1.Aufstieg Chinas bei Stagnation oder gar Abstieg des Westens?
Folgen der geopolitischen Krise des Westens
âWer rettet den Westen?â titelte Der Spiegel Nr. 17 vom 21. April 2018 mit einem in Flammen stehenden Trump, einer weinenden Kanzlerin Merkel und einen mit Augenzwinkern den Feuerlöscher schwingenden Macron. Die Ausgabe trĂ€gt den Untertitel âEs geht um Freiheit und Demokratie â Macron braucht Hilfe, doch Deutschland versagt.â1 Solche Berichte lösen bei Manchem Fragen aus. Ăbertreiben die Journalisten und Kassandrarufer wie der Ex-AuĂenminister Joschka Fischer in seinem Buch âDer Abstieg des Westens â Europa in der neuen Weltordnung des 21. Jahrhunderts?â2
Sachlich betrachtet, muss man leider feststellen, keineswegs. Im Gegenteil, es entsteht der Eindruck, als ob viele die Wucht und Schnelligkeit der sich bereits vollziehenden geopolitischen Neuausrichtungen noch gar nicht richtig realisieren. Noch schlimmer, viele sehen die gefĂ€hrliche Zuspitzung der militĂ€rischen Konfrontation insbesondere gegenĂŒber Russland nicht und die damit verbundene Gefahr einer ernsthaften Konfrontation, die keinen Sieger kennt. Daran hat sich auch durch das ĂŒberraschende Gipfeltreffen von US-PrĂ€sident Trump mit Nordkoreas Machthaber Kim Jong Un in Singapur nicht viel geĂ€ndert, weil viele Details noch völlig offen sind.
Gefordert ist eine andere Dimension der Weltsicht als die bloĂe Frage, ob die alte unipolare Weltordnung unter FĂŒhrung der USA bröckelt und welche Rolle Deutschland auĂenpolitisch spielt. Eine weitsichtigere Weltperspektive muss sowohl dieses Spiel mit dem atomaren Feuer als auch die offenbaren KlimaverĂ€nderungen und damit verbundenen Ăberlebensfragen der Menschheit einschlieĂen. Das geschieht leider viel zu wenig, weil der Blickwinkel auf Wirtschaftsfragen verengt ist.
In der langen Phase der SelbstbeschĂ€ftigung Deutschlands mit der quĂ€lenden Regierungsbildung seit September 2017 bis MĂ€rz 2018 wurde von allen politischen Parteien der Zeitfaktor unterschĂ€tzt. Mit wem sollte verhandelt oder nur gesprochen werden, wenn keine Klarheit ĂŒber die kĂŒnftige Mehrheit herrschte und sogar Neuwahlen drohten? Das politische Gewicht Deutschlands hat sich damit wohl verringert, kann aber steigen, wenn gerade wir Deutschen vor dem Hintergrund zweier Weltkriege alles daran setzen, einen dritten zu verhindern. Im Grunde genommen spielt es keine Rolle, welche Regierung unter welcher Kanzlerschaft mit sich selbst beschĂ€ftigt ist, statt mit weltpolitischen Problemen. Das Ă€nderte sich auch nach der mĂŒhevollen Zwangskoalition durch den erneut entflammten Zank um die FlĂŒchtlingspolitik nicht. Nunmehr erfolgte erste Regierungsbesuche der Deutschen bei Trump und anderen international maĂgebenden Regierungschefs gehen mit kleinen protokollarischen Abstrafungen einher, denen die Medien dann oft noch gröĂere Aufmerksamkeit widmen als den Inhalten der politischen GesprĂ€che. Deutlich wurden die Unterschiede zwischen dem âStaatsbesuchâ von Emmanuel Macron bei US-PrĂ€sident Trump mit Gattin und Angela Merkels âArbeitsbesuchâ in der gleichen Woche Ende April mit geringen Erwartungen.3
Geopolitisch gesehen geht es nicht um solche ĂuĂerlichkeiten, sondern um die Frage, wie sich die Welt den drĂ€ngenden Zukunftsfragen in der sich abzeichnenden Zeitenwende stellt. Ein wirklicher Erfolg des Staatsbesuches von Emmanuel Macron bei Donald Trump wĂ€re eine RĂŒckkehr der USA zu den Pariser KlimavertrĂ€gen gewesen. Aber an diese denkt schon kaum noch jemand.
Genauso wĂ€re es geopolitisch zukunftstrĂ€chtiger, die RĂŒstungsausgaben zu begrenzen und global zurĂŒckzufahren statt permanent zu erhöhen. So werden sie aber permanent erhöht â 2017 weltweit auf 1,739 Billionen US-Dollar.4 Die neu entfachte RĂŒstungsspirale verĂ€ndert das geopolitische Gleichgewicht zusĂ€tzlich, wie noch ausfĂŒhrlicher gezeigt wird, und hilft nicht bei der Lösung drĂ€ngender globaler Entwicklungsprobleme sowie Neujustierung der Weltordnung.
Wenn Staaten wie die USA die internationalen wirtschaftspolitischen Spielregeln einseitig und ohne Konsultation ihrer wichtigsten westlichen VerbĂŒndeten und unter Beachtung langjĂ€hrig geltender internationaler Ordnungen auĂer Kraft setzen, gerĂ€t das im 20. Jahrhundert entstandene MachtgefĂŒge der Welt durcheinander.5 Der im Mai des gleichen Jahres verkĂŒndete Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran impliziert eine derzeitige Unberechenbarkeit des wichtigsten westlichen BĂŒndnispartners.6 Die einseitige AufkĂŒndigung des jahrelang und mĂŒhevoll verhandelten Abkommens unter Ignoranz der vom Sicherheitsrat einstimmig getroffenen Verabredungen schockierte die Welt und alle beteiligten Staaten. Die damit zugleich erneut in Kraft gesetzten Sanktionen gegen den Iran sollten vor allem auch von deutschen Firmen eingehalten werden, wie schon kurz nach seinem Amtsantritt der neue US-Botschafter, Richard Grenell, in Berlin auch per Twitter forderte.7 Die EuropĂ€er werden in einen neuen Handelskrieg gedrĂ€ngt. Nach dem faktischen Scheitern des letzten G-7-Gipfels in Kanada wurde das offenkundig.
Ăberrascht vom Brexit
In der EU traf die Brexit-Bejahung der Mehrheit der Briten das politische BrĂŒssel und Berlin trotz aller gegenteiligen Beteuerungen letztlich unvorbereitet und ohne ausgearbeitete Scheidungspapiere. Seither wird ein hoher Anteil an politischem Gestaltungswillen und -kraft durch die im Grunde genommen kontraproduktiven Austrittsverhandlungen und die Gestaltung der kĂŒnftigen Beziehungen zwischen der geschwĂ€chten EU und GroĂbritannien absorbiert. Die âRemainerâ in GroĂbritannien und Optimisten in Europa hoffen inzwischen auf einen Brexit, der kein wirklicher ist, sondern nur dem Namen nach, also ein âBrinoâ. Hinter dem neuen Akronym verbirgt sich die Hoffnung âBrexit in name onlyâ wie die SĂŒddeutsche Zeitung Ende April berichtete.8 Wörtlich heiĂt es: âBrino könnte das sein, was am Ende ĂŒbrig bleibt, wenn die britische Regierung alle roten Linien gerĂ€umt, die meisten Schlachten gegen BrĂŒssel verloren und das Parlament endgĂŒltig gegen sich aufgebracht hat: ein Brexit, mit dem GroĂbritannien zwar am 29. MĂ€rz 2019 formal aus der EU aus- und in eine status-quoĂ€hnliche Ăbergangsfrist eintrĂ€te, aber ab Winter 2020 ein Partner der EU bliebe: in einer Zollunion, vielleicht im Binnenmarkt, mit dem Verbleib in EU-Agenturen und -Programmen, mit der Fortzahlung von BeitrĂ€gen fĂŒr gemeinsame Projekte, mit weitreichenden Rechten fĂŒr EU-BĂŒrger.â Viele ĂŒberzeugte EuropĂ€er fragen sich zu Recht, wie es dazu kommen konnte und wieso GroĂbritannien glaubt, durch den Austritt seine alte Rolle des 18. und 19. Jahrhunderts wieder zu gewinnen.
Wo bleibt bei der Lage Spielraum fĂŒr strategische geopolitische Gemeinsamkeiten Europas gegenĂŒber China und den USA oder anderen Staaten, wenn innereuropĂ€ische Tagesbelange den Blick verstellen? Ohne Pathos muss noch einmal betont werden, dass der Brexit zwar politisch seitens der EU und auch der deutschen Regierung als verkraftbar dargestellt wurde, aber in Wahrheit einer Torpedierung des wichtigsten und bedeutendsten europĂ€ischen Einigungsprozesses des 21. Jahrhunderts entspricht, deren finale Folgen noch gar nicht absehbar sind. Das wird aus der Sicht der vielen anderen europĂ€ischen Problemstaaten wie Italien, Spanien, Griechenland, Ungarn und Polen verstĂ€rkt. Auch Emmanuel Macron hat die innerfranzösischen Reformprojekte lĂ€ngst noch nicht gegen die massiven Streiks seiner starken Gewerkschaften durchgesetzt, und alle Fachleute wissen, dass auch die wĂ€hrungspolitische StabilitĂ€t des Euros keineswegs sicher ist.
Statt als âWestenâ gemeinsam nach angemessenen strategischen Entwicklungsmodellen auf die chinesischen Herausforderungen zu suchen, befindet sich Europa wieder in einer Lage, die eher an die Situation im 19. und 20. Jahrhundert erinnert.9 Weltpolitik wurde damals ĂŒber militĂ€rische Machtpolitik durchgesetzt, beginnend mit den beiden Opium-Kriegen bis zu den gewaltsamen Auseinandersetzungen der acht verbĂŒndeten westlichen Staaten gegen China im Rahmen des sogenannten Boxeraufstandes oder besser Boxerkrieges.10 Damals spielte gerade die von Kaiser Wilhelm II. ausgegebene harte Linie gegen die AufstĂ€ndischen eine verheerende und nachhaltig negativ wirkende Rolle.11
Chinas zivilisatorische Rolle
Als Xi Jinping als erster StaatsprĂ€sident Chinas im Jahre 2014 das EU-Hauptquartier in BrĂŒssel und Belgien besuchte und eine Rede hielt, betonte er die historischen Gemeinsamkeiten zwischen China und den EuropĂ€ern, insbesondere durch ihre zivilisatorische Verbundenheit. Was Europa fĂŒr den Westen war und ist, beansprucht China aus kulturhistorischer Sicht ĂŒber die letzten 5000 Jahre fĂŒr die östliche Zivilisation.12 FĂŒr Europas Rolle im 21. Jahrhundert wird entscheidend sein, âob Europa mehr als die geografische Bezeichnung eines Kontinents sein wird und sein will, ob es zu einer politischen und wirtschaftlichen Einheit, ja zu einer gemeinsamen europĂ€ischen IdentitĂ€t finden wird.â13 Durch den Brexit hat GroĂbritannien dieser Vision und Zukunft schon ein klares Nein entgegengesetzt, und Ex-AuĂenminister Joschka Fischer warnt davor, dass ein RĂŒckzug der EuropĂ€er auf ihre nationalstaatliche IdentitĂ€t wie im 19. Jahrhundert den Abstieg noch verstĂ€rken wird.14 Sein PlĂ€doyer fĂŒr ein Europa der zwei Geschwindigkeiten durch eine Koalition der âWilligenâ kann aus unserer Sicht nur als eine kleine Ersatzlösung fĂŒr ein geeintes und starkes Europa sein, das auch eine TĂŒr fĂŒr Russland offenhalten sollte, denn immer wieder wird vergessen, dass ein groĂer Teil Russlands auch historisch europĂ€isch geprĂ€gt war und ist.
Fehlbewertungen nach Trumps Wahlsieg
Einen Ă€hnlichen Schock wie der Austritt GroĂbritanniens aus der EU löste das letzte Wahlergebnis in den USA im November 2016 in Europa und hierzulande aus. Offenbar hatte auch in diesem Fall kein Politiker und keine Partei ein ernsthaftes Szenarium in der Schublade, wie mit einem PrĂ€sidenten umzugehen sein wird, der das im Wahlkampf Versprochene Punkt fĂŒr Punkt umsetzt. Das gibt nicht nur einen tiefen Einblick in die GlaubwĂŒrdigkeit des Politikbetriebes an sich, sondern auch in das SelbstverstĂ€ndnis, mit der offenbar eigene Wahlversprechen nach dem StimmenauszĂ€hlen zu behandeln sind. Es herrschte nicht nur Ratlosigkeit, sondern es fehlten sogar Kontaktdaten, wie man denn den Neuen in der Administration erreichen konnte.
âWie die Suche nach einem AuĂerirdischenâ15 ĂŒberschrieben die Stuttgarter Nachrichten die Lage und das BemĂŒhen, ĂŒber die Republikaner mit Trump in Kontakt zu kommen. Was wie ein Witz klingt, lĂ€sst tief blicken. Niemand hatte einen Wahlsieg Donald Trumps fĂŒr möglich gehalten, und als er dann eintrat, fehlten nicht nur die elementaren Voraussetzungen, um ins GesprĂ€ch zu kommen, sondern viele politisch Verantwortliche glaubten offenbar auch nicht daran, dass man lĂ€ngere Zeit mit Trump an der Spitze leben mĂŒsste und seinen gegen Freihandel und speziell Deutschland vorgetragenen Drohungen Taten folgen wĂŒrden. Das Trauerspiel setzte sich fort, nachdem sich die fĂŒhrenden Politiker persönlich kennenlernten und Donald Trump voller Stolz wie ein ErstklĂ€ssler jedes seiner neuen Dekrete mit GroĂunterschrift in die Kameras hielt. Viele glaubten, dass sich die auĂenpolitischen Leitlinien bald besser erkennen lassen wĂŒrden. SpĂ€testens nach dem Rauswurf von Rex Tillerson im MĂ€rz 2018 wurde klar, dass Trump sich nicht steuern lĂ€sst und die Unberechenbarkeit das entscheidende Markenzeichen seiner Politik bleiben wird. Der als âRexitâ16 erwartete Schritt des Rauswurfs oder RĂŒcktritt des US-AuĂenministers wurde schon deshalb wahrscheinlich, weil Tillerson den PrĂ€sidenten im vertraulichen Kreis âSchwachkopfâ nannte und sich nichts schneller verbreitet als Gossip.
Drei Fallen behindern den Westen
In der Geschichte des Westens17 gab es bisher wohl kaum ei...