Potenzial-Entfaltung und Talent-Förderung: Geborene Gewinner?
// Von David Epstein
Jeder kennt diese Typen, die Erfolg ganz leicht aussehen lassen. Doch ist dieses Talent wirklich angeboren oder nicht vielleicht das Ergebnis harter Arbeit?
Der Spitzensportler aus der High School
Micheno Lawrence war Sprinter in meinem Highschool-Team. Als Sohn jamaikanischer Eltern war er klein und mollig, und das Netzhemd, das er wie manche andere jamaikanische Teamkameraden zum Training trug, spannte sich über einen prallen Bauch. Nach der Schule jobbte er bei McDonald’s und man scherzte, dass er sich dort zu oft selbst bediente. Aber das hielt ihn nicht davon ab, beeindruckend schnell zu sein.
Schon in der Highschool habe ich mich gefragt, ob Micheno und die anderen Kinder aus jamaikanischen Familien, die unser Team so erfolgreich machten, möglicherweise ein besonderes Geschwindigkeitsgen von ihrer winzigen Insel mitgebracht hatten.
Als in den 1970er- und 1980er-Jahren ein kleiner Exodus jamaikanische Familien nach Evanston, Illinois, brachte, wurde an der Evanston Township Highschool Leichtathletik zu einem beliebten Sport. (In der Folge gewann unser Team zwischen 1976 und 1999 vierundzwanzig aufeinanderfolgende Turniere.) Wie es sich für Ausnahmesportler gehört, sprach Micheno von sich selbst in der dritten Person. »Micheno hat kein Herz«, pflegte er vor großen Wettkämpfen zu sagen und meinte damit, dass er seine Konkurrenten gnadenlos besiegen würde. Im Jahr 1998, meinem Abschlussjahr, gewann er die Meisterschaft des Bundesstaats Illinois, indem er als Schlussläufer der 4×400-Meter-Staffel vom vierten auf den ersten Platz schoss.
Alles ganz easy? Ein Naturtalent!
Einen solchen Sportler kennt jeder von uns aus der Schulzeit. Einen, der alles ganz leicht aussehen lässt. Egal ob es ein Quarterback oder Shortstop, eine Hochspringerin oder ein Point Guard war – es handelte sich um ein Naturtalent. Wirklich? Haben Eli und Peyton Manning die Quarterback-Gene ihres Vaters Archie geerbt, oder sind sie zu NFL-Stars geworden, weil sie mit einem Football in der Hand aufwuchsen?
Gewiss hat Joe »Jellybean« Bryant seine Statur an seinen Sohn Kobe weitergegeben, aber woher hat der Sprössling seinen explosiven Antritt? Wie kommt es, dass Paolo Maldini den AC Milan zum Champions-League-Titel führte – vierzig Jahre nachdem sein Vater Cesare dasselbe erreichte? Hat Ken Griffey Sr. seinem Jungen etwa Baseball-Gene vermacht? Oder bestand das wahre Vermächtnis darin, dass der Junior in einem Baseball-Clubhaus aufwuchs? Oder in beidem? Zum ersten Mal in der Sportgeschichte bildete im Jahr 2010 ein Mutter-Tochter-Gespann, bestehend aus Irina und Olga Lenskiy, die Hälfte der israelischen Nationalmannschaft in der 4-mal-100-Meter-Staffel. Hier lag offenbar das Geschwindigkeitsgen in der Familie. Aber gibt es so etwas überhaupt? Gibt es überhaupt »Siegergene«?
Was ist ein Genom?
Im April 2003 verkündete ein internationales Konsortium von Wissenschaftlern den Abschluss des Human Genom Projekts. Nach dreizehn Jahren Arbeit (und 200.000 Jahre nach dem Aufkommen des anatomisch modernen Menschen) hatten die Wissenschaftler das menschliche Genom kartiert. Alle rund 23.000 DNA-Regionen, die Gene enthalten, waren identifiziert worden. Auf einmal wussten die Forscher, wo sie nach den Ursprüngen menschlicher Eigenschaften suchen mussten, von der Haarfarbe über Erbkrankheiten bis hin zur Hand-Auge-Koordination; aber sie wussten noch nicht, wie schwierig es sein würde, die genetischen Anweisungen zu lesen.
Das Genom muss man sich als ein 23.000 Seiten dickes Rezeptbuch vorstellen, das in jeder menschlichen Zelle steckt und Anweisungen für die Entstehung des Körpers bereithält. Wer diese 23.000 Seiten zu lesen vermag, könnte herausfinden, wie der Körper entsteht. So jedenfalls war das Wunschdenken der Wissenschaftler. Allerdings enthalten einige der 23.000 Seiten Anweisungen für viele verschiedene Körperfunktionen, und wenn eine Seite verschoben, geändert oder herausgerissen wird, können einige der anderen 22.999 Seiten plötzlich neue Anweisungen enthalten.
Talent und Potenzial: Ererbtes und Erlerntes ist eng miteinander verflochten
In den Jahren nach der Sequenzierung des menschlichen Genoms suchten sich Sportwissenschaftler einzelne Gene heraus, von denen sie vermuteten, dass sie die sportliche Leistung beeinflussen würden, und verglichen unterschiedliche Versionen dieser Gene von Sportlern und Nichtsportlern. Das Problem bei solchen Studien ist, dass einzelne Gene normalerweise so geringe Auswirkungen haben, dass sie in Studien an kleinen Gruppen nicht nachweisbar sind. Selbst bei leicht zu messenden Merkmalen wie der Körpergröße entziehen sich die dazugehörigen Gene meistens der Erkennung. Nicht weil es sie nicht gäbe, sondern weil sie in der Komplexität des Genoms verborgen sind.
Langsam, aber sicher gingen Wissenschaftler von den Studien einzelner Gene über zu neuen und innovativen Methoden zur Analyse der Funktionsweise genetischer Anweisungen. Nimmt man hinzu, was Biologen, Physiologen und Sportwissenschaftler zu den Auswirkungen von biologischer Veranlagung und Trainingseifer auf die Leistungsfähigkeit herausgefunden haben, dann erscheint die große Debatte über ererbte oder erlernte Sportlichkeit in ganz neuem Licht. Das erfordert allerdings, dass wir uns tief ins Gestrüpp solch sensibler Themen wie Geschlecht und Ethnizität wagen. In Wirklichkeit ist es so, dass Ererbtes und Erlerntes in allen Bereichen außergewöhnlicher Leistung so miteinander verflochten sind, dass die Antwort immer lautet: beides. Dies ist jedoch für die Wissenschaft kein zufriedenstellender Schlusspunkt. Wissenschaftler müssen der Frage nachgehen: »Wie wirken Erlerntes und Ererbtes ganz konkret zusammen?« Und »Wie groß ist der jeweilige Anteil?« Um diese Fragen zu beantworten, sind Sportwissenschaftler auf das Gebiet der modernen Genforschung vorgedrungen.
Warum sind gute Sportler so gut?
Vor fast vierzig Jahren, bevor Janet Starkes eine der einflussreichsten Sportforscherinnen der Welt wurde, war sie eine 1,57 Meter große Aufbauspielerin, die eine Saison in der kanadischen Basketball-Nationalmannschaft verbrachte. Ihren bleibenden Einfluss auf den Sport übte sie jedoch außerhalb des Spielfelds aus, nämlich mit ihrer Arbeit als Doktorandin an der Universität von Waterloo. Ihr Forschungsziel war es, herauszufinden, warum gute Sportler, nun ja, gut sind. Tests an der »Hardware« – den angeborenen Körpereigenschaften von Sportlern, beispielsweise der einfachen Reaktionszeit – hatten erstaunlich wenig dazu beigetragen, sportliche Spitzenleistungen zu erklären. Die Reaktionszeiten von Spitzensportlern lagen immer um eine fünftel Sekunde herum, genau wie die Reaktionszeiten von zufällig ausgewählten Testpersonen.
Daher suchte Starkes woanders nach der Antwort. Sie hatte von Untersuchungen an Fluglotsen gehört, bei denen man mithilfe von »Signalerkennungstests« gemessen hatte, wie schnell ein erfahrener Fluglotse visuelle Informationen durchkämmte, um das Vorhandensein oder Fehlen entscheidender Signale festzustellen. Und sie entschied, dass sich eine solche Untersuchung durch Übung erlernter kognitiver Wahrnehmungsfähigkeiten als lohnend erweisen könnte. Also erfand Starkes 1975 im Rahmen ihrer Abschlussarbeit für Waterloo den modernen »Okklusionstest«.
Der Okklusionstest
Sie sammelte Tausende von Fotos aus Frauen-Volleyballspielen und fertigte Dias von Bildern an, auf denen sich der Volleyball im Bild befand oder den Bildbereich gerade verlassen hatte. Auf vielen Fotos waren die körperliche Haltung und Dynamik der Spielerinnen nahezu identisch, egal ob der Ball im Bild war oder nicht, da sich seit dem Moment, in dem der Ball das Bild verließ, kaum etwas geändert hatte. Starkes baute dann ein Spektiv vor einer Leinwand mit Diaprojektor auf und ließ Volleyballerinnen die Dias einen Sekundenbruchteil lang betrachten und anschließend raten, ob sich der Ball im aufblitzenden Bild befand oder nicht.
Die Blickdauer war zu kurz, als dass die Betrachterinnen den Ball tatsächlich hätten sehen können. So sollte festgestellt werden, ob die Spielerinnen das gesamte Spielfeld und die Körpersprache der anderen anders wahrnehmen als ein Durchschnittsmensch und ob sie dadurch auf das Vorhandensein des Balles schließen. Die Ergebnisse der ersten Okklusionstests verblüfften Starkes.
Der Unterschied zwischen Profis und Amateuren: Die Wahrnehmung des Spiels
Anders als bei den Untersuchungen der Reaktionszeiten war der Unterschied zwischen Spitzensportlern und Anfängern enorm. Den EliteSpielerinnen genügte ein Sekundenbruchteil, um festzustellen, ob der Ball vorhanden war. Und je besser die Spielerin, desto schneller konnte sie jedem Dia relevante Informationen entnehmen. Einmal testete Starkes Mitglieder der kanadischen Volleyball-Nationalmannschaft, zu der zu dieser Zeit eine der besten Stellerinnen der Welt gehörte. Anhand eines Bildes, das nur eine Sechzehntausendstelsekunde lang vor ihren Augen aufblitzte, konnte die Stellerin ableiten, ob der Volleyball vorhanden war.
»Das ist eine erstaunliche Leistung«, versicherte mir Starkes. »Leute, die nicht Volleyball spielen, erkennen in sechzehn Millisekunden nur einen Lichtblitz.« Die Weltklasse-Stellerin erkannte innerhalb von sechzehn Millisekunden nicht nur das Vorhandensein oder Nichtvorhandensein des Balls, sondern erspähte mitunter genug visuelle Informationen, um zu wissen, wann und wo das Bild aufgenommen wurde. »Nach jedem Dia bestätigte sie mit ›ja‹ oder ›nein‹, ob da ein Bal...