»Be Creative!«: Kreativität als ökonomischer Imperativ
Kreativität und die Auseinandersetzung mit ihr haben in den letzten Jahren einen regelrechten Boom erlebt. Jeder und jede ist aufgefordert, die eigenen kreativen Potenziale in den Beruf und das soziale und kulturelle Leben einzubringen. Es geht darum, die eigenen Lebens-, Alltags- und Arbeitssituationen zu verbessern, neue Ideen zu entwickeln und damit zur Veränderung beizutragen – Innovationen hervorzubringen. In diesem Sinne ist Kreativität zu einem ökonomischen und gesellschaftlichen Leitbild geworden und gilt vielen als der ultimative Erfolgsgarant. Unter den gegenwärtigen Herausforderungen eines sich verschärfenden internationalen Wettbewerbs und angesichts all der zahlreiche offene Fragen, die durch die Digitalisierung, den demografischen Wandel und nationale und internationale Krisen entstehen, wird Kreativität zu einem wesentlichen Wettbewerbsfaktor. Die gegenwärtigen Herausforderungen für Wirtschaft und Gesellschaft sind enorm: ein sich verschärfender internationaler Wettbewerb, fortschreitende Digitalisierung und Technisierung, gravierende demografische Veränderungen, sowie Krisen von nationaler und internationaler Tragweite. Vor diesem Hintergrund werden Kreativität und das Management von Kreativität und Innovation zu wesentlichen Erfolgsfaktoren für Unternehmen. Kreativität wird zum ökonomischen Imperativ.
Das vorliegende Buch ist zweigeteilt. Der erste Teil (»Be Creative!«) widmet sich den verschiedenen Facetten von Kreativität als organisationale Ressource und als Teil des Innovationsprozesses. In der Einführung wird Kreativität im unternehmerischen Kontext diskutiert und in Kapitel 2 werden die wesentlichen Grundbegriffe im Zusammenhang mit Kreativität, Idee und Innovation erläutert. In den folgenden fünf Kapiteln wird dem Umstand Rechnung getragen, dass die Begünstigung und das Management von Kreativität in Organisationen an verschiedenen Ebenen ansetzen müssen. Dies gilt insbesondere für die Ebenen der Einzelpersonen, der Teams und Arbeitsgruppen, der Arbeitsprozesse und -umgebungen, der Organisation sowie für die Interaktionen zwischen den genannten Ebenen. Aus diesem Grund befasst sich dieses Buch zunächst mit Kreativität auf individueller Ebene und betrachtet den Menschen, seine Fähigkeiten, Merkmale und Denkprozesse als Ausgangspunkte von Kreativität. Daraufhin werden arbeits- und organisationsbezogene Einflüsse auf Kreativität betrachtet, sowie die Wechselwirkungen von Kreativität und Raum besprochen. Schließlich wird Kreativität als Teil der Innovation betrachtet, wobei die Frühphase von Innovationsprozessen, das sogenannte Fuzzy-Front-End, im Fokus steht.
Im zweiten Teil (»Go Beyond!«) widmen sich drei ausgewählte Themenschwerpunkte der Tatsache, dass sich Kreativität in einem ständigen Prozess der Veränderung und des Wandels befindet. In diesem Sinne wird Kreativität nicht als statisches Konzept betrachtet, sondern einer fortwährenden Anpassung unterzogen. Dies betrifft z. B. die Wechselwirkungen zwischen Kreativität und Design, Kreativität und künstlicher Intelligenz sowie Kreativität und Krise. Gleichzeitig verändern sich dadurch auch die Anforderungen an ein zeitgemäßes Kreativitäts- und Innovationsmanagement. Abbildung 1 verdeutlicht den Aufbau des Buches.
