Überleben als Verpflichtung
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Den Nazi-Mördern entkommen

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Überleben als Verpflichtung

Den Nazi-Mördern entkommen

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Die deutsch-israelische Autorin Inge Deutschkron beschäftigt sich in ihren zahlreichen Publikationen mit der Verfolgung von Juden in der Nazi-Zeit - und damit auch mit ihrer eigenen Situation als Jüdin in Deutschland. Ihr Schicksal als Überlebende des Holocaust ist für sie eine andauernde Verpflichtung, die dunklen wie auch die lichten Erlebnisse in der Vergangenheit gegen das Vergessen wachzuhalten. In Nachfolge zu ihrem Bestseller "Ich trug den gelben Stern", in dem sie ihr Überleben im Berliner Untergrund zwischen 1943 und 1945 schildert, legt Inge Deutschkron in dieser Textsammlung nun eine Quintessenz aus über fünf Jahrzehnten vor, in denen sie gegen das Vergessen gesprochen und geschrieben hat. Und sie kommt zu einem Fazit, das Hoffnung gibt: "Es gab Menschen, die sahen nicht zu, wie sie uns verfolgten, peinigten, quälten. Sie standen uns bei, halfen uns, versteckten uns, ohne an ihr eigenes Risiko zu denken. Nur wenigen widerfuhr dieses große Glück. Meine Familie sah ich nie wieder. Auch die vielen anderen nicht, die mir Freunde waren. An sie denke ich, wenn ich spreche, wenn ich arbeite, wenn ich mein Leben lebe."

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Information

Aus der Vergangenheit lernen

„Stille Helden“

Es ist mir eine besondere Freude – fast möchte ich es als ein Wunder bezeichnen, daß ich heute hier vor Ihnen stehe und mit Ihnen über ein Thema nachdenke, das mich seit dem Ende des Zweiten Weltkrieges beschäftigt. Als eine der Überlebenden oder genauer gesagt, als eine, die von mutigen Berlinern gerettet worden ist, war ich nie frei von dem Gefühl, es der ganzen Welt mitteilen zu müssen, daß es auch in Nazi-Deutschland Menschen gegeben hat, die ihren Kopf riskierten, um andere aus den Klauen ihrer Mörder zu retten. In England, wo ich die ersten Nachkriegsjahre verbrachte, glaubte mir das niemand. In den USA begegnete ich noch vor wenigen Jahren Menschen, die mich der Lüge bezichtigten, als ich von diesen Helden sprach. Nur in Berlin gab es schon frühzeitig Anerkennung für diese Retter. Die Stadt half jenen von ihnen, die durch das Kriegsende in eine finanzielle Notlage geraten waren. Wobei manchmal merkwürdige Maßstäbe angelegt wurden. Einer Puffmutter, die vier jüdische Frauen versteckte, unter ihnen jüdische Mädchen – eine von ihnen eine blinde Heimarbeiterin der Blindenwerkstatt Weidt –, wurde die dringend benötigte Hilfe „aus moralischen Gründen“ verweigert.
