Vom guten Tod
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Vom guten Tod

Die aktuelle Debatte und ihre kulturgeschichtlichen Hintergründe

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Vom guten Tod

Die aktuelle Debatte und ihre kulturgeschichtlichen Hintergründe

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Was ist ein "guter Tod"? Gibt es den überhaupt? Reiner Sörries nimmt die neu entbrannte Debatte um die Sterbehilfe zum Anlass, um über diese alte Menschheitsfrage nachzudenken. Er nimmt uns mit auf einen spannenden Streifzug durch die Kulturgeschichte von der Antike über das mittelalterliche "Memento mori", die romantische Idealisierung im 19. Jahrhundert bis in unsere Gegenwart mit ihrem radikalen Protest, aber auch mit ihren illusorischen und zuweilen gefährlichen Tendenzen.Die aktuelle Debatte um ein Recht auf Selbstbestimmung auch im Sterben bekommt durch diesen kundigen Blick in die Geschichte eine ganz neue Orientierung.

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Information

Year
2015
Print ISBN
9783766619457
eBook ISBN
9783766642837

XII. Euthanasia und Euthanasie – ihre Pervertierung im Nationalsozialismus

Zwei Worte, die sich nur in der Endung des letzten Buchstabens voneinander unterscheiden, beschreiben Sachverhalte, zwischen denen sich Welten, ja Abgründe auftun. Die Schrecken der nationalsozialistischen Tötungsverbrechen an Schwachen, Kranken und Behinderten, die mit Euthanasie umschrieben werden, überlagern das, was eigentlich mit Euthanasia bezeichnet wird. Und wer würde leugnen, sich am Ende, wenn es denn sein muss, einen guten Tod zu wünschen. Nichts anderes meint das aus eu (= gut) und thánatos (= Tod) zusammengesetzte Wort, einfach einen guten Tod. Auf den Wortsinn bei den alten Griechen sind wir bereits eingangs kurz zu sprechen gekommen, und er wurde in der Renaissance, jener Zeit, die sich an die Antike erinnerte, neu belebt.

Euthanasia als Hilfe zum guten Tod

In seiner Staatsutopie schrieb der englische Staatsmann und Humanist Thomas Morus 1516: „Sogar unheilbar Kranken erleichtern sie ihr Los, indem sie sich zu ihnen setzen, ihnen Trost zusprechen und überhaupt alle möglichen Erleichterungen verschaffen.“ Fast ein Jahrhundert später präzisierte sein Landsmann Francis Bacon, ebenfalls Staatsmann und Wissenschaftler, den Gedanken des guten Todes, indem er es zu den Aufgaben des Arztes rechnete, dem leidenden Menschen sein Lebensende leichter und schmerzloser zu gestalten. Dabei unterschied Bacon zwischen einer inneren und einer äußeren Euthanasie. Erstere bezieht sich auf die Linderung der Seelenqualen, und man könnte darin noch einen Nachhall der mittelalterlichen Seelentröstung sehen, doch die äußere Euthanasie meint nun eine echte Abhilfe bei den körperlichen Leiden:
Ferner halte ich es der Pflicht eines Arztes gemäß, dass er nicht nur die Gesundheit wiederherstelle, sondern dass er auch die Schmerzen und Qualen der Krankheit lindere, und das nicht nur, wenn jene Linderung des Schmerzes als eines gefährlichen Zufalles zur Wiederherstellung der Gesundheit dient und beiträgt; sondern auch dann, wenn ganz und gar keine Hoffnung mehr vorhanden, und doch aber durch die Linderung der Qualen ein mehr sanfter und ruhiger Übergang aus diesem zu jenem Leben verschafft werden kann.
Mit dieser ganzheitlichen Betrachtung der Hilfe beim Sterben, die Seele und Leib umfasst, nähern sich Morus und Bacon stark dem an, was wir heute unter palliative care verstehen. Euthanasia in diesem Sinn ist dann beileibe kein Unwert.
Allerdings fügte Thomas Morus seinen Gedanken bereits die Überlegung hinzu, es könne unter bestimmten Umständen sogar geboten sein, den Sterbeprozess des Schwerkranken aktiv zu beeinflussen: Ist indessen die Krankheit nicht nur unheilbar, sondern dazu noch dauernd qualvoll und schmerzhaft, dann reden Priester und Behörden dem Kranken zu, da er doch allen Anforderungen des Lebens nicht mehr gewachsen, den Mitmenschen zur Last, sich selber unerträglich, seinen eigenen Tod bereits überlebe, solle er nicht darauf bestehen, die unheilvolle Seuche noch länger zu nähren, und nicht zögern zu sterben, zumal das Leben doch nur eine Qual für ihn sei; er solle sich also getrost und hoffnungsvoll aus diesem bitteren Leben wie aus einem Kerker oder aus der Folterkammer befreien oder sich willig von anderen herausreißen lassen; daran werde er klug tun, da ja der Tod keinen Freuden, sondern nur Martern ein Ende mache: „Wen sie damit überzeugt haben, der endigt sein Leben entweder freiwillig durch Enthaltung von Nahrung oder wird eingeschläfert und findet Erlösung, ohne vom Tode etwas zu merken.“55 Freilich sollte dies nur mit ausdrücklicher Zustimmung des Sterbenden und Sterbewilligen geschehen: „Gegen seinen Willen aber töten sie niemanden, und sie pflegen ihn deshalb auch nicht weniger sorgfältig.“ Für Morus genossen die Freiwilligkeit und Autonomie des Menschen oberste Priorität.
Als eine Hilfe, erträglich zu sterben, wollte auch der Chirurg und Anatom Johann Christian Reil die Euthanasia verstanden wissen. In seinem 1816 erschienenen Entwurf der allgemeinen Therapie widmete er ein eigenes Kapitel der „Euthanasia, oder von den Hülfen erträglich zu sterben“56.
Geboren werden und sterben, gesund und krank seyn, das sind die Stadien im menschlichen Leben. Um dem Menschen ins Leben hinein zu helfen, dazu giebt es eine eigene Kunst, die Hebammenkunst, aber dafür, dass man erträglich wieder herauskomme, ist fast nichts gethan.
Mit diesen Worten beginnt das Kapitel über die Euthanasia. Darin beschreibt Reil einerseits krankheitsbedingte Sterbeprozesse, bei denen der Sterbende seinem Tod mit Gelassenheit begegnen kann, andererseits gibt es jedoch auch schwer verlaufende Prozesse:
Allein zuweilen ist auch das Sterben ein bitteres Ding. Die Krankheit ist schmerzhaft und hart, und das Bewusstseyn helle … In diesen Fällen tritt nun die Aufgabe ein, Euthanasie zu bewirken, die Plagen der Krankheit zu mildern, die Seele zu stählen, dass sie mit kraftvoller Resignation den Tod duldet, oder das Bewusstseyn desselben zu verdunkeln.57
Reil zufolge hat hier der Arzt eine psychische und eine physische Aufgabe, die modern gesprochen bis zur Sedierung reichen kann. Ziel des Bemühens muss es sein, „dass der Mensch am natürlichen Tod sterbe, der sanft ist“. Sehr detailliert widmet sich Reil den besonderen Umständen, auch der Konstitution des Patienten, welche das Sterben sowie die Euthanasie erschweren können. Stets aber bleibt der Sterbende „eine heilige Sache, für die wir Alles zu thun schuldig sind, was Vernunft und Religion gebietet, von dem wir alle unangenehmen Eindrücke, physische und moralische, abwenden müssen, so weit es uns möglich ist“58.
In Reils Euthanasia findet man bereits ausgesprochen moderne Gedanken, die so auch das Selbstverständnis einer zeitgemäßen Palliativversorgung ausdrücken könnten. Ähnlich wie Reil sah es der Arzt Karl Friedrich Heinrich Marx, der in seiner 1826 verfassten Schrift De euthanasia die Pflichten des Arztes folgendermaßen definierte: „Es gibt drei Pflichten des Arztes: Vorbeugung, Heilung und die Hilfe bei einem guten Tod.“59
Andeutungen, man könne den Tod des Sterbenden auch herbeiführen helfen, die man aus dem Gesagten ableiten könnte, stießen unter den Zeitgenossen jedoch auch auf Kritik. Christoph Wilhelm Hufeland (1762–1836) plädierte uneingeschränkt dafür, dass die einzige Aufgabe des Arztes darin besteht, das Leben zu erhalten, egal „ob es ein Glück oder Unglück sei, ob es Werth habe oder nicht“ – das habe den Arzt nicht zu interessieren. Er habe aber im Sinne der Euthanasia alles dafür zu tun, um das Leiden zu erleichtern. Der Arzt dürfe sich auch nicht anmaßen, etwa über den Wert oder Unwert des Lebens zu urteilen, er könne sonst, so Hufeland, gar zum gefährlichsten Mann im Staat werden. Dieser Grundtendenz schloss sich der Gesetzgeber an, der im Reichsstrafgesetzbuch von 1871, § 216, sowohl die aktive Sterbehilfe wie die Tötung auf Verlangen verbot.

Euthanasie als Instrument der Auslese

Mit der Etablierung der Thesen von Charles Darwin vom evolutionären Ausleseprozess, in dem nur der jeweils Stärkere den Kampf ums Dasein besteht, gewannen Überlegungen an Boden, durch biologische Maßnahmen die menschliche Rasse zu vervollkommnen. Man könne die Starken stärken, indem man die Schwächeren ausmerzt. So könne auf jeden Fall verhindert werden, dass sich das Blut der Schwachen mit jenem der Starken vermischt. Einer der Ersten, der Darwins Überlegungen in diesem Sinne weiter entwickelte, war der Zoologe, Philosoph und Freidenker Ernst Haeckel (1834–1919). Mit dem Verweis auf den in vielen Kulturen geübten Infantizid plädierte er für die Euthanasie behinderter Kinder. Dabei hatte die Kindstötung, auch im Sinne der Familienplanung, nicht nur bei den Spartanern oder den Indianern Tradition, sondern sie wurde bis an den Rand der Gegenwart hierzulande geübt.
Im antiken Griechenland und Rom war das Recht der Kindstötung staatlich geregelt. Es war dem Vater erlaubt, nach eigenem Gutdünken das Kind auszusetzen, zu verkaufen, als Opfergabe darzubringen oder es zu töten. Auch bei den Germanen besaßen Kinder kein angeborenes Lebensrecht; ein solches erwarben sie erst durch die Muntschaft des Vaters.60 In der Antike wurden in Indien, China sowie in Mitteleuropa missgebildete Kinder nicht großgezogen. Selbst Martin Luther plädierte ganz im Sinne seiner Zeit dafür, geistig behinderte Kinder zu töten, denn sie seien Werkzeuge des Teufels. Ein gängiges Instrument der Familiengestaltung bestand darin, schwächliche und kränkliche Kinder in kalten Stuben bei offenem Fenster der Prüfung auszusetzen, ob sie widerstandsfähig genug seien, dieser Situation zu trotzen. Starben sie dabei, nannte man das im Volksmund himmeln. Die Eltern gaben ihr nicht überlebensfähiges Kind dem himmlischen Vater zurück und konnten ihr Augenmerk dem kräftigen Nachwuchs widmen. Noch bis 1998 legte der § 217 im deutschen Strafgesetzbuch einen milderen Strafrahmen für die Kindstötung unehelicher Kinder durch die Mutter fest, da man ihr aufgrund der gesellschaftlichen Diskriminierung dieser Frauen eine psychische Zwangslage zubilligte. Diese Sachverhalte sollen lediglich erläutern, dass der heute absolut gesetzte Lebensschutz Folge eines kulturellen Lernprozesses ist. Die Tötung als Instrument der Auslese wurde auf manchen Kulturstufen als Recht oder Notwendigkeit angesehen oder zumindest geduldet bzw. als minder strafbares Delikt angesehen.
Lange vor der Zeit des Nationalsozialismus und noch vor dem Ersten Weltkrieg waren Vertreter der Rassenhygiene überzeugt, man könne durch geeignete Maßnahmen die Züchtung einer starken Rasse befördern.

Euthanasie als Instrument zur Ausmerzung der Schwachen

Vom Gedanken der Stärkung der Starken durch Auslese zur Überlegung der Ausmerzung der Schwachen durch Vernichtung war es ein fließender Übergang. Die bereits von dem österreichischen Psychologen Adolf Jost 1895 angestellte Überlegung, es könne Situationen geben, in denen der Tod eines Individuums sowohl für dieses selbst als auch für die Gesellschaft überhaupt wünschenswert sei61, wurde 1920 durch den Leipziger Juristen Karl Binding und den Freiburger Psychiater Alfred Hoche radikalisiert, indem sie konkret die Vernichtung unwerten Lebens propagierten.62 Mit ihrer programmatischen Schrift legten die beiden hoch angesehenen Professoren die Grundlage für die nationalsozialistischen Euthanasieprojekte. Die beiden Autoren sahen die Freigabe der Tötung einerseits für Menschen vor, die als unrettbar Verlorene selbst den Wunsch nach Erlösung hatten, andererseits für solche, die als unheilbar blödsinnig galten, deren Leben absolut zwecklos wäre. Für diese geistig Toten sei es ein guter Tod, sterben zu dürfen.
Im Nationalsozialismus leitete man daraus das Recht ab, alles auszutilgen, was dem gesunden Volkskörper schaden könnte. Dabei wurde auch öffentlich der volkswirtschaftliche Schaden angeführt, der durch die kostenintensive Pflege der minderwertigen Elemente und Defektmenschen entstünde. Im Konzept des unwerten Lebens geschah der herbeigeführte Tod dieser Ballastexistenzen zum Wohl der Betroffenen und des Volksganzen. Hunderttausende fielen während der Nazi-Diktatur dem auf die Spitze getriebenen Sozialdarwinismus zum Opfer. Solcherart pervertierte Euthanasia, die im Nürnberger Ärzteprozess nur unzureichend aufgearbeitet werden konnte, machte eine einigermaßen objektive Auseinandersetzung mit dem Thema des guten Todes in der Nachkriegszeit nahezu unmöglich. Stattdessen ermöglichten es der medizinische Fortschritt, die Apparate- und Intensivmedizin, die Lebenserhaltung und Lebensverlängerung um jeden Preis zur obersten Maxime werden zu lassen.

Die Tabuisierung der Euthanasie

In der Folge der nationalsozialistischen Euthanasieverbrechen geriet aber nicht nur die Tötung unwerten Lebens, sondern jede Diskussion um Sterbehilfe in eine Tabuzone, auch weil man an diese Gräueltaten, begangen im Namen des deutschen Volkes, nicht erinnert werden wollte. Das betraf aber nicht nur Deutschland. Auch in den USA, in denen bereits in den 1930er-Jahren eine ernsthafte Diskussion um das Recht auf den eigenen Tod eingesetzt hatte, kam die Euthanasiebewegung, die sich formiert hatte, zum Erliegen. Dort hatten die Menschen weitab von deutschen Rassehygienediskursen das Schicksal von Menschen diskutiert, die aufgrund einer schwerwiegenden, unheilbaren Erkrankung getötet werden wollten. Die US-amerikanische Euthanasiebewegung fand dafür Begriffe wie mercy killing (Gnadentötung) oder beneficent euthanasia (wohltätige Euthanasie).
Gestoppt worden war diese Entwicklung durch die Berichterstattung über die Nürnberger Ärzteprozesse in den amerikanischen Medien. Hauptakteur war der Arzt und Offizier Leo Alexander, der sowohl als Berater der Ankläger wie als Berichterstatter fungierte. Er schilderte den schleichenden Prozess einer Verschiebung ethischer Werte und des moralischen Bewusstseins der Ärzte:
Es begann mit der Akzeptanz der Einstellung, dass es bestimmte Leben gibt, die nicht wert sind, gelebt zu werden. Diese Einstellung umfasste in seiner frühen Ausprägung die ernsthaft und chronisch Kranken. Allmählich wurde der Kreis derjenigen, die in diese Kategorie einbezogen wurden, ausgeweitet auf die sozial Unproduktiven, die ideologisch Unerwünschten, die rassisch Unerwünschten. … es ist wichtig zu erkennen, dass die unendlich kleine Eintrittspforte, von der aus diese ganze Geisteshaltung ihren Lauf nahm, die Einstellung gegenüber nicht rehabilitierbarer Krankheit war.63
Was Alexander als unendlich kleine Eintrittspforte bezeichnete, nannte man später mit seinen Worten eine oiled oder slippery slope, eine glitschige, schiefe Ebene, auf der alle menschlichen Werte und Vorbehalte gegen eine Tötung von Menschen ins Rutschen kommen würden. Deshalb sei von Anfang an jegliche Form der Euthanasie kategorisch abzulehnen. Sei erst mal das Tor dafür einen Spalt breit offen, dann würde es bald ganz aufgestoßen sein.
Erst in den 1970er-Jahren kam in den USA neue Bewegung in die Debatte, als angesichts öffentlich gewordener Komapatienten die Frage diskutiert wurde, ob es erlaubt sei, die lebenerhaltenden Geräte abzuschalten. Die Folge waren die sog. Living-will-Erklärungen, in denen es den Menschen möglich wurde, Erklärungen darüber abzugeben, in welchen Fällen von als aussichtslos empfundener Erkrankung welche Maßnahmen abgebrochen oder nicht mehr angewandt werden sollen, wenn sie sich selbst nicht mehr äußern können.
Zur selben Zeit mehrten sich in Deutschland die Klagen über eine zwar technisch hochstehende, aber als unmenschliche empfundene Medizintechnokratie. Ihr den Spiegel vorzuhalten war die Absicht des in Österreich geborenen Naturwissenschaftlers und Theologen Ivan Illich, als er beklagte, dass die Menschen der natürlichen Erfahrung von Gesundheit, Krankheit und Tod entfremdet werden. Unter dem Titel Die Enteignung der Gesundheit hatte Illich 1975 seine mit kritischer Brillanz verfasste Analyse des modernen Gesundheitswesens vorgelegt, die in späteren Auflagen den Titel Die Nemesis der Medizin – Die Kritik der Medizinalisierung des Lebens trug. Auch hierzulande wuchs die Sorge vor einer übermächtigen Medizin, die den Patienten und Sterbenden letztlich allein ließ. Es wuchs die Sorge, um es mit einem Buchtitel von Norbert Elias zu sagen, um Die Einsamkeit der Sterbenden in unseren Tagen. Zu dieser Einsamkeit und zur Bevormundung durch eine seelenlose Medizin wollte man nicht verurteilt sein, und so entstand analog zu den amerikanischen Living-will-Erklärungen die Patientenverfügung. Der Jurist Wilhelm Uhlenbruck entwarf 1978 die erste, damals noch Patientenbrief genannte Patientenverfügung. Die kleine Eingangspforte zur Rehabilitierung der Euthanasia stand wieder einen Spalt offen.

Euthanasie als Recht auf den eigenen Tod

Man nannte die Euthanasie nicht mehr beim Namen, sondern umschrieb sie mit humanes Sterben. Auf Initiative des Bundes für Geistesfreiheit in Nürnberg gründeten 1976 die Deutsche Friedensgesellschaft, die Humanistische Union Nürnberg, die dortigen Jungdemokraten und Jungsozialisten sowie die Gruppe der Nürnberger Zivildienstleistenden eine „Initiative für humanes Sterben nach Wunsch des Sterbenden“64. In einem Aufruf, der sich an alle „demokratischen Bürgerinnen und Bürger“ wandte, formulierte sie ihre Ziele:
Nicht länger dürfen in den Krankenhäusern (Intensivstationen!) die auf den Tod erkrankten Menschen ohne ihre Einwilligung zu einem „Sterben auf Raten“ verurteilt werden. Die gnadenlose Apparatur der rein technischen Lebensverlängerung ist auf Wunsch jedes Betroffenen auszuschalten. Nicht länger darf durch sie der erlösende Tod nur noch hinausgezögert und somit das Menschenrecht auf einen schmerzlosen und menschenwürdigen Tod verletzt werden.
Die Verantwortlichen der Initiative waren sich durchaus bewusst, dass die Erfüllung des Wunsches nach einer Erleichterung oder Beschleunigung des Sterbens dem internationalen Sprachgebrauch entsprechend Euthanasie ist, allerdings betonten sie, dass es sich „… hier nur um das minimale Ausmaß der Euthanasie, nicht um irgendeine umfangreichere – diskutable oder indiskutable – Euthanasie“ handelt.65 Deshalb ersetzten sie diesen belasteten Begriff durch „Recht auf humane Sterbehilfe“, und der Tatbestand der Tötung auf Ve...

Table of contents

  1. Inhalt
  2. Vorwort
  3. I. „Etwas Besseres als den Tod findest du überall!“
  4. II. Der Tod als Baustein der Evolution – Alte und neue Gedanken
  5. III. „Es hat Gott gefallen …“
  6. IV. Der gute und der jähe Tod – im Mittelalter
  7. V. Der sanfte und der selige Tod – Gedanken der Reformation
  8. VI. Das scheußliche Gerippe – nicht nur im katholischen Barock
  9. VII. Bruder Tod – Wandlungen der Aufklärung
  10. VIII. Der Selbstmord – kein guter Tod?
  11. IX. Der Opfertod – ein guter Tod?
  12. X. Todesangst, Todestrieb und Todeslust – im 19. Jahrhundert
  13. XI. Die Skandalisierung des Todes – im 20. Jahrhundert
  14. XII. Euthanasia und Euthanasie – ihre Pervertierung im Nationalsozialismus
  15. XIII. Sterben lernen – im Hier und Jetzt
  16. XIV. Die Autonomie des Menschen oder die Debatte um die Sterbehilfe
  17. XV. Und der Tod wird nicht mehr sein – in Zukunft?
  18. XVI. Vorläufige Gedanken zum Schluss
  19. Anmerkungen
  20. Weiterführende Literatur