Abb. 1: Aufbau des Buches
Das Buch verbindet aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse und praxisbezogene Erfahrungen. Es dient dazu, Kreativität systematisch und wissenschaftlich fundiert aufzuarbeiten. Das Buch beinhaltet praktische Empfehlungen und Anstöße für konkrete Veränderungen auf der Basis von Fallbeispielen, Best-Practice-Berichten und Erfahrungen im Umgang mit Kreativität als unternehmerischer Ressource. Entscheidend ist neben einem kreativen Klima und einer ausgeprägten Innovationskultur nämlich die unmittelbare Verstärkung kreativer Momente durch spezielle Techniken, Prinzipien und Prozesse.
1 Einführung zu Kreativität im Unternehmenskontext
Kreativität bezieht sich schon lange nicht mehr ausschließlich auf kulturelle oder künstlerische Erzeugnisse, sondern auch auf technische Erfindungen, wissenschaftliche Entdeckungen, wirtschaftliche Erfolge und soziale Lösungsansätze. Kreativität und kreative Leistungen im und außerhalb von Unternehmen dienen dazu, Marktanteile zu sichern, Kundenbedürfnisse besser zu befriedigen als bisher, neue Produkte zu entwickeln, sie schneller auf den Markt zu bringen, Prozesse zu optimieren und letztlich Innovationen zu generieren, die für Wettbewerbsfähigkeit, Wachstum und Gewinne sorgen. Insofern ist Kreativität zu einer der wichtigsten unternehmerischen Ressourcen geworden.
1.1 Kreativität als Anforderung und Ressource
Kreativität war nie knapper als heute, da sie zur Norm geworden ist. Wolfgang Ullrich (*1967), Kunsthistoriker, Kulturwissenschaftler und Autor
In sämtlichen Organisationen scheint der Bedarf an kreativen Mitarbeitern so groß wie nie zu sein. Fast jede Stellenanzeige beinhaltet die Forderung nach Kreativität – unabhängig von Branche und Position. Gleichzeitig rühmen sich Unternehmen, die bestmöglichen Arbeitsbedingungen zu bieten, um »die Kreativen« anzulocken und zu halten. Angela Merkel sprach 2006 auf dem Weltwirtschaftsforum in Davos vom »kreativen Imperativ«, d. h. von der unbedingten Notwendigkeit für Unternehmen und andere Organisationen innovativ zu sein, um im Wettbewerb bestehen zu können.
Kreativität wird zu einer erfolgskritischen beruflichen Anforderung für eine Vielzahl von Stellen und Positionen. Problematisch dabei ist, dass Kreativität ebenso unscharf ist, wie andere Anforderungen, die an bestehende und neue Mitarbeiter gestellt werden und die in Stellenanzeigen artikuliert werden, wie z. B. Teamfähigkeit oder Leistungsbereitschaft. Diese Unschärfe lässt sich durch eine gründliche Auseinandersetzung mit dem Kreativitätsbegriff beheben.
Betrachtet man konkrete Berufsbilder und Tätigkeitsbeschreibungen etwas genauer, so wird deutlich, wann Kreativität besonders wichtig ist. Für bestimmte Tätigkeiten existieren Anforderungslisten, in denen auch Kreativität explizit berücksichtigt wird. Die derzeit führende Zusammenstellung von Tätigkeiten und ihren Anforderungen stellt das sogenannte »Dictionary of Occupational Titles« dar und wird vom U.S. Department of Labour veröffentlicht (O*Net). Die folgende Auswahl führt Berufe an, in denen gemäß des O*Net Kreativität zu den herausragenden Tätigkeitsanforderungen gehört (Schuler und Görlich 2007, 4).
• Innovationsbezogene Berufe – z. B. Führungs- und Managementberufe, Unternehmer, Diplomaten, Organisatoren, Berater, Therapeuten.
• Forschung und Entwicklung – z. B. Ingenieure, Produktentwickler, Wissenschaftler, Marktforscher, Stadtplaner, Ärzte.
• Gestalterische Berufe – z. B. Designer, Architekten, Fotografen, Regisseure, Journalisten, Lehrer, Schriftsteller, Schauspieler, Musiker, Maler.
