Das Spiel
»Das Leben ist ein Ponyhof. Lerne einfach endlich zu reiten.«
Stefan Hiene (*1975), Aufwachmediziner
»Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.«
Friedrich Schiller (1759-1805), Arzt, Dichter, Philosoph und Historiker
Drei Wochen später trieb es Stefan Herzog wieder zur Pfalz hinauf.
Es waren drei miserable Wochen gewesen. Die erste Zeit ohne Barbara. Ganz allein.
Es hatte so gut wie keine Minute gegeben, in der er nicht an sie gedacht hatte. War er zu Hause, starrte er mit düsterem Blick auf die Eingangstür, in der Hoffnung, Barbara würde hereinkommen.
Zum Glück war er selten zu Hause. Er hatte sich in seine Arbeit vergraben. Das fiel ihm nicht schwer. Schwer fiel es ihm aber, sich auf die Arbeit zu konzentrieren. Seiner Rektoratsassistentin war es zu verdanken, dass er keine Termine verpasst hatte. Dabei war er sonst die Zuverlässigkeit in Person.
Auch während Sitzungen schweiften seine Gedanken immer wieder ab. Einmal hatten ihn sämtliche Anwesende erwartungsvoll angestarrt. Sie hatten den Eindruck gemacht, als würden sie von ihm als Sitzungsleiter eine Reaktion erwarten. Er hatte jedoch keine Ahnung gehabt, um was es gegangen war. Seine Gedanken waren weit weg gewesen.
Wieder half ihm seine Assistentin. Sie schrieb während der Sitzung das Protokoll und fragte ihn, ob sie das Besprochene so und so zusammenfassen könne. Das rettete ihn aus dieser Situation und brachte ihn zurück ins Geschehen. Er war ihr unendlich dankbar.
Nein, es waren wirklich keine guten Wochen gewesen. Das allabendliche Glas Wein, eine inzwischen eingeschlichene Gewohnheit, änderte auch nichts daran. Zudem war es nicht immer bei dem einen Glas geblieben, wie er eingestehen musste. Was sonst sollte er zu Hause tun?
Aber jetzt war er nüchtern.
Stefan wusste selbst nicht, weshalb er erneut die Pfalz aufsuchte.
Die Begegnung mit dem kauzigen Spieler hallte in ihm nach. Manchmal war sich Stefan nicht sicher, ob sie wirklich stattgefunden hatte. Oder hatte er so viel intus gehabt, dass er sich alles nur eingebildet hatte?
Stefan wollte auf Nummer sicher gehen und war deshalb dieses Mal absolut nüchtern.
Vielleicht wusste er doch, was ihn hintrieb.
Da war eine Frage, die an ihm nagte.
Mitten in einer Sitzung hatte ihm ein Gedanke das Blut ins Gesicht gejagt: Was, wenn der seltsame Kauz gar nicht so harmlos war, wie er getan hatte? Vielleicht gar ein fieser Boulevard-Journalist auf der Jagd nach der nächsten Story? Immerhin gehörte er, Stefan, als Hochschul-Rektor, der gut in der Stadt verankert war, zur lokalen Prominenz. Hatte er diesem wildfremden Menschen wirklich seine privaten Probleme anvertraut? Alles Quatsch! Wenn dem so gewesen wäre, wäre die Story längst publiziert, schalt ihn sein Verstand. Ein flaues Gefühl in der Magengegend blieb trotzdem.
Was versprach er sich von seinem Gang auf die Pfalz? Gewissheit, dass er keine Angst haben musste?
Das ist doch absurd, hämmerte eine Stimme in seinem Kopf. Selbst wenn der komische Kauz wirklich existierte, die Wahrscheinlichkeit war minimal, dass er gerade jetzt auf der Pfalz auftauchen würde.
Stefan trat oben angekommen an die Betonbrüstung und ließ den Blick über den Rhein unter ihm und über Kleinbasel auf der anderen Seite des Flusses schweifen. Die Hochhäuser werden immer höher, ging es ihm durch den Kopf.
»Na, hattest du viel Freude beim Spielen?«, hörte er plötzlich eine Stimme hinter sich.
Stefan wirbelte herum.
Da stand er. Genauso wie er ihn in Erinnerung hatte.
Es gab ihn wirklich.
Dann hatte er wohl auch erlebt, was er erlebt zu haben glaubte.
Stefan spürte wieder die Wut in sich aufsteigen, ohne zu wissen worauf er wütend war. Wegen dem despektierlichen »Du«, mit dem der Spieler ihn, immerhin war er Rektor einer Hochschule, angesprochen hatte? Oder wegen dem absurden Gespräch?
Oder war es gar Wut auf sich selbst? Darauf sich eine Blöße gegeben und seine privaten Angelegenheiten mit diesem Mann geteilt zu haben? Das ging diesen Fremden wirklich nichts an! Als Rektor musste er selbst schwierigen Situationen gewachsen sein. Wenn einer stark sein musste, dann er! Ein gefühlsduseliger Rektor – dieses Bild wollte er auf keinen Fall nach außen vermitteln.
»Freude beim Spielen? Nein«, gab er zurück. »Ich habe gespielt, aber ich habe mich nicht glücklich gefühlt dabei. Was zeigt, dass Ihre Theorie Humbug ist.«
Der Spieler ging nicht auf die Wertung ein. »Was hast du denn gespielt?«
»Monopoly. Ich lud einige Freunde ein. Das Spiel lief von Anfang an nicht gut. Ich konnte kaum Grundstücke kaufen. Nur einige Unbedeutende. Aarau. Basel, Steinen-Vorstadt. Und dann noch die Elektrizitätswerke. Ich habe es nicht mal geschafft, von einer Farbe sämtliche Grundstücke zu besitzen. Meine Freunde haben mich ausgenommen wie eine Weihnachtsgans. Das hat definitiv keinen Spaß bereitet!«
»Dann dürfte das kein Spiel gewesen sein.«
»Natürlich ist Monopoly ein Spiel!«
»Was ist für dich ein Spiel?«
»Was ein Spiel ist, weiß doch jedes Kind!«
Der Spieler kicherte. »Ja, ein Kind schon. Das sind Spielexperten! Aber wir Erwachsene?«
Stefan setzte zum Sprechen an, schloss den Mund aber wieder und setzte sich auf das breite Betonmäuerchen, das die Pfalz hoch über dem Rhein umschloss. Der Spieler hüpfte ebenfalls hoch und ließ sich neben ihm nieder. Erst jetzt realisierte Stefan, wie klein der Spieler war.
»Ein Spiel ist, mhm, na ja, ein Spiel ist eine Aktivität, die, mhm …«
»Ja?«
»Sie scheinen es ja zu wissen«, entgegnete Stefan bissig. »Was ist ein Spiel?«
Ein schalkhafter Glanz leuchtete in den Augen des Spielers auf. »Ein Spiel hat tausend Facetten. Es lässt sich auf unzählige Arten beschreiben. Magst du ein kleines Spiel spielen?«
Stefan wusste nicht, was er antworten sollte, also nickte er resigniert.
»Prima prima«, freute sich der seltsame Kauz. »Schaffen wir es, das Spiel mit nur fünf Eigenschaften zu umschreiben? Nein, du bist ja ein gebildeter Mensch, da müssen wir ehrgeiziger sein. Wie wäre es mit drei Eigenschaften?«
Verspottete ihn der Alte?
Stefan hatte keine Ahnung, wo ihn dieses Spielchen hinführte, aber irgendwie hatte ihn der Ehrgeiz gepackt. Wieder nickte er.
Der Spieler klatschte entzückt in die Hände. »Dann rein ins Vergnügen! Am besten nehmen wir mal einige Spiele und versuchen, Gemeinsamkeiten zu entdecken. Ja?«
»Von mir aus.«
»Gut gut. Dann das erste Spiel: Räuber und Gendarm.«
»Fußball.«
»Einen Bach stauen.«
»Schach.«
»In Pfützen springen.«
»Hm. Tetris.«
»Ganz ausvorzüglich! Das sollte reichen. Ah, nein, Monopoly fehlt noch.«
»Bitte was? Ich dachte, das sei Ihrer Meinung nach kein Spiel?«
»Es kann eins sein, es kann auch keins sein.«
»Da werde ich nicht schlau draus.«
»Spielen bereitet Spaß, oder? Du hattest aber keinen Spaß bei der Monopoly-Partie.«
»Ah, Sie meinen, dass es entscheidend ist, ob etwas Spaß bereitet? Dann wäre Spaß eine erste Eigenschaft.«
Der Spieler wog den Kopf hin und her. »Ein Buch zu lesen kann auch Spaß bereiten. Oder einen Film zu schauen. Solche Aktivitäten würde ich aber nicht als Spiel bezeichnen. Du schon?«
Stefan schüttelte den Kopf. »Ah, aber Sie haben da etwas Wichtiges erwähnt: Aktivitäten!«
Der Spieler nickte begeistert. »Jawollja, Aktivität könnte eine Eigenschaft des Spiels sein. Ach nein, sonst wäre ja ein Buch lesen oder ein Film schauen auch ein Spiel. Oder kochen.« Der Spieler blickte hoch konzentriert in den Himmel. »Wobei, vielleicht müssten wir die Aktivitäten einfach genauer definieren. Wie wärs mit Herausforderungen?«
»Herausforderungen? Ja, könnte passen.«
»Also Aktivitäten, die weder langweilen noch überfordern. Gut gut. Aber, hm …« Die Falten des Spielers hatten plötzlich aufgehört, um die Wette zu zucken. »Da fällt mir gerade etwas ein.«
»Was denn?«
»Das Liebesspiel.«
Stefan seufzte. Seine Gedanken kehrten zu Barbara zurück. »Was ist mit dem Liebesspiel?«
»Sex fühlt sich nicht immer spielerisch an. Beispielsweise, wenn er zur Routine geworden ist. Hingegen ist das Liebesspiel, das den Namen auch verdient, weder langweilig noch überfordernd. Also eine Herausforderung. So weit passt alles. Aber was ist, wenn sich der Sex nur für einen Partner wie ein Spiel anfühlt?«
»Sie meinen …«
Der Spieler nickte. »Jawollja. Was ist, wenn Sex nicht freiwillig geschieht? Wenn jemand zu Sex gezwungen wird?«
»Stimmt, dann ist das definitiv kein Spiel. Vielleicht wäre die Freiwilligkeit eine weitere Eigenschaft des Spiels? Also eine Herausforderung, die wir freiwillig anpacken?«
»Halleluja, das gefällt mir, das gefällt mir!« Der Spieler sprang zu Boden und hüpfte aufgeregt von einem Bein auf das andere.
Mittlerweile war Stefan mit Feuereifer dabei. »Das heißt«, grübelte er, »ein und dieselbe Tätigkeit kann einmal ein Spiel sein und einmal nicht.«
»Jawollja, das sehe ich auch so. Deshalb kann Monopoly sich einmal wie ein Spiel anfühlen und einmal nicht.«
»Das könnte heißen, wenn ich Monopoly freiwillig spiele, ist es ein Spiel und wenn nicht, dann … Aber ich habe Monopoly doch freiwillig gespielt!«
»Zu Beginn wohl schon. Doch dann lief es nicht gut für dich. Kann es sein, dass du nur noch weitergespielt hast, weil du das Spiel nicht kaputt machen wolltest?«
Stefan überlegte schweigend. Dann nickte er.
»Herausforderung. Freiwilligkeit. Hm. Das würde bedeuten … Angenommen, eine Sportlehrerin ruft in der Schule zum Fußballspiel auf. Dann spielen die Kinder ja nicht freiwillig. Ist Fußball dann kein Spiel?«
Der Spieler schaukelte mit dem Kopf hin und her. »Für jene Kinder, die gerne Fußball spielen, dürfte es sich wie ein Spiel anfühlen. Wer aber nicht gerne Fußball spielt, für den fühlt sich Fußball nicht wie ein Spiel an, sondern wie eine Pf...