Die Nachricht vom Tode Otto Weidts, zwei Jahre nach Kriegsende, erreichte mich in England, der schlechten Postverbindungen wegen sehr spät. Sie traf mich tief. Wir alle, die bei ihm arbeiten durften, haben diesen Mann verehrt. Er gab uns nicht nur praktische Hilfe. In der Art, wie er uns zur Seite stand, tat er etwas für jene Zeit Unglaubliches: Er behandelte uns wie Menschen, kam uns mit Respekt entgegen, half uns, uns aufzurichten, sann mit uns über Auswege aus schwierigen Situationen nach, wußte immer wieder Rat. Ja, er gab uns ein Stück Selbstachtung zurück. Wir nannten ihn Papa, den Mann, der sich um uns sorgte und mit uns lebte im wahrsten Sinne des Wortes.
Mit seiner Witwe blieb ich bis zu ihrem Tode in Kontakt. Sie lebte von einer bescheidenen Rente, die ihr die Stadt gewährte, und war böse darüber, daß ihres Mannes Hilfe für Verfolgte nicht anerkannt wurde. Sie übergab mir die 150 Karten aus Theresienstadt, auf denen die Empfänger Pakete bestätigten, die ihnen Otto Weidt geschickt hatte. Wohl der einzige Deutsche, der den Hungernden im KZ mit Lebensmitteln aushalf.
Heutigen Statistiken zufolge verhalfen sie 25 Personen zum Überleben. Dazu übergab mir Frau Weidt eine Anzahl von Dokumenten, von deren Wichtigkeit ich wohl damals noch weniger verstand als sie.
Ich lebte acht Jahre ungern in England. Dort lernte ich, was es heißt, ein Ausländer zu sein. Mitte der fünfziger Jahre beschloß ich, nach Deutschland zurückzukehren. Ich ging nach Bonn, der damaligen Bundeshauptstadt, weil ich meinte, dort beim Aufbau der Demokratie mittun zu können. Zu meiner Überraschung fand ich eine Atmosphäre vor, die ich nicht begriff. Es war, als hätte es nie eine schreckliche Vergangenheit gegeben, hätte nie ein Deutscher schwere Schuld an Menschen auf sich geladen. Statt dessen saßen alte Nazis in hohen Positionen neu aufgebauter demokratischer Institutionen. Ihr Einfluß war spürbar. Ich mußte bald erkennen, daß ich mit meinem ständigen Erinnern an die Opfer, an die Retter, an die Verbrecher in Bonn störte. Gewiß, man tat schließlich etwas für eine sogenannte Wiedergutmachung und stellte Naziverbrecher vor Gericht, oft nur auf Druck des Auslands. Ihre Strafen spotteten häufig ihren Taten.
Im September 1951 legte Bundeskanzler Adenauer eine Regierungserklärung vor, mit der eine tolerante und verständnisvolle Haltung der Deutschen gegenüber dem Staat Israel und dem jüdischen Volk versichert wurde. Dann ging er im dritten Teil der Erklärung auf die Vergangenheit ein und betonte, daß die Mehrheit des deutschen Volkes die begangenen Verbrechen an den Juden verabscheut und sich nicht daran beteiligt habe.[5]

