Erster Akt: 1913
1.1 Ballast
Am 1. November 2010 war ich bei einer Diskussionsveranstaltung mit Terry Riley im Café Oto in London. Während des langen Gesprächs auf der Bühne beantwortete der Komponist von In C und A Rainbow in Curved Air Fragen zu seinen frühen Arbeiten mit Magnetbändern, seinen Freundschaften zu Musikern wie La Monte Young und Pandit Pran Nath – und nach seiner Lieblingsfarbe.
Gegen Ende der Veranstaltung nahm ich endlich allen Mut zusammen und stellte die Frage, die mich schon die ganze Zeit beschäftigte. »Man hat sie einen ›visionären‹ Komponisten genannt«, begann ich mit vielen »Hms« und »Ähs«. »Also wie stellen Sie sich die Musik der Zukunft vor?«
Meine Frage rief eine Menge Lacher hervor, die sowohl von der Bühne als auch aus dem Publikum kamen und die mir spöttisch erschienen. »Sie setzen mir die Pistole auf die Brust!«, erwiderte Riley lachend. Ich stellte mir vor, wie er heimlich die Sicherheitsleute heranwinkte.
Doch das tat er natürlich nicht. Jeder, der schon einmal im selben Raum wie Terry Riley gewesen ist, kennt ihn als einen sehr warmherzigen Mann. Er ist die Sorte Mensch, mit dem man gerne Weihnachten verbringen möchte. Man kann ihn sich als jemanden vorstellen, der am Ende eines Films dem Helden auf die Schulter klopft; Gott sei Dank ist alles wieder in Ordnung. »Alles, was ich sagen kann«, antwortete er schließlich, »ist, dass ich hoffe, dass es überhaupt eine Zukunft gibt.« Der Moderator lenkte das Gespräch dann schnell auf andere Themen.
Wer kann es ihm verübeln? Wie lässt sich so eine Frage beantworten? Bereits sie zu stellen war mir peinlich. Doch zugleich machte ich mir Sorgen.
Zu Beginn des 21. Jahrhunderts schien »die Zukunft der Musik« in aller Munde zu sein. Alle paar Monate erschien ein Buch oder ein Artikel mit diesem oder einem ähnlichen Titel. In den meisten Fällen kamen diese Texte nicht von Musikern. Zumindest wirkte es so. Es schien, als ob die Zukunft der Musik nicht in den Händen von Musikern lag, sondern von Technikern: Entrepreneure aus dem Dot-Com-Milieu, Gurus des Digital Marketing, Social-Media-Ninjas und Dauergäste bei Technik- und Innovationspräsentationen. Selbst wenn sich Musiker einmal zu Wort meldeten, wurde die Diskussion so sehr vom Rauschen aus dem Silicon Valley übertönt, dass ihnen wenig anderes übrigblieb, als zustimmend zu nicken oder als verrückte Maschinenstürmer zu erscheinen, die voller Nostalgie versuchen, den Phonographen zurückzubringen.
Ich versuchte, jemanden mit einer anderen Perspektive zu finden, jemanden, der mehr wusste als wie sich mit Torrents Geld verdienen lässt oder wie man ein YouTube-Imperium aufbaut. Die Musiker selbst schienen mir da eine gute Anlaufstelle.
Immerhin gibt es eine weit zurückreichende, originäre Tradition des Nachdenkens über die Zukunft in der Musik. Lange bevor amerikanische Militäringenieure von der Symbiose aus Mensch und Maschine träumten, stellte sich Hector Berlioz das Orchester als kybernetischen Organismus vor, eine lebende, atmende Fabrik. Und lange bevor sich Hippies auf dem Weg »zurück zur Natur« mit der Welt der profitorientierten Forschung zusammentaten, um den Computer zu einem Werkzeug globaler Kommunikation zu machen, imaginierte Richard Wagner schon eine Vereinigung von Zukunftsmusikern und hielt die Oper für ein Mittel, um sie zu verwirklichen. Tatsächlich galt die Oper lange als das bevorzugte Vehikel in die Zukunft, angefangen beim Wagner’schen Gesamtkunstwerk bis zu den russischen Futuristen. Die Oper versprach eine Welt auf der Bühne, eine Zeit jenseits der Uhr.
Unverzagt setzte ich meine Suche fort und ungefähr fünf Jahre später hatte ich die Möglichkeit, es noch einmal zu versuchen.
