1. Demokratie. Eine AffÀre
Die russische AffĂ€re mit der Demokratie blieb bisher eine eher unglĂŒckliche. Immer wenn das Land, meist in einer tiefen Krise, mit ein wenig Volksherrschaft liebĂ€ugelte, lieĂ die Restauration nicht lange auf sich warten. Die autoritĂ€ren Herrscher verkĂŒndeten dann, nicht sie hĂ€tten das Land in die Krise gefĂŒhrt, sondern die demokratischen Irrwege hĂ€tten das Land in Unordnung und Chaos gestĂŒrzt. Das zeige nur ein weiteres Mal: Demokratie sei nichts fĂŒr dieses so besondere Land. Das russische Volk sei fĂŒr Demokratie nicht geschaffen, ja es wolle gar keine Demokratie, zumindest keine westliche. Es brauche eine harte, wenn auch vĂ€terlich-gĂŒtige Hand. So ein Riesenreich sei eben nur durch ein starkes, entschlossenes Zentrum zusammenzuhalten. Ansonsten drohe der Zerfall, schlimmstenfalls sogar das Ende Russlands. Als jĂŒngster Beweis muss meist der Untergang der Sowjetunion herhalten, fĂŒr den Michail Gorbatschow und seine Ăffnungspolitik in der Perestroika verantwortlich gemacht werden. Den drohenden weiteren Zerfall Russlands, so diese ErzĂ€hlung, habe nach den chaotischen 1990er Jahren unter Boris Jelzin erst der entschlossene Wladimir Putin aufgehalten, fast im Alleingang, in Tschetschenien und auch sonst. Kurz: Eine ernsthafte russische AffĂ€re mit der Demokratie halten Restauratoren fĂŒr eine fatale Mesalliance.
Demokratie sei ein mĂŒhsames Lern- und Selbsterziehungsprojekt, das nicht ĂŒber Nacht und erst recht nicht alleine durch externe MĂ€chte installiert werden kann, schreibt die Historikerin Hedwig Richter in ihrem 2020 erschienenen Buch Demokratie. Eine deutsche AffĂ€re. Auch Deutschland galt in dieser Hinsicht lange als unverbesserlich, die Deutschen als nicht fit oder gar nicht geschaffen fĂŒr Demokratie. Dieselben Argumente hört man immer wieder ĂŒber Russland. In Russland, von Russinnen und Russen, aber auch auĂerhalb des Landes.
Doch der Reihe nach. Die AffĂ€re mit der Demokratie beginnt in Russland, fĂŒr ein europĂ€isches Land ziemlich spĂ€t, erst im 20. Jahrhundert. Nach der Abschaffung der Leibeigenschaft 1861 und einem stĂŒrmischen Wirtschaftswachstum am Ende des 19. Jahrhunderts wies das politisch in absolutistischer Herrschaft erstarrte Zarenreich am Beginn des 20. Jahrhunderts an allen Ecken und Enden Risse auf. Wegen seiner UnfĂ€higkeit, auf die Herausforderungen der neuen Zeit zu reagieren, kam es 1905 zu einer ersten Revolution. Der Auslöser war ein Blutbad, das zaristische Truppen unter streikenden und demonstrierenden Arbeitern in der damaligen Hauptstadt St. Petersburg anrichteten, bei dem zwischen 200 und 1000 Menschen starben. Der Druck auf den reformunwilligen und vielleicht auch reformunfĂ€higen Zaren Nikolaus II. wurde so groĂ, dass er einer Verfassung zustimmte â der ersten in der Geschichte Russlands. Daraufhin kam im FrĂŒhjahr 1906 das erste russische Parlament zusammen, die Duma. Aber nur fĂŒr 73 Tage, denn der Zar machte dem Spuk schnell ein Ende und löste die Versammlung wieder auf. Doch die KrĂ€fte dieser Restauration wĂ€hrten nicht lange. Die Probleme, die zur Revolution von 1905 gefĂŒhrt hatten, bestanden ja weiter. Der zweite und der dritte Versuch erfolgten bereits 1907. Nachdem bei den Wahlen zur zweiten Duma die erstmals zugelassenen sozialistischen Parteien eine Mehrheit errungen hatten, Ă€nderte der Zar einfach das Wahlrecht zugunsten der Nationalisten und regierungstreuen Parteien in der dritten Duma. Die vierte Duma trat, ebenfalls mit konservativer Mehrheit, 1912 zusammen. Sie war nur pro forma ein Parlament und in ihrem Handlungsspielraum so eingeschrĂ€nkt, dass es den absolutistisch-zaristischen Staat nicht weiter störte. In dieser Hinsicht glich diese erste russische AffĂ€re mit der Demokratie eher einer Scheinehe.
Im Ersten Weltkrieg zeigte sich die russische Armee ihren Gegnern aus dem Deutschen und dem Habsburger Reich nicht gewachsen, was wohl nicht zuletzt an der zu schwachen Wirtschaftskraft lag. Immer wieder kam es, vor allem in der Hauptstadt St. Petersburg, zu Hungerunruhen, die in einer erneuten Revolution mĂŒndeten, die diesmal jedoch erfolgreich verlief. Viele Soldaten desertierten, und der Zar musste im MĂ€rz 1917 (nach dem in Russland noch geltenden julianischen Kalender im Februar und deshalb Februarrevolution genannt) abdanken. Eine bĂŒrgerliche Regierung ĂŒbernahm, unterstĂŒtzt von Sozialisten und Kommunisten, die GeschĂ€fte. Dieses Mal dauerte die AffĂ€re etwas lĂ€nger als zwölf Jahre zuvor. Doch die neue, demokratische Regierung hatte ein schweres Erbe angetreten: ein ausgeblutetes, fast bankrottes Land, das zudem politisch zerrissen war.
Im November bzw. Oktober war dann bereits wieder Schluss mit der Demokratie. Die Bolschewiki ĂŒbernahmen in einer weiteren Revolution die Macht und lieĂen sie nicht wieder los. Am 12. Dezember 1917 schaffte RevolutionsfĂŒhrer Lenin die Duma per Dekret ab. In der Nacht zum 17. Juli 1918 entledigten sich die Bolschewiki auch des Zaren und seiner gesamten Familie. Sie wurden im Keller des Ipatjew-Hauses in der Ural-Metropole Jekaterinburg erschossen, ihre Leichname verscharrt.
In den folgenden vier Jahren BĂŒrgerkrieg, der bis zu 10 Millionen Tote forderte, festigten die Bolschewiki ihre Herrschaft. SpĂ€ter erzĂ€hlten auch sie, sie hĂ€tten das Land vor Chaos und Zerfall gerettet. Das Neue an ihrer autoritĂ€ren Herrschaft war, dass sie fĂŒr sich reklamierten, im Namen der Demokratie zu handeln, allerdings einer besseren, gerechteren Demokratie als der, die es in anderen LĂ€ndern weiter im Westen bereits gab. Sie nannten sie Volksdemokratie. Viele BefĂŒrworter der Demokratie glaubten an diese neue Form, auch weil das politische System der Bolschewiki tatsĂ€chlich viele Anzeichen eines demokratischen Gemeinwesens aufwies: Es gab Wahlen, Parlamente (Sowjets, RĂ€te genannt), unabhĂ€ngige Gerichte und spĂ€ter, ab 1936 unter Stalin, eine Verfassung, die den Bewohnern der Sowjetunion viele Rechte zusprach. Doch in Wirklichkeit war das alles nur Fassade. Die wenigen demokratischen Elemente, die es in den 1920er Jahren gegeben hatte, darunter die zeitweise Liberalisierung der Wirtschaft in der Neuen Ăkonomischen Politik, wurden schnell wieder abgeschafft. SpĂ€testens nach den Schauprozessen Mitte der 1930er Jahre gegen zuvor fĂŒhrende Bolschewiki bestimmte allein Stalin, was im Land geschah, wer leben durfte, und ebenso, wer sterben musste. Nach seinem Tod und aufgrund des Entsetzens ĂŒber den Blutrausch und die sich selbst verschlingende Partei- und Geheimdienstmaschine folgte eine kurze Periode des Tauwetters. KĂŒnftig ging es etwas weniger streng zu. Nun bestimmte nicht mehr nur ein Mensch allein die Geschicke des Landes, sondern mehrere, im PolitbĂŒro der Kommunistischen Partei, die als Vertreterin des Proletariats laut Verfassung ĂŒber dem Staat stand. Die Menschen wurden nicht mehr willkĂŒrlich und systematisch umgebracht, sondern (meist) nur noch eingesperrt. Womit wir bei der nĂ€chsten, einer ganz zarten AffĂ€re eines Teils Russlands mit der Demokratie, bei den Dissidenten, wĂ€ren.
Ab Mitte der 1960er Jahre, der Schock der blutigen Stalin-Tyrannei begann langsam nachzulassen, wagten erstmals einige wenige Menschen wieder, ihre (abweichende) Meinung öffentlich zu Ă€uĂern (weshalb man sie Dissidenten nannte). Das war eine bunt gemischte Gruppe: KĂŒnstler und Intellektuelle, Kommunisten und glĂ€ubige Christen, russische Nationalisten und solche, die die UnabhĂ€ngigkeit ihrer als Sowjetrepubliken bezeichneten HeimatlĂ€nder forderten. Die Dissidentinnen und Dissidenten verfielen auf einen einfachen, aber wirksamen Trick, mit dem sie die Fassadendemokratie entlarvten. Sie wandten sich an die kommunistische FĂŒhrung ihres Landes, die ja behauptete, im Namen des Volkes und einer (volks-)demokratischen Verfassung zu regieren: Wir haben eine Verfassung. Wir haben Gesetze. Wir wollen diesen nur zu ihrem Recht verhelfen. Vieles, was die Dissidenten also taten, war gemÀà der sowjetischen Verfassung Stalins und ihrer Gesetze nicht nur nicht verboten, sondern ihr verbrieftes Recht. So entwickelten sie mit der Zeit eine Sprache des Rechts, wie das spĂ€ter genannt werden sollte. DafĂŒr bedrĂ€ngte der sowjetische Staat sie und ihre Familien. Er lieĂ sie verhaften, in weit entfernten Lagern wegsperren, in Psychiatrien verwahren und zwangsbehandeln, aus dem Land schaffen und ausbĂŒrgern. Manche wurden auch ermordet. OberflĂ€chlich betrachtet bekam die Sowjetmacht ihr Problem mit den Dissidenten in den Griff. Gemessen an der Gesamtbevölkerung blieben sie eine verschwindend kleine Gruppe. Sie lösten keinen Aufstand aus und erst recht keine Revolution. Aber mit dem Verweis auf (demokratische) Rechte hatten die Dissidenten eine Saat gelegt, die 20 Jahre spĂ€ter aufgehen sollte. Ganz verborgen blieb das auch den MĂ€chtigen nicht. So erlieĂ Leonid Breschnjew 1977, ein zweites Mal nach Stalin 1936, eine Verfassung, die erneut all die Rechte zu garantieren vorgab, die die Dissidenten mutig fĂŒr sich in Anspruch genommen hatten.
1985 erkannte der neue, gemessen an seinen VorgĂ€ngern erstaunlich junge GeneralsekretĂ€r der Kommunistischen Partei, Michail Gorbatschow, dass es VerĂ€nderungen brauchte, wollte die Sowjetunion bestehen bleiben, und rief Perestroika und Glasnost, Umbau und Offenheit, aus. Damit begann die nĂ€chste AffĂ€re Russlands mit der Demokratie. Dieses Mal sollte sie viel lĂ€nger dauern. Die BĂŒchse der Pandora war geöffnet und der in ihr eingeschlossene demokratische Geist entwichen. So entstanden an der Peripherie des Reiches, in den Sowjetrepubliken, mal mehr (Ukraine und Baltikum), mal weniger (vor allem in Zentralasien) starke nationale UnabhĂ€ngigkeitsbewegungen. In Russland stand die Frage nach den Opfern des stalinistischen Terrors im Vordergrund. WĂ€hrenddessen zeigte die sowjetische Wirtschaft immer mehr ihre UnfĂ€higkeit, wenigstens den bescheidenen sowjetischen Wohlstand weiterhin zu sichern. Demokratie war in Russland auch deshalb attraktiv, weil sie im Westen Teil eines Systems war, das ein besseres Leben versprach. Bald zwangen Massenbewegungen an allen Enden der Sowjetunion die schon mĂŒde gewordene Diktatur in die Knie.
Die VerĂ€nderung erfolgte diesmal demokratisch. Die beiden bis heute wohl freiesten Wahlen in der russischen Geschichte fanden noch in der Sowjetunion statt. 1990 wurde eine neue Volksvertretung mit erstmals nicht von der Kommunistischen Partei vorgegebenen Kandidaten gewĂ€hlt. 1991 folgte die Wahl von Boris Jelzin zum PrĂ€sidenten der Russischen Sozialistischen Föderativen Sowjetrepublik. Sein damaliger Konkurrent um die Macht, der sowjetische PrĂ€sident Michail Gorbatschow, war noch von dem nach alten sowjetischen Regeln bestimmten Kongress der Volksdeputierten gewĂ€hlt worden. Nach dem gescheiterten Putschversuch gegen ihn und die Perestroika im August hörte die Sowjetunion am 25. Dezember 1991 auf zu existieren. Russland erklĂ€rte sich nun, wie alle anderen Sowjetrepubliken fĂŒr unabhĂ€ngig, wenn auch nicht ganz klar wurde, wovon. Fortan gab es zwei frei gewĂ€hlte Institutionen: das Parlament und den PrĂ€sidenten. Diese zweifellos demokratische Legitimation der beiden höchsten ReprĂ€sentanten des Volkes war etwas Neues und bis dahin Unerhörtes in der russischen Geschichte.
Beide Institutionen verfolgten jedoch ganz unterschiedliche PlĂ€ne. Im Parlament hielten weiter Kommunisten die Mehrheit, die das Ende der Sowjetunion ebenso ablehnten wie die EinfĂŒhrung einer neuen Wirtschaftsform. PrĂ€sident Jelzin dagegen ernannte eine Reformregierung, deren wichtigste Aufgabe der Ăbergang zur Marktwirtschaft war. Fast zwei Jahre lang, von Dezember 1991 bis Oktober 1993, dauerte dieser Machtkampf. Alle Versuche, zwischen PrĂ€sident und Parlament zu vermitteln, scheiterten. Es kam zu keinem Kompromiss, weil beide Seiten die ausschlieĂliche Macht fĂŒr sich beanspruchten. Beide hatten weder eine Vorstellung davon noch Erfahrung darin, wie in einem demokratischen Staat Macht auf Dauer geteilt werden kann, im Ăbrigen genauso wenig wie ein groĂer Teil der Bevölkerung und ihrer jeweiligen UnterstĂŒtzer. Woher auch? Das dazu notwendige komplexe und stets prekĂ€re Gleichgewicht von Autonomie und gegenseitiger Kontrolle hatte in Russland noch nie existiert. Ebenso wenig das Vertrauen der Konkurrenten, dass der Gewinner sich an die vereinbarten Regeln halten und den Verlierer nicht vernichten wĂŒrde. Das verwundert nicht, hatten doch alle Beteiligten das politische Handwerk in der Sowjetunion erlernt. Vor allem aber wurde unterschĂ€tzt, dass eine stabile Demokratie ĂŒberzeugte Demokratinnen und Demokraten braucht. Und zwar nicht nur auf der StraĂe, sondern auch und besonders in den Institutionen und an den Schalthebeln der Macht.
Am Ende dieses Ringens gewann mit Jelzin derjenige, der sich die Macht ĂŒber die Panzer und Gewehre sichern konnte. Er lieĂ am 3. Oktober 1993 das WeiĂe Haus an der Moskwa, den Sitz des Parlaments, von Panzern beschieĂen und die FĂŒhrung des Obersten Sowjets und seinen zu ihr ĂŒbergelaufenen Stellvertreter Alexander Ruzkoj verhaften. Dabei starben in Moskaus StraĂen wĂ€hrend zweitĂ€giger ScharmĂŒtzel mindestens 300 Menschen. Die Verlierer behaupten bis heute, es seien viel mehr gewesen, und beschuldigten Jelzin, sich an die Macht geputscht zu haben. Etwas Grundlegendes hatte sich jedoch geĂ€ndert: Anstatt, wie frĂŒher ĂŒblich, am Galgen, im Straflager oder im Exil zu landen, wurden die (aus Sicht des siegreichen PrĂ€sidenten) AufstĂ€ndischen bald wieder freigelassen. Einigen gelang spĂ€ter sogar eine politische Karriere.
Zwei Monate danach, Mitte Dezember 1993, lieĂ Jelzin ĂŒber eine neue, schnell ausgearbeitete Verfassung abstimmen und auf ihrer Grundlage gleich ein neues Parlament wĂ€hlen. Neben der in Verfassungsdingen unziemlichen Eile bestanden Zweifel, ob tatsĂ€chlich die erforderlichen 50 Prozent der Wahlberechtigten fĂŒr die Verfassung gestimmt hatten. Die bĂŒrgerkriegsĂ€hnlichen Unruhen, die Eile und die FĂ€lschungsvorwĂŒrfe sind ein wichtiger Grund, warum viele Menschen die Verfassung von 1993 bis heute ablehnen. Bei den nĂ€chsten PrĂ€sidentenwahlen im Mai 1996 sicherte sich Boris Jelzin den Sieg gegen seinen kommunistischen Herausforderer Gennadij Sjuganow durch eine beispiellose Kampagne. Noch Anfang des Jahres hatte er in Umfragen bei unter 10 Prozent gelegen und war damit Sjuganow hoffnungslos unterlegen. Dass Jelzin wiedergewĂ€hlt wurde, verdankte er der UnterstĂŒtzung einer kleinen Gruppe phantastisch reicher Unternehmer (den sogenannten Oligarchen) und der Nutzung der seither so genannten administrativen Ressourcen, also des Staatsapparates und seiner Kontrolle ĂŒber die Medien. Jelzin und seine UnterstĂŒtzer rechtfertigten dieses undemokratische Vorgehen damit, dass es ihnen um Demokratie, Marktwirtschaft und Wohlstand gegangen sei und sie eine RĂŒckkehr zu Kommunismus, Diktatur und Armut verhindern wollten. Der Westen stĂŒtzte Jelzin aus denselben GrĂŒnden und legte somit den Grundstein fĂŒr das spĂ€tere Misstrauen vieler Menschen, dass es ihm tatsĂ€chlich um Demokratie und nicht nur seine eigenen Interessen gegangen sei und gehe.
Die Wirklichkeit war selbstverstĂ€ndlich komplizierter, wie es jede AffĂ€re eben auch ist. Es gab in den 1990er Jahren zwar zweifellos unvergleichlich viel mehr Freiheit in Russland als jemals zuvor, aber die Demokratie blieb schwach. Die junge Marktwirtschaft zeigte sich von ihrer hĂ€sslichsten, weil fast völlig ungeregelten Seite. Einige wenige wurden sehr reich, wĂ€hrend die Masse der Menschen verarmte. Von Wohlstand in diesem Jahrzehnt kann keine Rede sein. Im Gegenteil. Zwischen 1991 und 1998 sank die Wirtschaftsleistung in Russland um etwa 50 Prozent. In der modernen Geschichte ist ein solcher Fall beispiellos. Das ohnehin nicht sonderlich reiche Land war noch viel Ă€rmer geworden. FĂŒr einen groĂen Teil der Bevölkerung ging es dabei schlicht ums Ăberleben. Im August 1998 brach dann das Kartenhaus aus Misswirtschaft, schwachem Staat, Korruption und auslĂ€ndischen Krediten zusammen. Die Regierung musste ihre ZahlungsunfĂ€higkeit erklĂ€ren. Der politische und wirtschaftliche Tiefpunkt war erreicht.
Russlands Flirt mit der Demokratie blieb jedoch nicht folgenlos. Das Land war in den 1990er Jahren zwar freier und auch ein bisschen demokratischer geworden. TatsĂ€chlich aber verbinden die meisten Menschen in Russland bis heute Demokratie nicht in erster Linie mit Freiheit, sondern eher mit Chaos, Armut und einem schwachen Staat. Demokratie, so scheint es vielen, schĂŒtzt eher die Starken vor den Schwachen als umgekehrt. Ein Jahr nach dem drohenden Staatsbankrott ernannte der schon lĂ€ngere Zeit kranke und kaum noch amtsfĂ€hige Boris Jelzin Wladimir Putin zum Premierminister und am Silvestertag 1999 zu seinem vorerst kommissarischen Nachfolger. Im MĂ€rz 2000 gewann Putin die PrĂ€sidentenwahlen, nicht zuletzt, weil er sich als das völlige Gegenteil von Jelzin prĂ€sentierte: jung, gesund, tatkrĂ€ftig. Die Idealbesetzung fĂŒr einen starken Staat.
Wladimir Putin war geschickt, aber er hatte auch GlĂŒck. Denn entscheidend fĂŒr seinen Erfolg war, dass die russische Wirtschaft bereits wieder zu wachsen begonnen hatte, bevor er erst Premierminister und dann PrĂ€sident wurde. Das hatte vor allem drei GrĂŒnde, und nur fĂŒr den dritten zeichnete Putin selbst verantwortlich: die Abwertung des Rubels nach der kurzfristigen ZahlungsunfĂ€higkeit des Staates im August 1998 um das Sechsfache, die wie ein riesiges staatliches Konjunkturprogramm wirkte; ein rasant, wie nie zuvor wachsender Ălpreis sowie Direktinvestitionen aus dem Ausland als Reaktion auf eine stabilere politische Situation und vorsichtige Wirtschaftsreformen in Putins erster Amtszeit. Vor allem der jĂ€hrlich um bis zu 70 Prozent steigende Ălpreis half Putin, den Staat wieder handlungsfĂ€hig zu machen.
Der Gerechtigkeit halber muss aber auch gesagt werden, dass Putin die neuen Mittel nutzte, um die Renten und die GehĂ€lter der Staatsbediensteten wieder regelmĂ€Ăig zu zahlen, und auch, dass er private Arbeitgeber ebenfalls dazu zwang â fĂŒr die Mehrheit der Menschen das Wichtigste. Zwar wurden auch unter Putin die Reichen schneller reicher als die Armen weniger arm, aber fast ein Jahrzehnt lang stiegen Renten und GehĂ€lter fĂŒr die allermeisten Menschen. Gleichzeitig begann Putin damit, viele politische Beteiligungs- und Freiheitsrechte, die den Menschen nach dem Ende der Sowjetunion gewĂ€hrt worden waren (oder die sie sich erkĂ€mpft hatten), StĂŒck fĂŒr StĂŒck wieder einzuschrĂ€nken.
Der Moskauer Wirtschaftswissenschaftler Alexander Ausan beschrieb das unter Putin in den 2000er Jahren entstandene VerhĂ€ltnis von Menschen und Staat einmal als einen ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag: Putin habe fĂŒr StabilitĂ€t gesorgt, fĂŒr Wirtschaftswachstum und dafĂŒr, dass bei möglichst vielen Menschen zumindest etwas vom neuen Reichtum ankam. DafĂŒr mischten sich die (meisten) Menschen nicht (mehr) in die Politik ein. Diejenigen, die das trotzdem taten, mussten dafĂŒr nun (wieder) öfter Ărger mit dem Staat in Kauf nehmen. Die Zustimmung zu dieser Politik war groĂ. Nach den schwierigen, unberechenbaren 1990er Jahren, in denen sich stĂ€ndig alles Ă€nderte, wĂŒnschte sich ein groĂer Teil der Bevölkerung offenbar vor allem eins: StabilitĂ€t und Ruhe. Die Freiheit wurde zwar wieder eingeschrĂ€nkt, blieb aber immer noch unvergleichlich viel gröĂer als zu sowjetischen Zeiten.
Das ging gut, bis auch Russland 2008 / 2009 die Auswirkungen der Weltfinanzkrise zu spĂŒren bekam. Sie traf das Land hart, hĂ€rter als die politische FĂŒhrung anfangs einzugestehen bereit war. Inzwischen hatte Putin Dmitrij Medwedjew zum PrĂ€sidenten gemacht, weil ihm die Verfassung eine weitere, eine dritte Kandidatur verweigerte. Er blieb aber auch als Premierminister der eigentliche Herrscher. PrĂ€sident Medwedjew reagierte auf die Krise mit der AnkĂŒndigung, Russland mĂŒsse sich modernisieren, wolle es bestehen und nicht in der internationalen Konkurrenz (gemeint war natĂŒrlich in erster Linie: mit dem Westen) erneut zurĂŒckfallen. FĂŒr viele Menschen war klar, dass sich nicht nur wirtschaftlich, sondern auch politisch etwas Ă€ndern mĂŒsse. Als Putin jedoch im September 2011 erklĂ€rte, er werde bei den nĂ€chsten PrĂ€sidentschaftswahlen im MĂ€rz 2012 erneut antreten, machte sich, vor allem bei jungen und gebildeten Menschen in den groĂen StĂ€dten, EnttĂ€uschung breit. Der stillschweigende Konsens der 2000er Jahre zeigte Risse und zerbrach schlieĂlich angesichts der hemmungslos zugunsten der Kremlpartei Einiges Russland gefĂ€lschten Parlamentswahlen am 4. Dezember 2011.
Vielen erschien Putin mit seinen inszenierten MĂ€nnerposen, dem entblöĂten Oberkörper oder beim Tauchen nach antiken Amphoren plötzlich nicht mehr als der starke Macher, der alles allein zusammenhĂ€l...