[5] Für den vollständigen Text siehe hier.
Was ich damals dazu empfand, brauche ich Ihnen sicher nicht klarzumachen. Es spornte mich an, mehr zu tun, deutlicher noch als zuvor über die Verbrechen der Nazizeit zu sprechen und die risikoreiche Hilfe der wenigen mutigen Retter hervorzuheben. Es machte mich noch mehr zum lästigen Störenfried. Ich erkannte die Nutzlosigkeit meines Tuns und wanderte schließlich nach Israel aus.
Im Jahr 1988, kurz vor der Wende, sah ich die Räume in der Rosenthaler Straße wieder, die einst die Blindenwerkstatt Weidt beherbergt hatten. Zu meiner Überraschung waren sie unverändert, so als ob keine vierzig Jahre nach Kriegsende vergangen waren. Ich hatte das Gefühl, ein Mausoleum zu betreten.
Die Erinnerung warf Schatten an die Wände, Schatten von Menschen und von Judensternen. Die hölzernen Treppenstufen, die schäbigen Dielen knarrten unter meinen Tritten wie einst, wenn wir uns vor der Gestapo zu verstecken suchten. Ich dachte damals viel darüber nach, wie man in diese Räume, die einst eine Oase in unserer damaligen Not gewesen waren, wieder Leben hineinbringen könnte.
Ich wandte mich an den Berliner Magistrat (Ost) mit der Bitte, man möge doch wenigstens eine Tafel der Erinnerung dort anbringen. Eine Antwort erhielt ich nie. Der erste, 1990 auf demokratische Weise gewählte Bürgermeister in Ost-Berlin, Tino Schwerzina, hatte Verständnis für mein Begehren, dem sich inzwischen Volker Hobrack (BVV) angeschlossen hatte. Doch bürokratische Barrieren konnten wir beide nicht wegräumen. Es war die damalige Präsidentin des Berliner Abgeordnetenhauses, Frau Hanna Renate Laurien, die mich ermutigte, eine Tafel der Erinnerung allen Widersachern zum Trotz anzubringen. Eine entsprechende Feierstunde im Jahr 1994 mit dem damaligen Senator für Kultur, Roloff-Momin, und einem Sohn von Otto Weidt, der von den Heldentaten seines Vaters – die elterliche Ehe war geschieden – nichts gewußt hatte, gab es schließlich. Mir schien das damals das Höchste, was wir zur Erinnerung an Otto Weidt erreichen konnten.
Doch die Geschichte der Blindenwerkstatt lebte einem Märchen ähnlich weiter. Eine Studentin, als Praktikantin in einer benachbarten Galerie beschäftigt, fand heraus, daß die drei letzten authentischen Räume der Blindenwerkstatt nur mit Schutt und Müll zugeschippt, während die anderen vermietet waren.
Sechs ihrer Kollegen beschlossen, sie zu säubern und dort eine erste Ausstellung über Otto Weidt, auch mit Hilfe einiger in meinen Händen befindlichen Dokumenten, aufzubauen. Einen Monat glaubten wir sie offenhalten zu können. Zwei der am Aufbau der Ausstellung beteiligte Studenten boten sich an, sie auf ehrenamtlicher Basis weiter offenzuhalten. Der vom israelischen Botschafter Awi Primor herbeigerufene Staatsminister für Kultur, Dr. Michael Naumann, fand, daß in diesen Räumen, in denen sich Geschichte abgespielt hatte, eine Dauerausstellung entstehen müßte. Seine Idee, sie an das Jüdische Museum anzugliedern, wurde mit der großen Unterstützung des Bundespräsidenten Johannes Rau 1 1/2 Jahre später realisiert.
Doch das Märchen hatte noch weitere Kapitel. Nach einem Vortrag in Boston 1994, in dem ich auch über Otto Weidt berichtete, stand plötzlich ein Herr vor mir, dessen Anblick mich erschreckte. Die Form seines Gesichtes, seine Bewegungen, seine Ausdrucksweise – es war Gary, der Sohn meiner Kollegin Alice Licht, der seiner Mutter so ähnlich sah. Gary erfuhr durch meinen Vortrag vieles über seine Mutter, die bereits gestorben war. Sie hatte nie über die Zeit bei Otto Weidt gesprochen. Wie so viele Gerettete nicht fähig sind, das Erlebte in Worte zu kleiden. Gary und ich trafen uns in seinem Kibbuz in Israel wieder. Seine Anwesenheit in Boston und damit unser erstes Zusammentreffen war rein zufällig zustande gekommen. Wir verdanken Gary eine ganze Reihe von Dokumenten aus der Hinterlassenschaft seiner Mutter, die Eingang in unsere Ausstellung gefunden haben.
Die uns von Staatsminister für Kultur, Michael Naumann, versprochene Dauerausstellung kam schließlich zustande, gleichzeitig mit der Wiedereröffnung der gesamten Fläche, die einst die Blindenwerkstatt ausmachte.
Und dies geschieht in Zusammenarbeit mit der Gedenkstätte Deutscher Widerstand, der wir vor einigen Jahren angegliedert wurden. Hier erfahren wir von Professor Dr. Tuchel und seinen Mitarbeitern großartige Unterstützung, die unsern Traum vom Zentrum für Stille Helden mit der Blindenwerkstatt und Otto Weidt als Mittelpunkt verwirklichen wird.
Doch ich möchte Ihnen auch davon berichten, daß wir vom ersten Tag unserer Existenz an im Jahr 1999 bestrebt waren, alles zu tun, um dem Aufbau eines Museums gerecht zu werden. Wir registrieren schon jetzt nach nur knapp sechs Jahren 20.000 Besucher pro Jahr, und diese Zahl steigt stetig. Eine große Zahl von Besuchern kommt übrigens aus den USA und vor allem aus Israel. Diese Zahl schließt Gäste ein, die zu unseren Veranstaltungen kommen mit Themen, die unserer Arbeit entsprechen. Dazu haben wir etwa 300 Führungen von Schulklassen im Jahr. Auch hier gibt es erfreulicherweise eine steigende Tendenz. Wobei ich bemerken möchte, daß mich die Zahl der Besucher und Schüler aus der ehemaligen DDR nicht befriedigt. Die Gründe für das Desinteresse der Ostdeutschen für unser Museum und dessen Inhalt ist mir unverständlich.
Im Jahr 2000 gründeten wir den Förderverein „Blindes Vertrauen“. Wir haben heute über 100 Mitglieder, von denen man uns sagt, diese Zahl sei erfreulich hoch. Uns reicht sie natürlich noch nicht. Wir haben in diesen ersten Jahren fünf Ausstellungen präsentieren können. Dabei kam uns der Maler Bruder Lukas Ruegenberg zu Hilfe, der unser Kinderbuch „Papa Weidt“ illustriert hat und seine Bilder zu einer Ausstellung zur Verfügung stellte – eine Ausstellung, die in Westdeutschland immer noch gezeigt wird. Von ihm stammte auch die Ausstellung seiner Bilder zum Jugendbuch „Jakob der Lügner“ von Jurek Becker. Die Karten aus Theresienstadt ergaben eine Ausstellung mit dem Titel „Zwischen den Zeilen“.
Eine Ausstellung galt Erich Frey, einem stark sehbehinderten Mitarbeiter der Blindenwerkstatt, den Weidt, wie wir erst vor wenigen Jahren erfuhren, in einem der Keller des Hauses Rosenthaler Straße versteckt hatte. Frey ist leider von der Gestapo geschnappt und nach Auschwitz deportiert worden. Unsere bisher letzte Ausstellung über das Jüdische Kinderheim in Niederschönhausen, das Otto Weidt unmittelbar nach dem Krieg wieder aufzubauen mithalf, wird von anderen Museen dieser Stadt übernommen werden.
Spenden unserer Mitglieder werden es uns ermöglichen, in Kürze Stolpersteine für 24 der ehemaligen Mitarbeiter der Werkstatt vor ihrem letzten Wohnort verlegen zu lassen. Schulkinder werden die nötigen Recherchen durchführen.
Wir gingen in kurzer Zeit einen langen, nicht immer leichten Weg. Ich bin ein bißchen stolz darauf. Dabei erfreut mich die Tatsache, daß viele junge Leute zu uns kommen, deren Interesse an unserer Ausstellung und deren Neugier, die Wahrheit über die Vergangenheit zu erfahren, erstaunlich und erfreulich groß ist. Es läßt die Hoffnung zu, daß sie verstehen, was unsere Ausstellung ihnen sagen will, und daß sie die Maxime verinnerlichen, nach denen Otto Weidt lebte, nämlich, daß jeder Mensch auf dieser Erde ein Recht auf Leben hat, ganz gleich, welcher Hautfarbe, ganz gleich, welcher Religion, ganz gleich, welcher politischen Bindung.
In diesem Sinne wünsche ich uns weiterhin eine gute Zusammenarbeit, die auch den heutigen Tag prägen soll.

Endspurt – Überleben in Berlin 1943 – 1945

Man schrieb den 27. März 1945. Die Armeen der westlichen Alliierten und der Sowjetunion stießen unaufhaltsam innerhalb Deutschlands in Richtung Berlin vor. Ihr Sieg über das nationalsozialistische Deutschland war nur noch eine Frage von wenigen Wochen. An jenem 27. März gelang es der Gestapo zum letzten Mal, Juden in Verstecken aufzustöbern und sie – 42 an der Zahl – aus Berlin ins Lager Theresienstadt zu befördern.
Zwei Jahre zuvor hatte der Reichsminister für Propaganda, Joseph Goebbels, Berlin für judenrein erklärt und dies als einen großen Sieg nationalsozialistischer Politik gefeiert. Seinem Tagebuch vertraute er an, daß es Juden gegeben habe, „die uns durch die Hände gewischt sind. Aber wir werden ihrer noch habhaft werden.“ Und tatsächlich – in letzter Minute konnten die Nazis noch einige dieser Menschen dem von ihnen für sie bestimmten Schicksal zuführen.
Der Wendepunkt im von den Nazis angezettelten Krieg war schon Anfang des Jahres 1943 überschritten. Die deutsche Armee hatte in einer der längsten und grausamsten Schlachten um die Stadt Stalingrad eine ihrer folgenschwersten Niederlagen erlitten. Die letzten Soldaten der 6. Armee hatten sich ergeben und waren mit Generalfeldmarschall Paulus den Weg in die sowjetische Gefangenschaft angetreten. Von da an trieben sowjetische Truppen deutsche Soldaten aus ihrem Land dahin zurück, wo sie hergekommen waren. Als Frontbegradigung stellte das Oberkommando der Wehrmacht den um ihre Männer und Söhne bangenden Frauen diese Operation dar.
Zur gleichen Zeit verstärkten die nationalsozialistischen Machthaber die Zahl der Deportationen von Berliner Juden in Richtung Auschwitz. Am 27. Februar 1943 holten sie die noch in der Stadt lebenden Juden ab. Sie holten sie von den Werkbänken, an denen sie zur Herstellung von Munition und Materialien für Hitlers Krieg gezwungen worden waren. Sie holten sie aber auch vor aller Augen der Hausbewohner aus ihren Wohnungen oder griffen sie auf der Straße auf. Für den Transport von über 7.000 Menschen in die Konzentrationslager hatten sie erstaunlicherweise Waggons zur Verfügung, die ihnen zu jener Zeit für den Nachschub ihrer Soldaten an die Front häufig fehlten. Dieser 27. Februar 1943 ist als „Fabrikaktion“ in den beschämendsten Teil zeitgenössischer deutscher Geschichte eingegangen.
An jenem 27. Februar 1943 endete das Leben und Wirken jüdischer Menschen in dieser Stadt. Von den einst 160.000 Einwohnern jüdischen Glaubens hielten sich nur noch jene in Berlin und Umgebung auf, denen es gelungen war, sich zu verstecken. Ihre genaue Zahl ist unbekannt. Schätzungen zufolge handelte es sich um 7.000 bis 10.000 Menschen, die den Versuch unternahmen, den Nazi-Häschern zu entkommen. Wenige Tage nach der Fabrikaktion, in der Nacht vom 1. zum 2. März 1943, flogen englische Bomberverbände einen der ersten schweren Luftangriffe auf Berlin. Er konzentrierte sich, wohl rein zufällig, auf einen Bezirk, in dem viele Juden ihre Wohnungen hatten. „Die Juden rächen sich“, so flüsterten Berliner einander zu.
„Sie ermorden sie alle.“ Die das unter Tränen sagte, war Emma Gumz. Zusammen mit ihrem Mann betrieb sie eine Wäscherei mit Heißmangel im Westen Berlins (Knesebeckstr. 17). Der Nachbarsjunge sei auf Heimaturlaub von der Ostfront. Dort habe er gesehen, was sie mit den Juden machen, berichtete die Frau. Der junge Soldat hätte unterschreiben müssen, daß er nicht darüber spricht, was er gesehen habe. „Aber wer kann denn das?“, fügte sie hinzu. Und dann kam es wie ein Befehl aus ihrem Mund: „Frau Deutschkron, Sie nehmen den Stern ab und kommen mit Inge zu uns. Wir verstecken Sie!“ Als wir tatsächlich nach längerem Nachdenken und vielen Gesprächen am 15. Januar 1943 bei der Familie Gumz untertauchten, leuchteten die Augen dieser Frau, und sie sagte sehr bewegt: „Ich bin ja so stolz, daß ich Sie dazu überreden konnte.“
Sie kamen aus Lehrerkreisen, waren Arbeiter, Professoren, Gewerkschafter, Politiker, Kleinfabrikanten, die uns wie Frau Gumz ihre Hilfe anboten. Sie hatten von Anfang an ihre Augen nicht vor dem Unrecht verschlossen, das Juden, politischen Gegnern, Gewerkschaftern, Homosexuellen, Zigeunern von den 1933 an die Macht gelangten Nationalsozialisten angetan wurde. Sie waren Menschen aus allen Schichten der Gesellschaft mit stark ausgeprägtem Gefühl für Recht und Unrecht. Und so dachten sie auch nicht darüber nach, was es in diesem Staat, in dem von nun an politische Verbrecher das Sagen hatten, für Folgen für sie selber haben würde, könnte man sie als Beschützer von Juden enttarnen. Sie ertrugen es einfach nicht, untätig zusehen zu müssen, wie man Menschen ihrer Religion oder ihrer politischen Einstellung wegen verfolgte. Und schließlich ihrer Ermordung zutrieb.
Meiner Mutter war der Entschluß, uns der Deportation zu entziehen, nicht leicht gefallen. Im November 1942 waren die letzten Mitglieder unserer Familie abgewandert, wie Deportationen im Amtsdeutsch umschrieben wurden. War es rechtens, sie mit ihrem Schicksal allein zu lassen, das auch für uns bestimmt war? Meine Mutter suchte eine Antwort auf diese Frage. Sie fand sie nicht, Schuldgefühle blieben zurück. Sie verließen uns nie. Ein Leben lang.
Dazu plagte sie die Sorge, wie lange dieser ihr unwürdig erscheinende Zustand, ohne eigenes Dach über dem Kopf und mit allen Kleinigkeiten und Lebensnotwendigkeiten auf die Freunde angewiesen, dauern würde. Drei Monate?, wie ein Freund nach jedem den Nazis abträglichen Ereignis, wie der Zusammenbruch der deutschen Front in Nordafrika oder der Sturz Mussolinis, immer wieder voraussagte? Überzeugen konnte er mit dieser Meinung niemanden. Doch seine Freunde und auch wir vernahmen seine Prophezeiungen nur allzu gern. Ein bißchen Hoffnung blieb immer zurück.
Der englische Sender BBC tat ein übriges. Er versorgte jene, die es wissen wollten, mit Nachrichten in deutscher Sprache über den Stand des Krieges aus englischer Sicht. Es war bei Todesstrafe verboten, ausländische Sender abzuhören. Doch diese Sendungen wurden bald zu Ritualen des Tagesablaufs aller unserer Freunde, die man nicht versäumen durfte. Mit einer Decke über Kopf und Radio krochen sie förmlich in den Apparat hinein. Oft verzweifelten sie und fluchten, wenn der Sender gestört wurde, von denen, die nicht wollten, daß das deutsche Volk die Wahrheit über den Krieg erfahren sollte. Manch hitzige Debatte folgte diesen Nachrichten aus der freien Welt, die jeder auf seine Art interpretiert sehen wollte. Aber jede Auslegung hatte das baldi...

Table of contents

  1. Inhalt
  2. Vorwort
  3. Kurzbiographie – Ein Todesurteil und vier Leben
  4. Verlorene Jugend
  5. Die deutsche Gesellschaft in der Nachkriegszeit
  6. Psychogramm eines Volkes
  7. Überleben – eine Herausforderung
  8. Deutschland und Israel
  9. Hoffnung auf eine neue Generation
  10. Aus der Vergangenheit lernen
  11. Quellenverzeichnis