Ich verbrachte das Wochenende auf einem Musikfestival namens Borealis in der norwegischen Stadt Bergen. Ich kam am Donnerstagnachmittag an und verbrachte den Rest des Tages damit, mich in den verschlungenen, kopfsteingepflasterten Straßen der Stadt zu verlaufen. Vor allem erinnere ich mich daran, wie ich auf der Suche nach einem Konzerthaus im Hafenviertel, nördlich des Stadtzentrums, orientierungslos und von Nordseewinden geplagt, aufgab – nur um dann direkt in die Halle zu stolpern, den ich gesucht hat. Ich schlüpfte in den hinteren Teil des Veranstaltungsraums und war mitten in einer mucksmäuschenstillen Vorführung des lokalen Kammerorchesters. Später am Abend gelang es mir zum Glück, von jemandem zum Cornerteatret gefahren zu werden, wo die amerikanische Gruppe Object Collection ihre neue Oper It’s all true aufführte.
Ich kam ein bisschen zu früh und merkte schnell, dass es nirgends in der Nähe etwas zu essen gab. Den ganzen Tag war ich ahnungs- und orientierungslos herumgelaufen und hatte verzweifelt versucht, nichts vom Programm zu verpassen und war inzwischen am Verhungern. Meine Möglichkeiten waren beschränkt. Ich bestellte eine Schale Erdnüsse und ein paar Oliven an der Bar. Mit einem Salz-und-Essig-Geschmack im Mund nahm ich meinen Platz ein, sehr unvorbereitet für das, was nun passieren sollte.
It’s all true war das komplette Gegenteil eines Abends in der Semperoper. Die beiden Autoren des Stücks, Kara Feely und Travis Just, hatten ihre Komposition damit begonnen, dass sie sich mehr als 1000 Stunden Amateuraufnahmen der amerikanischen Post-Hardcore-Band Fugazi aus den Jahren 1986 bis 2002 ansahen. Sorgfältig orchestrierten und notierten sie jedes gesprochene, gesungene oder gerufene Wort, jede zufällig oder absichtlich gespielte Note – sie verwendeten alles, außer den eigentlichen Songs der Band. Das Ergebnis, ein Stück für vier elektrische Gitarren, zwei Schlagzeuge und vier Schauspieler-Sänger, ist eine zusammenhangslose Collage aus akkumulierten Outtakes, eine epische Tragikkomödie über eine Band, die sich selbst viel zu ernst nahm, ein lautstarker Angriff auf die Politik im Amerika der Clinton-Bush-Jahre und nicht zuletzt auf die Ohren des Publikums. Es handelt sich um ein kompromissloses Werk, eine Kakophonie aus gleichzeitig ausgeführten Aktionen, die während der gesamten zwei Stunden dasselbe fiebrige Level an Intensität hält. Als das Publikum aufstand, sah es im positiven Sinne verstört aus. Hatte ich Schäden davongetragen? Ich war mir nicht sicher.
In den nächsten Tagen wurde klar, dass das Publikum die Oper äußerst unterschiedlich bewertete. Viele waren begeistert, andere verwirrt oder sogar irritiert. Ich hörte mehrere Leute sagen, dass das Stück zu lang gewesen sei oder dass ihm die Trennung zwischen den Teilen fehlte. Doch in jedem Fall war die Oper das Thema, über das alle sprachen. Besucher, die das Theater geradezu wütend verlassen hatten, diskutierten noch drei Tage später über das Stück und begannen dann ihre eigene Reaktion infrage zu stellen. Erst später habe ich begriffen, wie treu It’s all true sich an die ästhetischen Vorstellungen von Richard Foreman hielt, die er in den frühen 1970er Jahren in seinen »ontologisch-hysterischen« Manifesten niedergelegt hatte.
Foreman, dem sowohl Feely als auch Just bei Produktionen in New York assistiert hatten, wollte die Bühne »zerstören«, aber »vorsichtig, nicht mit Mühe«, wie er sagte, »sondern mit delikaten Manövern«. Foreman hatte Ende der 1950er einen Abschluss an der Brown University gemacht und dort die Theatergruppe The Production Workshop gegründet. Als er in seine Heimatstadt New York zurückkehrte, mischte er sich unter die Experimentalmusiker und Filmemacher wie La Monte Young und Jack Smith, die damals gerade dabei waren, alles Mögliche in ihren jeweiligen Kunstformen über den Haufen werfen.
1967 schließlich begann Foreman das Theater in seiner zeitgenössischen Form für »lächerlich in all seinen Manifestationen« zu halten. Er wollte wieder ein Gefühl für Gefahr auf die Bühne bringen und das Publikum mit einem »Perpetuum mobile« aus gleichzeitigen und doch widersprüchlichen Handlungen konfrontieren. »Die künstlerische Erfahrung«, schrieb er 1971, »muss eine Tortur sein, der man sich unterzieht.« Ja, dachte ich, als ich das las, genau so war It’s all true.
Am Freitagmorgen veranstaltete die Kunsthalle Bergen eine Diskussion über die »große Zukunft der Oper«. Just und Freely saßen mit anderen Teilnehmern des Festivals – Lore Lixenberg, Jennifer Walshe, Lars Petter Hagen – auf dem Podium, um zu diskutieren, »was die Zukunft für die Oper bereithält«. Über weite Strecken unterhielten sich die Sprecher allerdings über die Vergangenheit der Oper, klagten über den »Ballast«, der auf dem Wort laste und ergingen sich in verschiedenen Ausweichstrategien.
»Die Geschichte der Oper«, sagte Lixenberg, »ist in gewisser Weise ein Fluch.« Die berühmte Mezzosopranistin gab zu, dass es manchmal ein »Hindernis« sei, in einem Gespräch auf der Straße die Oper zu erwähnen. »Doch eigentlich ist die Oper immer noch wunderbar, relevant und eine zauberhafte Sache«, fuhr sie fort. »Nehmen wir die Aufführung von Object Collection gestern Abend: Das Spannende war die perfekte Verschmelzung von Bild, Musik und Text und es entstand etwas, das größer ist als die Summe seiner Teile.«
Nach ungefähr einer dreiviertel Stunde öffneten sie die Diskussion für das Publikum. In Anspielung auf den Titel des Panels fragte ich: »Warum treten die beiden Worte – Oper und Zukunft – zusammen auf? Was ist die Verbindung zwischen Oper und Zukunft?«
Dieses Mal gab es kein Gelächter. Nur Schweigen. Eine schmerzhafte Stille tat sich auf zwischen den Menschen auf dem Podium, sitzend und mit Mikrofon, und mir, im Schneidersitz, schwitzend im Publikum. Schließlich antwortete Travis Just, wenn auch eher kurz.
Gut ein Jahr zuvor hatte Just einen Aufsatz namens »After Opera« im siebten Band der von John Zorn herausgegeben Reihe Arcana geschrieben. Dort stritt Just für eine tiefgreifende Neubewertung des Genres. Jedes Element aus der Standarddefinition der Oper – die Musik, der Text, das Schauspiel –, alles sei inzwischen so oft durcheinandergeworfen worden, dass die Definition eigentlich nutzlos sei. Besser wäre es, nach dem zu streben, was er eine »Antisynthese« quasi-autonomer Elemente nannte, die um ein abwesendes Zentrum kreisen. Die Oper, so argumentierte er, sei ein paradoxes, absolut »unvollständiges Kunstwerk« und gerade deswegen voll von Möglichkeiten. Als ich ihn nach der Verbindung der Oper zur Zukunft fragte, sagte er: »Ich würde gern in der Zeit zurückreisen. Aber das ist keine Option.«
Noch mehr Stille.
Nach dem Vortrag stand ich vor der Kunsthalle und rauchte eine selbstgedrehte Zigarette. Mary Miller, die Direktorin der städtischen Oper, trat aus dem Haupteingang. Ich hatte sie während des Vortrages im Publikum gesehen. Im Vorbeigehen warf sie mir einen merkwürdig fragenden Blick zu, aber sie lief trotzdem weiter. Dann, nach ein paar Schritten, hielt sie an und machte kehrt. Als sie zurück an die Stelle kam, wo ich stand, sah sie aus, wie jemand, der angestrengt über etwas nachdenkt. »Das ist wirklich eine interessante Frage«, sagte sie. »Ich meine, nach der Zukunft der Literatur hat noch niemand gefragt…«
Sie hatte recht. Die Veranstaltung, die wir besucht hatten, stand im Kontext einer ganzen Reihe von Artikeln über die Zukunft der Oper, von denen keiner optimistisch war. 2013 hatte die New Yorker Oper Insolvenz angemeldet. Die Hälfte aller Opernhäuser in Italien sind angeblich pleite. Auch der englischen Nationaloper in London ging es nicht besser. »Wer kümmert sich um die Zukunft der Oper?«, fragte The Daily Telegraph am 1. September 2015. Bei dem Battle-of-Ideas-Festival im Barbican Centre einen Monat später hieß ein Panel »Eine sterbende Kunst? Die Zukunft der Oper«.
In vielen anderen Artikeln jener Zeit zeigten sich alle, von der Verwaltung bis zu weltberühmten Tenören, besorgt darüber, ob die »Zukunft der Oper in Gefahr« sei. In den meisten dieser Debatten verbargen sich eine Reihe alter Vorurteile: dass die Oper ein altmodisches, elitäres, steifes, unnatürliches Genre sei, eine Verschwendung von Steuergeldern, verhätschelt und zahnlos, hoffnungslos irrelevant für junge Leute und ohne Verbindung zur modernen Welt. All diese Dinge wurden seit dreihundert Jahren behauptet; und alles wurde widerlegt von der Aufführung von It’s all true am Abend zuvor.
