders profitieren könnte. Im nachfolgenden Kapitel haben wir bei der Auswahl der darzustellenden Theorien und Befunde entsprechend darauf geachtet, einerseits Themenschwerpunkte im Hinblick auf eine Relevanz für die Psychoanalyse zu setzen, andererseits haben wir bei der Auswahl auch den Stellenwert der Theorien innerhalb der Wahrnehmungspsychologie berücksichtigt. Der Fokus liegt hinsichtlich der Wahrnehmungsmodalitäten auf visueller Wahrnehmung und Interozeption, da hierzu besonders viele Theorien und Ergebnisse publiziert werden. Die Schwerpunktlegung auf das Sehen und die Interozeption findet sich ebenso in der Psychoanalyse. Zudem werden wir verschiedene Konzepte diskutieren, die unbewusste Wahrnehmungsvorgänge zum Gegenstand haben. In der Wahrnehmungspsychologie werden Theorien diskutiert, in denen unbewusste Wahrnehmungsvorgänge langsamer ablaufenden bewussten Wahrnehmungsprozessen gegenübergestellt werden. Diesen Ansatz werden wir im folgenden Kapitel als ein Rahmenmodell vorstellen, das verschiedene Wahrnehmungsmodalitäten umfasst und versucht den Wahrnehmungsprozess in seiner Gänze abzubilden.

Lernziele

• Den Unterschied zwischen unbewussten Wahrnehmungsvorgängen, die in schnellen emotionalen Reaktionen resultieren und langsamen, bewussten Wahrnehmungen kennenlernen
• Den Unterschied zwischen subliminaler Wahrnehmung und dem dynamisch Unbewussten der Psychoanalyse reflektieren
• Die Bedeutung von interozeptiver Wahrnehmung für das Erleben von Emotionen verstehen
Goldstein & Brockmole (2017) definieren Wahrnehmung als eine bewusste sensorische Erfahrung, die auftritt, wenn ein externer Stimulus im Gehirn des Wahrnehmenden in elektrische Signale transformiert wird. Dieser Definition folgend geht einer Wahrnehmung Informationsverarbeitung voraus – ein Reiz wird im Gehirn als Muster von elektrischer Aktivität repräsentiert und daraufhin durch neuronale Verarbeitung in eine qualitativ andere Art der Repräsentation überführt, die das bewusste Erleben des Stimulus und somit die Wahrnehmung an sich darstellt. Auf eine sensorische Wahrnehmung können nach...

Table of contents

  1. Deckblatt
  2. Titelseite
  3. Impressum
  4. Geleitwort zur Reihe
  5. Vorwort
  6. Inhalt
  7. 1 Einleitung
  8. 2 Wahrnehmung
  9. 3 Gedächtnis
  10. 4 Fazit und Ausblick
  11. Literatur
  12. Stichwortverzeichnis