Die Auflistung zeigt, dass Kreativität vor allem dann zu einer beruflichen Anforderung wird, wenn die Tätigkeit ein gewisses Maß an Entscheidungsfreiheit und Autonomie zulässt und wenn sie darauf ausgerichtet ist, Produkte, Services oder Prozesse zu verbessern. Unternehmen können davon profitieren, die Kreativität ihrer Mitarbeiter zu fördern – sowohl durch eine gezielte Auswahl als auch Führung, Arbeitsgestaltung und Training.
Die Kreativität der eigenen Mitarbeiter nicht zu nutzen, könnte aus betriebswirtschaftlicher Perspektive sogar als »Verschwendung« betrachtet werden. Der Japaner Taiichi Ohno gilt als Mit-Erfinder des Toyota-Produktionssystems, der Kanban-Logik und des Managementkonzepts Kaizen. Ihm zufolge handelt es sich um einen Verlust an Zeit, Ideen und Verbesserungsansätzen sowie eine Verschwendung von Fähigkeiten und Erfahrungen, wenn Mitarbeiter nicht in den Verbesserungsprozess einbezogen werden (Ohno 2013, 93). Kreativität ist eine betriebliche Ressource, die es bestmöglich zu nutzen gilt.
1.2 Kreativität als Wettbewerbsfaktor
Eine Klage über die Schärfe des Wettbewerbs ist in Wirklichkeit nur eine Klage über den Mangel an Einfällen. Walter Rathenau (1867-1922), Politiker, Schriftsteller und Industrieller
Wettbewerbsvorteile von Unternehmen basieren immer stärker darauf, mit den »besten Köpfen« zu arbeiten und nicht mehr vorwiegend auf einer hohen physischen Leistungsfähigkeit und hervorragenden Produktionsfaktoren (Rohstoffe, Energie, Grund, Kapital). Dieter Zetsche, ehemaliger CEO der Daimler AG, hat nicht etwa die eigene Infrastruktur und modernste Produktionstechnologien als wichtigste Ressourcen des Unternehmens bezeichnet, sondern Kreativität und Unternehmenskultur. Bei allen Fortschritten in den Bereichen der Automatisierung und der künstlichen Intelligenz scheint Kreativität jene Fähigkeit zu sein, in denen Menschen den Maschinen überlegen sind und auf absehbare Zeit auch bleiben werden. Nicht zuletzt dies erklärt die enorme Bedeutung von Kreativität. Schulen und Bildungsträger versuchen, den Erfordernissen von Wirtschaft und Politik nachzukommen und Kreativität möglichst früh und in vielfältiger Weise zu entdecken und zu fördern. Dabei stellt sich natürlich die Frage, ob die Diskussion um Kreativität nicht nur ein Hype ist, sondern ob damit tatsächlich nachhaltige Veränderungen in Wirtschaft, Unternehmen und Gesellschaft einhergehen müssen und können.
Fakt ist, dass Innovationen stets mit kreativen Ideen von Menschen beginnen, die schöpferisch tätig werden. Kreativität kann nämlich als Schaffenskraft übersetzt werden – abgeleitet vom Lateinischen creare (erschaffen, hervorbringen) und vis (Kraft, Stärke). Allgemein werden mit Kreativität die »schöpferische Begabung« und die »schöpferische Tätigkeit« verbunden – als Umschreibung für kreatives Denken und Handeln (Hentig 2000). Diese Schöpfungen sind z. B. Ideen, wie technische, wirtschaftliche und wissenschaftliche Probleme auf neuartige Weise bewältigt werden können oder Ideen, wie aus neuen Technologien marktfähige Produkte und Anwendungen generiert werden können oder schließlich Ideen, wie für bestehende Produkte neue Kundengruppen, Märkte und Vertriebswege erschlossen werden können. Kreativität ist damit Ausgangspunkt für wertschaffende Problemlösungen, für die Einführung neuer Produkte oder Dienstleistungen und letztlich für jede Art von Innovation in Wirtschaft und Gesellschaft (Amabile 1996). Kreativität wird damit unmittelbar zu einem Wettbewerbsfaktor für Unternehmen.