1.2 Tropenfisch-Oper
Bei der Lektüre der Texte, die sich über den Zustand der Oper den Kopf zerbrechen, bekommt man den Eindruck, dass es sich bei der Kunstform um eine geschlossene Welt bizarrer Rituale handelt, als sei sie absichtlich verschlüsselt, damit die von Lore Lixenberg erwähnten einfachen Leute sie nicht verstehen. Das Gegenteil ist der Fall.
»Der Begriff der Oper ist im Moment vollkommen offen«, hatte Lars Peter Hagen irgendwann am Anfang des Gesprächs in Bergen gesagt. Hagen hat selbst eine Reihe faszinierender Opern komponiert, einschließlich einer »Dokumentar-Oper«, die er mit dem Künstlerduo Goksøyr & Martens produziert hat; geschrieben und aufgeführt wurde sie mit Schülern der Barnato Park High School in Johannesburg, basierend auf Materialien aus ihren eigenen Träumen. Seit 2009 ist er außerdem der künstlerische Direktor von Ultima, Norwegens größtem Festival für zeitgenössische Musik.
Im Herbst 2015 hatte ich das Glück, das Festival zu seinem 25. Jubiläum in Oslo zu besuchen. Es war inspirierend, einen solchen Aufwand für die neue Musik zu sehen. In Zusammenarbeit mit Gruppen aus Kulturrat und der Stadtregierung brachte Ultima Künstler aus der ganzen Welt zusammen, um mit den besten Ensembles des Landes zusammenzuarbeiten und neue, experimentelle Stücke in der städtischen Konzerthalle, einigen der besten Musiktheater und sogar dem nationalen Opernhaus aufzuführen. Das Konzert jedoch, das mich am meisten beeindruckte, fand an keinem dieser Orte statt. Aufgeführt wurde es draußen auf der Straße.
Es begann am Mittag auf einem Parkplatz mit acht jungen Männern in schwarzen Jeans, schwarzen Jacken und weißen Ohrstöpseln, die auf einem großen Stahltor trommelten. Mehrere Minuten lang standen sie in einer Reihe und schlugen immer und immer wieder mit Stäben auf das Metall. Jeder der Perkussionisten erhielt jedoch über seinen Kopfhörer seinen eigenen Takt, wodurch die Rhythmen wie Wellen pulsierten, ganz wie in einem der Tonbandstücke von Steve Reich.
Kurz darauf rannten sie los, durch das Tor, die Straße hinauf, schlugen mit ihren Stöcken auf den Asphalt, die Wände, Schilder, was auch immer, den verborgenen Resonanzen der Stadt auf der Spur. Sie rannten durch enge Seitenstraßen und folgten dabei einer gesprochenen Choreographie, die über Mobiltelefone direkt an ihre Kopfhörer übermittelt wurde. Manchmal hielten sie alle bis auf einen Künstler an, der ein paar Takte lang seinen eigenen Rhythmus weiterklopfte, bevor die anderen wieder einstimmten. Je weiter sie in die belebteren Teile der Stadt gelangten, umso mehr schien es, als ob all die Geräusche, die wir hören konnten, zu einem Teil des Konzerts wurden, eingerahmt von einem sich ständig verändernden Rhythmus, verwandelt in Musik: Das Aufheulen eines Autos, das Piepen einer Ampel und das Singen der Vögel in den Bäumen wurden zu Basslinie, Ostinato und Führungsstimme eines polyrhythmischen Stücks.
Irgendwann, nach gut 45 Minuten endete Sound Stencil 0.1 von Koka Nikoladze damit, dass alle acht Trommler auf einem großen Mast in der Mitte der Stadt spielten. Ich weiß nicht, wie sich das Ganze für all die Menschen angefühlt haben muss, die einfach nur einen Samstag verbrachten und hier und da etwas von dem Spektakel mitbekamen. Doch der Reise von Anfang bis Ende zu folgen, erweckte jeden Teil der Stadt zum Leben.
Nikoladzes Komposition brachte fast alle Elemente zusammen, die wir normalerweise mit dem Opernhaus verbinden: Musik, Tanz, ein ausgreifendes Bühnenbild, sogar eine Art Narrativ, insofern als sich die Gruppe von dem jüngst wiederaufgebauten Stadtviertel Grünerløkka im Norden, durch verschiedene Wohn- und Shoppingviertel zu Oslos zentralem Platz bewegte, der nach dem einst reichsten Bewohner der Stadt benannt ist. Mit...