II. Wie sieht die Welt fĂŒr einen Spin-Doktor aus?
Dieses Kapitel wird sich mit unserem vernetzten Zeitalter auseinandersetzen und wie es eine Art VerĂ€nderung der VerĂ€nderung verursacht hat. Es ist nicht mehr so einfach, unsere chaotische Umwelt zu gestalten, und es ist ganz schwierig und heikel geworden, nicht getrieben zu werden. Dennoch stellt Chaos keine Ausrede fĂŒr Nichtstun dar. Handeln ist genau die adĂ€quate Reaktion, um mit dieser neuen Welt umgehen zu können, genauso wie man die Stimmungen und die Meinungen von Kollegen und Kunden verĂ€ndern kann. Dabei dient der Spin-Doktor als perfektes Vorbild. Es ist nĂ€mlich so: Die Digitalisierung des Wirtschaftslebens und des Marketings entspricht der tatsĂ€chlicher Demokratisierung. Chaos und InstabilitĂ€t mĂŒssen als Normalfall akzeptiert werden. Transparenz und PluralitĂ€t mĂŒssen als Chancen begriffen werden. Der Spin ist der richtige SchlĂŒssel zum VerstĂ€ndnis und ermöglicht das Anpacken der Herausforderungen dieser schönen neuen Welt.
1 Die schönen Seiten der chaotischen Zeiten
âWie am Zusammenstrom zweier FlĂŒsse fand ich mich zwischen zwei Jahrhunderten; ich stĂŒrzte mich in ihre trĂŒben Wasser, entfernte mich mit Bedauern vom alten Ufer, wo ich geboren wurde, und schwamm hoffnungsvoll auf ein unbekanntes Ufer zu.â
François-René de Chateaubriand
Jede Generation hat zwangslĂ€ufig den natĂŒrlichen Eindruck, eine besondere Generation zu sein und in einer einzigartigen Periode zu leben. Dieses GefĂŒhl ist wahrscheinlich meistens trĂŒgerisch, diesmal aber scheint es trotzdem ein kleines StĂŒck Wahrheit in sich zu tragen. TatsĂ€chlich, was fĂŒr ein unglaubliches Zeitalter! Wer könnte es bestreiten, die letzten 100 Jahre haben viele VerĂ€nderungen gebracht, viel mehr als in den letzten 10.000 Jahre zusammen.
Wir haben kĂŒnstliche Herzen produziert, wir können die Sehkraft wieder herstellen, unser Genom kartographieren, das Atom meist beherrschen. Wir sind in der Lage, neue Pflanzen- und Tierarten zu erschaffen und sogar menschliche Stammzellen zu reproduzieren. Wir haben unseren ersten Labor-Burger entwickelt und gebraten, ein Burger aus der Petrischale und nicht vom Rind. Wir haben einen Satelliten aus unserem Sonnensystem geschickt und schon Tausende von Exoplaneten identifiziert. Und im November 2014 konnten die EuropĂ€er (ESA) im Rahmen der Rosetta-Mission mithilfe einer Raumsonde das kleine Landefahrzeug Philae nach einer zehnjĂ€hrigen Flugreise auf einen Komet herablassen. Es geht darum, die 4,64 Milliarden Jahre alte Urmaterie des Sonnensystems und damit die Wurzeln der Entstehung des Lebens auf unserem Planeten zu analysieren.
Bei all diesen Errungenschaften greift der Mensch auf sogenannte Supercomputer zurĂŒck, die unsere verrĂŒcktesten und schönsten Gedanken testen, justieren und in die Welt bringen. Tianhe 2, der schnellste Supercomputer der Welt aus China, hat eine Rechenleistung von 33,86 Petaflops, das heiĂt â damit Sie das Fachchinesisch besser verstehen â 33,86 Billiarden Rechenoperationen pro Sekunde. Die Digitalisierung unserer Welt hĂ€ngt eng mit der immer weiter steigenden LeistungsfĂ€higkeit der Mikroprozessoren zusammen, die immer mehr intelligente Steuerungstechnologie ermöglichen. Dabei besteht die Gefahr, dass uns unsere Erfindungen â kleine wie groĂe â aus den Fingern gleiten, wie der Computer HAL 900 im Film 2001: Odyssee im Weltall. Wir sollten also darauf achten, dass diese groĂen Erfindungen nicht als Waffe gegen die Menschheit eingesetzt werden, und mĂŒssen daher immer wachsam bleiben und alles tun, damit unser Gewissen unsere technische Macht stets bĂ€ndigen kann. Da wir âMeister und Besitzerâ der Natur geworden sind, wie Descartes einst schrieb, sollten wir mehr denn je Meister unserer selbst bleiben und im Besitz eines perfekten und moralischen Geistes sein.
Dieses Zeitalter erweckt wunderschöne TrĂ€ume und erfĂŒllt zugleich unsere Herzen mit Angst. Aber keine Panik: Wir werden nicht das Ende der Welt erleben, nur das Ende einer Welt. Und dies macht unsere Epoche so spannend: Die alte Welt ist noch nicht komplett verschwunden und die neue nicht komplett geboren. Wir befinden uns eigentlich zwischen zwei Welten, âwie am Zusammenstrom zweier FlĂŒsseâ, um Chateaubriand noch mal zu zitieren. Wir wissen nicht genau, welche Möglichkeiten und Chancen wir gewinnen werden, und können noch nicht wirklich ermessen, welche FĂ€higkeiten und Fertigkeiten wir vermissen werden.
Wie in der Einleitung dieses Buches bereits beschrieben, mangelt es unserer Welt nicht an Komparativen: âschnellerâ, âgefĂ€hrlicherâ, âkomplexerâ usw. Was wir aber brauchen, sind Begriffe, um diese neue Welt zu denken und zu beleuchten. Dabei könnte der Spin-Doktor wirklich nĂŒtzlich sein. Der Spin-Doktor muss die demographischen, wissenschaftlichen und soziologischen Megatrends stĂ€ndig beobachten und interpretieren. Er kennt eigentlich nur VerĂ€nderungen und lebt in einer Welt voller Ungewissheiten. Aber eines weiĂ der Spin-Doktor ganz gewiss: Egal wie dick der Nebel ist, er muss immer den Hebel des Handelns finden und in Bewegung setzen.
Ich beginne dieses Kapitel mit einer kurzen Beschreibung der VerĂ€nderungen, vor denen unsere Gesellschaft steht, und wir werden versuchen, ihre genaue Natur zu identifizieren (a. âVerĂ€nderung der VerĂ€nderungâ). Dann werde ich die auf schlechtem Urteilsvermögen beruhenden und daher bedauerlichen Fehler in den Reaktionen einiger Manager und EntscheidungstrĂ€ger auf diese skizierten Herausforderungen analysieren (b. âFalsche Reaktionen auf echte Herausforderungenâ). Schlussendlich zeige ich, dass die Strategie des Handels der Spin-Doktoren definitiv eine gute Strategie angesichts der sich stĂ€ndig weiterdrehenden neuen Welt darstellt (c. âHebel trotz Nebelâ).
a. VerÀnderung der VerÀnderung
Kein anderer Begriff hat so einen schönen und warmen Platz in der Wirtschaftsliteratur gefunden wie âChange Managementâ. Das Management an sich ist inzwischen fast zum Change Management reduziert worden. Der Manager fĂŒhrt nicht mehr, der Manager soll die VerĂ€nderungen begleiten und als âChange Agentâ fungieren und handeln. Es geht heutzutage in den Chefetagen fast nur um VerĂ€nderungsprozesse und wie die FĂŒhrungskrĂ€fte diese vorantreiben können. Die Manager verbringen also ihre gesamte Zeit damit, ihre Organisation und Belegschaft dafĂŒr optimal vorzubereiten: Automatisierung der Produktion, Eroberung neuer MĂ€rkte, Digitalisierung des Vertriebs und natĂŒrlich: âChange Mindset Workshopâ. Aber warum sollten wir ĂŒberrascht sein? Es ist irgendwie ganz normal in Anbetracht der Tatsache, dass die Wirtschaft nichts anderes als eine âschöpferische Zerstörungâ darstellt, wie der bekannte österreichische Ăkonom Joseph Schumpeter sagte. Fakt bleibt, dass VerĂ€nderung nie einfach ist. Viele Manager schwanken zwischen Aktionismus und Attentismus, zwischen Ermutigung und Erschöpfung.
Der permanente Wandel ist fĂŒr den Spin-Doktor sozusagen NormalitĂ€t, da seine Welt hauptsĂ€chlich aus Ereignissen besteht. Alles nur Ereignisse! Es passiert immer etwas: Ein Flugzeug ist ĂŒber dem Indischen Ozean verschwunden, neue ungĂŒnstige Umfragewerte werden veröffentlicht, eine Autobombe ist explodiert und gefĂ€hrdet die schon extrem zerbrechlichen Friedensverhandlungen, ein Finanzierungsskandal droht die ganze Partei in den Schmutz zu ziehen usw. Politiker und ihre Spin-Doktoren sind tĂ€glich mit Beratungen ĂŒber solcherlei Ereignisse beschĂ€ftigt. Die Welt ist fĂŒr sie nur eine Kette von Ereignissen, kleine wie groĂe, die den politischen Alltag bestimmen. Der Spin-Doktor hat Heraklit gelesen und weiĂ, dass nichts bestĂ€ndiger ist als der Wandel und dass das Einzige, was bleibt, die VerĂ€nderung ist. Die Kunst des Spin-Doctorings besteht darin, diesen Ereignisse, wenn möglich, vorzugreifen, meistens aber leider nur darauf zu reagieren, und das Wichtigste: sie zu akzeptieren. Ereignisse selbst kann man nicht verhindern und kontrollieren. Man kann aber die Art und Weise kontrollieren, wie wir diesen begegnen, sie interpretieren und dann nutzen.
Die Politikwissenschaftler sprechen gerne von âAgenda Settingâ, wie wir schon erklĂ€rt haben, also von der Schwerpunktsetzung bestimmter Themen. Einige Kommentatoren reden mehr und mehr von âAgenda Surfingâ, weil die meisten Ereignisse unplanbar sind und einfach vorkommen. Die Kernfrage lautet: Wie kann man mit diesen Ereignissen umgehen? Denn sie sind nicht zu umgehen. Ihr Wettbewerber besitzt ein neues Produkt, welches ihre ganze Branche auf den Kopf stellen wird? Was können Sie dafĂŒr? Was können Sie dagegen unternehmen? Sie können bestimmen, wie Sie darauf reagieren. Es besteht bestimmt auch eine Chance, dieses Produkt zu kopieren. Oder eine andere Zielgruppe anzusprechen oder ihren Forschungsetat endlich beim Vorstand zu forcieren. Alles ist VerĂ€nderung. Alles nur Ereignisse. Ihre optimale Reaktion auch. Darauf surfen, damit Sie nicht sinken. Damit umgehen, damit Sie nicht untergehen.
Leichter gesagt als getan, oder? Ich stimme Ihnen zu. Und zwar aus einem einfachen Grund: Es gibt immer mehr Ereignisse, immer mehr VerĂ€nderungen. Unsere Welt verĂ€ndert sich in einem bemerkenswerten Tempo. Im MĂ€rz 1989 schrieb der Brite Tim Berners-Lee, ein Mitarbeiter am europĂ€ischen Kernforschungszentrum CERN, eine Abhandlung namens âInformations-Management â Ein Vorschlagâ. Es ging darum, ein Konzept zur Funktionsweise eines einheitlichen Internets zu prĂ€sentieren. Berners-Lee entwickelte damit âhttpâ (Hypertext Transfer Protocol), das Protokoll, das weltweit dem einfachen Austausch von Informationen dient. Das war vor ungefĂ€hr 25 Jahren. Im Jahr 2003 gab es noch kein Facebook. Im Jahr 2007 war âTwitterâ nur ein Wort, um das Zwitschern eines kleinen Vögelchens zu beschreiben. Im Jahr 2015 wurde Google 15 Jahre alt â ein Teenager, der sich manchmal auch so benimmt. Und vor 2010 war ein Tablet zum Servieren da â meistens aus Silber â, aber definitiv kein PC. Die Zeiten Ă€ndern sich, es liegt in ihrer Natur. Genauso wie in der Natur der Menschen. Die âGeneration Yâ oder âMillennialsâ werden im Jahr 2025 75 Prozent der Belegschaft ausmachen. Diese neue Spezies wird sehr knapp und sehr anspruchsvoll sein. Es wird also dringend Zeit fĂŒr die HR-Abteilungen, sich umzustellen.
Wie man also sieht, wird die Welt von morgen eine radikal andere sein. Die Geheimdienste der USA haben diese Frage vertieft und das schwierige KunststĂŒck versucht, in die Zukunft zu schauen, in das Jahr 2030, um genauer zu sein. Alle vier Jahre erstellt der National Intelligence Council (NIC) seinen âGlobal Trendsâ-Bericht auf der Grundlage verschiedener Variablen. Die sogenannten Megatrends sind nicht wirklich unbekannt: die rasant steigende Weltbevölkerung, die Ressourcen-Knappheit, der politische Machtverlust der westlichen Welt, der Zuwachs der globalen Mittelschicht verbunden mit dem Empowerment der Einzelpersonen. Der Strategiebericht kombiniert diese Megatrends mit sogenannten âGame-Changersâ, also bahnbrechende, disruptive Trends, sowie mit technischen Fortschritten wie etwa âSchnittstellen zwischen dem menschlichen Gehirn und leistungsstarken Computernâ, und macht daraus politische Analysen.