1.3 Kreativität als Prozess
Der beste Weg, gute Ideen zu erhalten, besteht darin, möglichst viele Ideen zu entwickeln. Linus Pauling (1901-1994), Nobelpreisträger für Chemie und Friedensnobelpreisträger
Kreativität wird häufig als Heureka-Moment verstanden bzw. mit einem solchen mystischen Augenblick gleichgesetzt. Damit ist gemeint, dass Kreativität ganz unvermittelt und spontan auftritt, in der Form, dass ein Mensch schlagartig von einem Geistesblitz getroffen wird und im Zuge dessen eine erleuchtende Eingebung hat, durch die sich ein vorhandenes Problem in Luft auflöst.
Der Ausspruch Heureka! (»Ich hab’s gefunden!«) geht auf den griechischen Mathematiker Archimedes zurück. Der Erzählung nach soll dieser das nach ihm benannte Archimedische Prinzip beim Baden entdeckt haben. Nach diesem Prinzip ist der statische Auftrieb eines Körpers in einem Medium genauso groß wie die Gewichtskraft Mediums, das vom Körper verdrängt wird. Archimedes soll den Auftrag erhalten haben, den Goldgehalt einer Krone zu bestimmen, ohne diese zu beschädigen, da der König den Goldschmied verdächtigte, ihn betrogen zu haben. Archimedes grübelte zunächst über die Aufgabe, kam aber zu keiner Lösung und widmete sich daher anderen Tätigkeiten. Als er zum Baden in einen randvollen Wasserbehälter stieg, lief eine bestimmte Wassermenge aus der Wanne, die er mit seinem Körpervolumen verdrängte. Daraufhin rief er »Heureka!« und rannte freudig – und splitternackt – auf die Straße. Er kam auf den Gedanken, dass sich aus dem Zusammenhang von Gewicht und Wasserverdrängung die Dichte und damit der Goldgehalt der Krone bestimmen lassen sollte. Taucht man also die Krone und einen exakt gleich schweren Goldbarren in einen Wasserbehälter, so müsste die Wasserverdrängung ebenfalls identisch sein.
Wenngleich es sich bei dieser Geschichte sehr wahrscheinlich um eine Legende handelt, macht die Erzählung zwei Aspekte deutlich. Einerseits kommen kreative Eingebungen oft ganz unvermittelt und andererseits basieren sie auf einem umfangreichen Experten- und Vorwissen, das diese Eingebungen erst ermöglicht. Auch in der Wirtschaft werden kreative Ideen oft auf besondere Momente zurückgeführt, wie die folgende Geschichte des langjährigen CEO von Starbucks Howard Schultz verdeutlichen soll, die von Goleman et al. (1999, 23) folgendermaßen erzählt wird: »An einem sehr sonnigen Frühlingsmorgen des Jahres 1983 tritt ein amerikanischer Geschäftsmann aus einem Hotel in Mailand. Eigentlich will er sich ein wenig die Stadt ansehen und anschließend die Haushaltswarenmesse besuchen, für die er eigens aus den USA angereist ist. Doch gleich um die Ecke entdeckt er eine Espresso-Bar. Neugierig geht er hinein. Er sieht den freundlichen Barmann, hört das Dampfgeräusch der Espresso-Maschine, spürt das Porzellan der kleinen Tassen, schmeckt die Wärme und das Aroma des frisch gemahlenen Kaffees.« Dieser Moment soll Howard Schultz die entscheidende Inspiration für Starbucks als weltumspannende amerikanische Kaffeehauskette geliefert haben.
Howard Schultz mag diesen Moment tatsächlich erlebt haben. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass ...