III
Beziehungsgestaltung als Voraussetzung nachhaltigen Lernens im Unterricht: Theorien und Forschungsergebnisse
Bereits in Teil II sollte deutlich geworden sein, dass positiv erlebte Interaktionen und eine gute Beziehungsqualität im Unterricht nachhaltiges Lernen unterstützen können. In Bezug auf pädagogische Beziehungen, ihre Voraussetzungen und Wirkungen liegen zahlreiche Theorien vor. In diesem Band werden vier aktuell diskutierte Ansätze in den Blick genommen, die jeweils auf die Interaktion zwischen Lernenden und Lehrenden fokussieren sowie eine Ko-Konstruktion der Beziehung nahelegen. Zudem liegt für diese Ansätze eine breite theoretische und empirische Basis im Zusammenhang mit nachhaltigem Lernen vor.
Für jede Theorie werden zunächst die zugrunde liegenden theoretischen Annahmen dargestellt, im nächsten Schritt Forschungsergebnisse mit Bezug zur Beziehungsgestaltung im Unterricht und zum nachhaltigen Lernen zusammengefasst und zuletzt Hinweise für die Schul- und Unterrichtspraxis abgeleitet. Als Erstes werden
erwartungsbasierte Ansätze, in de
nen die Rolle gegenseitiger Erwartungen für die Interaktionsqualität und das Lernen aufgearbeitet wird (
Kap. 3), thematisiert. Orientiert an
humanistischen Grundlagen ergeben sich aus
personenzentrierten Ansätzen sowie der
Selbstbestimmungstheorie Hinweise für die Beziehungsgestaltung im Unterricht (
Kap. 4).
Anerkennungstheoretisch wird die Bedeutung von Anerkennung und Missachtung durch die Lehrperson für die Selbsteinschätzung, die Motivation, emotionale Zustände, schulisches Wohlbefinden und damit letztlich den Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler in den Blick genommen (
Kap. 5). Zuletzt werden
vertrauenstheoretische Grundlagen der Beziehungsgestaltung in Bezug auf das nachhaltige Lernen dargestellt (
Kap. 6).
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Erwartungen von Lehrpersonen und Beziehungsgestaltung
Lehrende und Lernende begegnen sich, wie Menschen im Allgemeinen, in der Regel nie komplett neutral, sondern stellen bestimmte Erwartungen aneinander, die für ihr Verhalten und die Beziehung eine wichtige Rolle spielen (Dubs, 2009). Diese Erwartungen können normativer oder antizipatorischer Art sein.
Normative Erwartungen meinen »bestimmte Forderungen an das Verhalten einer anderen Person« (Rosemann & Bielski, 2001, S. 165), es handelt sich hierbei um Vorstellungen darüber, wie sich eine Person verhalten sollte. »
Antizipatorische Erwartungen stellen eine gedankliche Vorwegnahme des zukünftigen Verhaltens der anderen Person dar« (ebd.), es handelt sich also um Vermutungen darüber, wie sich die andere Person verhalten wird (ebd.). In pädagogischen Beziehungen sind beide Erwartungen präsent (
Beispiel 3.1).
Beispiel 3.1
Herr Müller gibt am Ende der Unterrichtsstunde Hausaufgaben auf. Er erwartet, dass die Schülerinnen und Schüler die Hausaufgaben erledigen (normative Erwartung), geht aufgrund von früheren Erfahrungen jedoch davon aus, dass bestimmte Schülerinnen und Schüler die Hausaufgaben nicht machen werden (antizipatorische Erwartung).
3.1 Normative Erwartungen
Normative Erwartungen spielen für pädagogische Beziehungen eine wichtige Rolle: Sie geben nicht nur Aufschluss darüber, welches Verhalten sich Lehrende und Lernende voneinander wünschen, sondern beeinflussen, wie Lehrende und Lernende einander wahrnehmen, beurteilen und sich verhalten. Ihre Erfüllung kann sich positiv auf die pädagogische Beziehung und das Erreichen der schulischen Ziele auswirken.
3.1.1 Normative Erwartungen in pädagogischen Beziehungen
Welche normativen Erwartungen Lehrende und Lernende aneinander stellen, wurde vor allem in den 1960er bis 1980er Jahren häufig untersucht (z. B. Baumgärtner, 1969; Brophy & Good, 1976; König, 2007; Petillon, 1982; Richey, 2016; Silberman, 1969; Seitz, 1996). Die Studien gelangten trotz unterschiedlicher Stichproben, Erhebungszeitpunkten und -methoden zu einheitlichen Befunden.
Die normativen Erwartungen von Lehrpersonen richten sich auf
1. die Freundlichkeit (z. B. freundliches Benehmen),
2. die Mitarbeit (z. B. Beteiligung, aktive Teilnahme am Unterricht),
3. die Leistung (z. B. richtige Antworten auf Fragen, gute Noten),
4. die Disziplin (z. B. Klassenregeln einhalten, Unterricht nicht stören) der Schülerinnen und Schüler.
Die normativen Erwartungen von Schülerinnen und Schülern richten sich auf
1. die emotionale Wärme (z. B. Freundlichkeit, Gerechtigkeit, Geduld, Verständnis, Vertrauen, Gutmütigkeit),
2. das fachliche Können (z. B. interessante Unterrichtsgestaltung, Berücksichtigung von Interessen der Schülerinnen und Schüler, gut erklären können, Leistung fordern, bei Lernschwierigkeiten unterstützen),
3. das Durchsetzungsvermögen (z. B. konsequent sein, sich durchsetzen können, aber auch selten und angemessen strafen, Freiräume gewähren) der Lehrpersonen.
Die Studien gelangten unabhängig davon, wann (1954–2016), wo (Deutschland und USA) und welche (Schulform, Klassenstufe) Lehrpersonen, Schülerinnen und Schüler befragt wurden, zu einheitlichen Befunden. Dies hängt mit der Kontextbezogenheit normativer Erwartungen zusammen.
Kontextbezogenheit normativer Erwartungen
Der Begriff der normativen Erwartungen stammt aus rollentheoretischen Konzepten. Hierbei ist zentral, dass jede Person aufgrund bestimmter zugeschriebener Eigenschaften (z. B. Geschlecht, Alter, Herkunft) und freiwilliger Eigenschaften (z. B. Beruf) verschiedene Rollen einnimmt, wobei mit jeder Rolle normative Erwartungen verbunden sind (Hargreaves, 1972). Da jede Person verschiedene Rollen einnimmt (z. B. die Rolle als Tochter/Sohn, Schwester/Bruder, Schülerin/Schüler, Freundin/Freund etc.) und mit jeder Rolle normative Erwartungen an das Verhalten verbunden sind, sind normative Erwartungen sowohl allgegenwärtig als auch von der jeweiligen Rolle abhängig (kontextspezifisch). So wird von ein- und derselben Frau beispielsweise in ihrer Rolle als Lehrerin ein anderes Verhalten erwartet als in ihrer Rolle als Mutter.
Bei genauerer Betrachtung fällt auf, dass sowohl die schulischen Aufgaben von Lehrenden und Lernenden als auch deren normative Erwartungen sich aufeinander beziehen (
Abb. 3.1).
Normative Erwartungen gehen in pädagogischen Beziehungen auf die gesellschaftlichen Aufgaben und Funktionen der Schule (vor allem Qualifikation, Sozialisation und Selektion; Fend, 2006;
Kap. 2.1.1) zurück, die wiederum die Aufgaben der Lehrenden (z. B. Lerninhalte bzw. Normen/Werte vermitteln, Leistungen erfassen und bewerten) und Lernenden (z. B.
Abb. 3.1: Normative Erwartungen von Lehrenden und Lernenden vor dem Hintergrund ihrer schulischen Aufgaben
Lerninhalte bzw. Normen/Werte aneignen, Leistungen erbringen) in der Schule prägen. Bei der Erfüllung der schulischen Aufgaben sind Lehrende und Lernende voneinander abhängig. Die Aneignung von Kenntnissen und Fertigkeiten sowie die erbrachten Leistungen der Schülerinnen und Schüler hängen z. B. auch mit dem fachlichen Können der Lehrpersonen zusammen. Bei der (erfolgreichen) Vermittlung von Kenntnissen und Fertigkeiten sind Lehrpersonen von der Mitarbeit der Schülerinnen und Schüler abhängig. Sie können die Mitarbeit oder Bearbeitung von Aufgaben zwar einfordern, haben aber dennoch nur einen begrenzten Einfluss auf das Lernen der Schülerinnen und Schüler (
Kap. 1.4).
3.1.2 Funktion und Auswirkungen normativer Erwartungen
Obwohl normative Erwartungen normal und alltäglich sind, da an jede Person normative Erwartungen gestellt werden, sind sie für soziale Beziehungen von entscheidender Bedeutung. Normative Erwartungen geben nicht nur Aufschluss darüber, welches Verhalten wir in einer bestimmten Beziehung voneinander erwarten. Sie beeinflussen, wie wir andere Personen wahrnehmen, beurteilen und uns ihnen gegenüber verhalten.
Die Wahrnehmung von Personen ist aufgrund der Vielzahl der verfügbaren Informationen immer selektiv (Schweer & Thies, 2000). Worauf wir bei anderen achten, wird von den eigenen normativen Erwartungen festgelegt (Ulich, 2001). Normative Erwartungen filtern somit unsere Wahrnehmung anderer Personen. Darüber hinaus bewerten wir andere Personen danach, inwiefern ihr Verhalten mit unseren eigenen normativen Erwartungen übereinstimmt. Normative Erwartungen wirken also auch als ein »Beurteilungsraster« (ebd., S. 86). Das Ergebnis dieses Vergleichs beeinflusst, wie wir uns anderen gegenüber verhalten: »Durch die Beurteilung der anderen Person werden bestimmte Handlungsmuster von vorneherein wahrscheinlicher, andere hingegen ausgeschlossen« (Schweer & Thies, 2000, S. 65).
So nehmen Lehrpersonen bei Schülerinnen und Schülern vor allem ihr Sozialverhalten (Freundlichkeit, Einhaltung von Regeln), ihre Mitarbeit, Aufmerksamkeit und ihren Lernerfolg wahr und beurteilen sie danach. Das Ausmaß der Übereinstimmung des Verhaltens der Lernenden mit den normativen Erwartungen der Lehrpersonen wirkt sich auf das Verhalten der Lehrpersonen au...