IV
Dein Grundton
Der Grundton ist ein Schlüssel zum Selbst
»Was bringt es mir, dass ich meinen Grundton kenne?«, ist eine der häufigsten Fragen, die mir begegnen. Und meine erste Antwort darauf ist: »Nichts!« Und tatsächlich ist der Grundton nichts weiter als ein Schild über dem Bett, wenn er nicht über die Stimme zum Schwingen gebracht wird. Aber worin liegt tatsächlich der Nutzen, seinen Grundton zu kennen? Welche konkreten Themen liegen im Wirkungsbereich des Grundtons, und welche Aspekte der Persönlichkeit bringt das Singen des persönlichen Grundtons zum Klingen? Antworten zu diesen Fragen betreffen sowohl die Außenwelt als auch die Innenwelt eines Menschen. In beiden Bereichen kann der gesungene Grundton Veränderungen hervorrufen und das Leben durch neue Erfahrungen und Erkenntnisse bereichern.
Tonale Identitätsfindung
Junge Menschen in der Pubertät gelten gemeinhin als Plage. Sie sind aufsässig, voller Widersprüche, sprunghaft, aggressiv. Die meisten Eltern sind in dieser Phase mit der Begleitung ihrer Kinder schlichtweg überfordert. Jedes ihrer Worte ist falsch, jede Anregung schlecht, alle Vorschläge werden kategorisch abgelehnt. Streit und Gebrüll gehören genau so zum Alltag wie Tränen und Verzweiflung. Dabei passiert während der Pubertät schon seit Jahrtausenden etwas ganz Natürliches: Die Jugendlichen sind auf der Suche nach ihrer Identität. In ihnen regt sich eine zutiefst persönliche Kraft, die an die Oberfläche des Bewusstseins drängt. Diese Kraft will die Führung übernehmen und den Jugendlichen in ein selbst bestimmtes Leben leiten. Wer gelernt hat, dieser Kraft zu vertrauen und sinnvoll mit ihr umzugehen, wird zum Erwachsenen. Wer diese Kraft beiseite drückt und mehr auf die Meinung anderer hört als auf seine innere Stimme, bleibt ein unmündiges Kind, egal wie alt der physische Körper ist.
Aus dem Blickwinkel der Eigentönigkeit wird deutlich, was junge Menschen während ihrer Pubertät antreibt: Sie sind auf der Suche nach ihrem eigenen Ton und ihrem damit verbundenen individuell ausgeprägten Potenzial. Aufgrund der Tatsache, dass der persönliche Grundton weder von den Eltern ererbt wird noch anerzogen werden kann, können die immanenten Persönlichkeitskräfte von Eltern und Kind äußerst konträr ausfallen. Da kann die Suche nach der Identität zu einem langen Kraftakt werden. In deren Verlauf probieren Jugendliche immer neue Persönlichkeitskonzepte aus, die allesamt verschiedene Charakteristika aufweisen. Das Ende der Pubertät naht, wenn der Jugendliche seinen Ton gefunden hat. Er vertraut allein seiner individuellen Persönlichkeit, auch wenn die ihr entwachsenen Kräfte im Widerspruch zum Wertesystem der wohlmeinenden Eltern stehen sollten. Einen Erwachsenen, der seine Identität gefunden hat und voller Selbstvertrauen sein Leben in die Hand nimmt, bringt dies nicht aus der Ruhe.
Für einen erfolgreichen Verlauf der Pubertät kann der persönliche Grundton sehr hilfreich sein. Wenn diese Wellenlänge gefunden ist, kann genau dieser Ton (und kein anderer) den Wesenskern des jungen Erwachsenen erreichen und aktivieren. Er stellt den Kontakt zu den persönlichen Anlagen her und unterstützt damit die Findung der Identität. Dieser Vorgang ist vergleichbar mit dem Einstellen eines Radios auf die Wellenlänge des Senders, der die gesamten Informationen über die eigenen Persönlichkeitsmerkmale sendet. Erst bei gleicher Wellenlänge wird das gewünschte Programm hörbar. Während der Pubertät drehen die Jugendlichen eifrig am Knopf ihres Radios, um diesen Sender zu finden. Aber leider kennen sie nicht die richtige Frequenz. Deshalb hören sie verschiedenste Dinge, nur nicht das, was sie persönlich betrifft. Mit der richtigen Wellenlänge können sie endlich Kontakt mit ihrem Selbst aufnehmen. Jetzt können sie all jene Informationen empfangen, die der Grundton schon immer gesendet hat.
Eines Tages kam ein verzweifelter Vater zu mir. Er hatte große Schwierigkeiten mit seiner ältesten Tochter. Diese hatte mit 18 Jahren noch immer keinen Schulabschluss, und ihre schulischen Leistungen ließen kaum Hoffnung auf ein erfolgreiches Ende der Schullaufbahn zu. So war er in schwerer Sorge angesichts der aussichtslosen Perspektive für den zukünftigen Lebensweg seiner Tochter. In seiner Not bat er mich, ihren Grundton zu bestimmen. Ich wies ihn darauf hin, dass es in einem so schwierigen Fall nicht immer möglich sei, den persönlichen Grundton zu entdecken, da er durch zu viele Kräfte überlagert sein könnte. Tatsächlich erwies sich die Messung als extrem kompliziert, denn die junge Frau hatte ihren Ton gründlich versteckt. Letztlich bestand aber kein Zweifel, ihr Grundton war ein C. Die mit diesem Ton verbundenen Kräfte waren allerdings komplett überlagert von Wut, Verzweiflung und dem Gefühl, nicht geliebt zu sein. Ungeachtet dessen beschrieb ich ihr, welche wunderbaren Kräfte hinter ihren negativen Emotionen bereitstehen. Mit Worten malte ich ihr ein neues Selbstbild, das ihren tonalen Anlagen entsprach. Mit dieser Beschreibung hatte ich sie in ihrem Wesenskern berührt. Sie fühlte sich, als käme ein längst übermaltes Ich wieder zum Vorschein. Die Kraft dieser Vision war so stark, dass sie ihr Leben völlig umkrempelte. Sie fing nicht nur an für die Schule zu lernen, sondern auch die Mitschüler zum Lernen zu motivieren. Der weitere Lebensweg wurde zu einer echten Erfolgsstory: Schulabschluss, Lehrstelle in der Krankenpflegeschule, erfolgreicher Abschluss, Übernahme durch das Krankenhaus.
Die Kenntnis des persönlichen Grundtons kann also die Identitätsfindung fördern und vorantreiben. Im fortschreitenden Prozess zeigt sich die individuell disponierte Einzelperson in all ihren Facetten und Eigenheiten. Im Extremfall kann die Kraft des Grundtons deutliche Veränderungen im Charakter herbeiführen: Laute Menschen werden stiller, unscheinbare Personen gewinnen an Präsenz, Egoisten werden sozial. All dies geschieht aber nicht aufgrund einer zwanghaften äußeren Maßnahme, sondern erwächst aus dem Inneren. Und auch das geschieht nur, wenn dieses neue Verhalten auch wirklich Teil der individuellen Disposition ist. Nicht jede »Graue Maus« wird zum »Hingucker«. Dies geschieht lediglich, wenn eine entsprechende Entwicklung tatsächlich in der Persönlichkeit angelegt ist. Eine Veränderung muss auch nicht unbedingt dramatisch vonstatten gehen. Die leisen Schritte können gleichzeitig die größten sein: Es bedeutet sehr viel, mit sich selbst in Einklang zu kommen und von Zufriedenheit erfüllt zu sein. Die tief empfundene Gewissheit, bei sich selbst angekommen zu sein, kann in dieser besonderen Tiefe kein Beruf oder weltlicher Erfolg dauerhaft geben.
Die zweite Chance
Eine gut verlaufende Pubertät, an deren Ende ein junger Mensch seine Identität gefunden hat, verhilft zu einem guten Start in das Berufs- und Familienleben. Leider existieren (viel zu) viele Biographien, in denen dieser entscheidende Lebensabschnitt nicht erfolgreich genutzt wurde. Am Ende der Pubertät sind (viel zu) viele Menschen ihrer Identität kein Stückchen näher gekommen und kennen nach wie vor nicht ihre wichtigsten Persönlichkeitsmerkmale. Sie wissen nichts von ihren eigentlichen Stärken, tun eher freudlos das, was notwendig ist, und gehen der Bequemlichkeit halber (viel zu) schnell (viel zu) viele Kompromisse ein. Ihre innere Stimme ist verstummt oder wird durch immer lautere äußere Sinneseindrücke übertönt. (Viel zu) viele Menschen reden sich ein solches Leben schön, um bloß keine Unzufriedenheit aufkommen zu lassen. Außerdem scheuen sie die Anstrengung einer Veränderung. Und so dümpelt der Alltag vor sich hin, bis das Leben endlich zu Ende geht. Ein erfülltes Leben ist allerdings etwas anderes!
Zum Glück gibt es im Leben immer eine zweite Chance, und die besteht beim Menschen in den Wechseljahren. In dieser Zeit wird der Hormonhaushalt erneut umstrukturiert, und das Bedürfnis nach Veränderung bekommt eine neue Schubkraft. Die innere Stimme meldet sich unüberhörbar zu Wort und mahnt eine Umkehr an. Jetzt gilt es, diesem Ruf zu folgen und sich endlich selbst kennen zu lernen. Ein Blick auf die Mitmenschen zeigt, dass Männer und Frauen diese Umbruchphase tendenziell eher unterschiedlich nutzen. Wo Männer sich gern eine junge Geliebte halten und ihre Potenz unter Beweis stellen, nutzen Frauen diese Zeit, um die jahrelang gelebten schlechten Kompromisse endlich aufzulösen. Sie haben den Mut, sich unabhängig von Familie und Beruf neu zu erfinden – ein Weg, der auch den Männern gut zu Gesichte stehen würde. Nur leider haben diese für den »Selbstfindungstrip« ihrer Frauen meist nur ein müdes Lächeln übrig.
Dabei gibt es untrügliche Anzeichen dafür, dass man seine Identität nicht ausreichend entdeckt hat. Da ist zunächst ein inneres Rumoren, dann ein immer klarer werdendes Gespür, dass das Leben nicht in den Bahnen verläuft, die optimalerweise möglich wären. Ein unverfälschter Rückblick kommt zu der Einschätzung, dass der Beruf keine Freude vermittelt, die Partnerschaft nicht von Vertrauen getragen ist und die Bekanntschaften im privaten Umfeld nicht die Gesprächstiefe ermöglichen, nach der man sich sehnt. Gleichzeitig existiert eine nicht zu übertönende Ahnung, dass im Leben viel mehr Möglichkeiten bestünden, wenn man nur auf die entsprechenden Ressourcen zurückgreifen könnte. Dafür muss ein Kontakt zu dieser enormen Kraft aufgenommen werden, die irgendwo im Inneren verborgen schlummert. Und die verfügt über eine richtungweisende Energie, die das Leben neu ordnen und entsprechend ihrer individuellen Ausprägung positiv verändern kann. Nur leider lässt sich diese vorerst weder benennen und noch viel weniger erreichen.
Solange man aber zu dieser Energie keinen Zugang findet, verläuft das Leben unverändert in den ausgetretenen Trampelpfaden. Alle Aktivität besteht darin, den Anforderungen und Bedürfnissen von Gesellschaft und Mitmenschen gerecht zu werden. Getrieben vom Erfüllen der aufoktroyierten Pflichten besteht ein Selbstbild, das relativ oft relativ wenig mit den inneren Anlagen gemeinsam hat. Das Präsentieren dieser Scheinidentität hilft zwar im Rahmen des gegebenen gesellschaftlichen Kontextes, kann aber nur mit äußerstem Kraftaufwand konsequent und längerfristig durchgehalten werden. Das ist so anstrengend wie unbefriedigend, und trotzdem finden viele Menschen weder die Kraft noch die richtigen Mittel, diesem Zustand ein Ende zu setzen.
In einer solchen Situation kann der persönliche Grundton große Dienste leisten. Das Singen des persönlichen Grundtons stellt den Kontakt zur verschütteten Identität her und ist ein einfaches wie wirkungsvolles Mittel zur Identitätsfindung.41 Mit der Frequenz seines Grundtons kann jeder die Schatztruhe seiner individuellen Anlagen aufschließen und die darin liegenden Kostbarkeiten finden. Je mehr man sich bei den dortigen Schätzen bedient, desto mehr können die von der Außenwelt auferlegten Belastungen abgeschüttelt werden. Die Scheinidentität kann sich zugunsten dessen auflösen, was in der Einzelperson schon immer an Charakter und Fähigkeit angelegt war.
Die Erfahrung zeigt, dass mit der Identitätsfindung durch den persönlichen Grundton die Singenden anfangen aufzublühen. Aus ihrer Mitte heraus erwachsen ihnen Fähigkeiten, die sie vorher bei sich nicht für möglich gehalten hatten. Sie entwickeln eine wunderbare Kombination aus dynamischer Ruhe im Innen und zielgerichteter Aktivität im Außen. Ganz unangestrengt kann das Leben nun fließen, Energie- und Reibungsverlust verringern sich spürbar. Die gesamte Persönlichkeit ist ausgeglichen und stabil, die tägliche Zufriedenheit wächst und wird begleitet von einer Empfindung innerer Leichtigkeit.
Häufig kommt es zu überraschenden Rückmeldungen aus dem sozialen Umfeld, nachdem mit dem Singen des Grundtons begonnen wurde. Die Mitmenschen bemerken eine feine aber stetige Veränderung in der Persönlichkeit. Sie sagen bewundernd: »Was ist los, du blühst ja auf wie eine Rose!« Dabei geschieht nichts anderes, als dass der Singende mehr und mehr aus der Kraft seiner Identität lebt. Nichts Technisches, Künstliches oder Fremdes führt die Veränderung herbei. Der Persönlichkeit wird nichts von außen aufgepfropft oder per Motivationstraining übergestülpt. Es ist ein ganz natürlicher Vorgang, einzig hervorgerufen durch die Stimme und die Kraft des persönlichen Grundtons. Die vormals wichtigen Fragen »Wer möchte ich sein und wer muss ich sein?« oder »Was erwarten die anderen wie ich zu sein habe?« treten immer weiter in den Hintergrund. Hervortritt eine zentrierte, selbstverständliche Daseinsform, die einfach nur ist, ohne Kalkül, Kompensation oder ein Erfüllen von Erwartungen. Authentizität pur.
Gleiche Grundtöne
Mithilfe seines persönlichen Grundtons kann jeder Mensch seine Identität finden und sich aus dem dort vorgefundenen Reservoir verschiedener Fähigkeiten bedienen. Interessanterweise haben jahrzehntelange empirische Forschungen eine besondere Gegebenheit zur Gewissheit werden lassen: Gleiche Grundtöne korrespondieren mit vergleichbaren Qualitäten. Aus diesem Grund lassen sich schon im Vorhinein bestimmte Aussagen zu den zu erwartenden Fähigkeiten eines Menschen treffen.
Wer seinen Grundton kennt, weiß im gleichen Moment um seine besonderen Vorzüge. Er weiß, welche guten Eigenschaften ihm in besonderem Maße zur Verfügung stehen und welche Kompetenzen ihn auszeichnen. Wer seinen Grundton kennt weiß aber auch, welche charakterlichen Dispositionen nicht zu seinen Stärken gehören. Diese wichtigen Informationen können bei der Lebensgestaltung sehr hilfreich sein, denn so kann man vermeiden, seine Energie an unpassender Stelle einzusetzen. Das Beackern eines ungeeigneten Feldes kostet enorme Mehrenergie und bringt dennoch keine angemessene Ernte ein. Da sind Frustration und Unzufriedenheit vorprogrammiert. Deswegen ist es sinnvoll, all jene Qualitäten zu exponieren, mit denen man bevo...