Die Geheimdienstler haben in ihrem Bericht verschiedene mögliche DrehbĂŒcher entwickelt, welche die Konsequenzen der Ănderung des globalen KrĂ€ftespiels in ErwĂ€gung ziehen. Im Jahr 2030 wird China gröĂte Wirtschaftsmacht sein. Endlich â wĂŒrde man fast hinzufĂŒgen wollen, da dieses Thema schon seit Jahren auf den Titelseiten steht. China kann Amerika aber nicht entthronen, so die NIC weiter, da die USA im globalen KrĂ€ftemessen weiter mitmischen und sogar Sieger bleiben, und zwar als âPrimus inter paresâ, als Erster unter Gleichen also. Auch gehen sie davon aus, dass andere regionale Schwergewichte wie Brasilien, Mexiko, SĂŒdafrika, die TĂŒrkei und sogar Kolumbien zunehmend wirtschaftliche und irgendwann dann politische Bedeutung erlangen werden. Und zwar auf Kosten eines alternden Europas, welches einen immer hĂ€rteren Kampf fĂŒhren mĂŒssen wird, um seinen Lebensstandard zu halten.
Werden wir also in einer multipolaren Welt leben? Nicht wirklich! Die Welt von morgen wird âa-polarâ sein, sprich: ohne klar dominierende Macht. Ist das gut? Die richtige Frage lautet vielmehr: Kann eine sieben-Milliarden-köpfige Menschheit mit der Anarchie umgehen? Wird die Menschheit endlich verstehen, dass viele wichtige globale Themen eine globale und integrierte Politik brauchen? Das kann man nicht garantieren, aber wir werden sehen.
Eines ist sicher: Unsere vernetze Welt wird also voll von Ăberraschungen sein. Der Auftragsgeber des Spin-Doktors mag aber keine Ăberraschungen, deshalb muss dieser die Konsequenzen der gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und politischen VerĂ€nderungen einordnen, die gerade passieren, wĂ€hrend er den Auswirkungen der VerĂ€nderungen vorgreift, die gerade auftreten. Parallel dazu muss der Spin-Doktor die kleinen Signale schnell aufspĂŒren und deuten, welche die kommenden VerĂ€nderungen ankĂŒndigen. Es ist, gelinde gesagt, etwas stressig: Der Spin-Doktor steht fast nie in der Gegenwart, sein Geist ist immer beschĂ€ftigt mit dem, was passiert ist und was passieren könnte. Und trotzdem muss er den Ăberblick behalten und Klarheit schaffen, Tempo aus der Sache rausnehmen und das hilflose Hinterherlaufen vermeiden. Es ist tatsĂ€chlich nicht einfach, weil die Ereignisse zahlreicher und, schlimmer noch, immer schneller aufeinander folgen. Aber âdo not shoot the messenger!â, man sollte niemals den Boten fĂŒr die schlechte Nachricht verantwortlich machen. Die neue Medienlandschaft und besonders die Live-TV-Berichterstattung von Nachrichtensendern wie CNN, France24, NTV und so weiter tragen gewiss ihre Verantwortung, spielen eine zentrale Rolle in dieser gesamten Beschleunigung. Aber diese Beschleunigung ist wie die Verkleinerung des Raumes das direkte Produkt der Globalisierung.
Die Globalisierung ist ihrerseits auch ein Produkt von menschlichen AktivitĂ€ten. Die Erfindungen und Technologien der vergangenen zwei Jahrhunderte spielen an dieser Stelle eine enorme Rolle und haben eine umwĂ€lzende Wirkung. Wissenschaft und Technik haben die Macht der Religionen und der Staaten in Frage gestellt. Die Globalisierung ist aus dieser Perspektive nur ein Kind der Renaissance sowie der amerikanischen und französischen Revolutionen. Diese haben die Grenze des politischen und wirtschaftlichen Lebens fĂŒr immer geĂ€ndert und erweitert. Der Horizont des Menschen ist nicht mehr der seines Heimatdorfes. Sein Schicksal wird nicht mehr von der Entscheidung seines lokalen FĂŒrsten besiegelt. Die globalen Interdependenzen reichen immer mehr in die Innenpolitik und die lokale Wirtschaft hinein. Deutschland ist eine âExportnationâ, und das heiĂt: Unser Wohlstand ist direkt abhĂ€ngig von externen Akteuren und Variablen. Die Entscheidungen und Machenschaften des amerikanischen Nachrichtendienstes NSA haben zum Beispiel eine direkte Auswirkung auf unseren Alltag und unsere BĂŒrgerrechte. Unsere demokratische Tradition beschwört uns, diese BĂŒrgerrechte zu verteidigen. Dazu ist unsere FĂ€higkeit, die Achtung der Menschenrechte durchzusetzen, in Europa, aber auch beispielweise in der Ukraine aufgrund unserer EnergieabhĂ€ngigkeit von Moskau ziemlich begrenzt. Noch einmal: Nichts ist schwarz oder ...