Systemische Jugendlichenpsychotherapie
„Junge Menschen lügen nicht, Erwachsene dagegen sehr.“
Über den Umgang mit Selbstverständlichkeiten und Besonderheiten in der Therapie mit Jugendlichen
Kurt Ludewig
Einleitung
Was ist Besonderes an Jugendlichen?
Systemische Therapie
Der systemische Ansatz
Das Dilemma psychosozialer Versorgung
Zum Stand der Forschung – ein kurzer Einblick
Kinder- und Jugendpsychotherapie
Familientherapie
Zur Psychotherapie mit Jugendlichen
Ausgangsbedingungen
Familientherapie/systemische Therapie
Integrative Momente
Psychotherapie mit Jugendlichen – einige Besonderheiten
Anliegen und Auftrag
„Kundenorientierung“
Informierte Zustimmung
Kontextorientierung
Mitgefühl
Unmittelbarkeit
Transparenz
Ein Fazit zum Schluss
Literatur
EINLEITUNG
Über den Titel dieses Aufsatzes wird manch einer sich gewundert haben. Vielleicht fühlt man sich dem Klang nach an den Reim erinnert, der in etwa lautet: „Vater werden ist nicht schwer, Vater sein dagegen sehr.“ Was aber hat das mit der Therapie von Jugendlichen zu tun? Ehrlich gesagt: Ich weiß es auch nicht mehr so genau. Ich könnte unter Umständen sagen, dass meine Frau zu der Zeit, als ich diesen Titel ersann, unseren jetzt einjährigen Sohn erwartete. Dies aber als Begründung für die Überschrift eines Aufsatzes? Nein! Eine tiefgründigere Interpretation wäre angebrachter. Sie könnte wie folgt lauten: Bei der Anfrage zu einem Aufsatz, den man viele Monate später erst fertig stellen muss, ist man aufgefordert, sich einen möglichst griffigen und anziehenden Titel auszudenken. Man steht – übrigens nicht viel anders als bei der Zeugung eines Kindes – vor einem folgenreichen Schöpfungsakt und ist dennoch bezüglich der Folgen relativ unbekümmert. Dann fällt einem irgendetwas ein; man sieht darin einen Sinn und ist zufrieden. Einige Zeit später, wenn man sich daran macht, den Aufsatz zu formulieren, findet man sich vor dem Produkt seiner Schöpfung wieder, wundert sich und ist aber gezwungen, Verantwortung für seine Entscheidung zu übernehmen. Man muss den gewählten Titel ernst nehmen und ihn nach Möglichkeit einbeziehen – nicht anders übrigens, als wenn das Kind bereits geboren worden wäre. Luhmann würde hier von der unwiderstehlichen Anschlusskraft solcher Handlungen reden. Also, ich beuge mich und versuche, den Sinn meiner Überschrift zu rekonstruieren und ihn, nolens volens, als Richtschnur für meine Argumentation zu verwenden. Schließlich ist das Kind schon auf der Welt, und es geht nunmehr darum, es lieben zu lernen!
Um einen Anfang zu finden, halte ich fest, dass es mir bei meiner Überschrift vor allem auf den starken Gegensatz dieser Sätze, auf das „dagegen sehr“ ankommt. Denn die Psychotherapie mit Jugendlichen als asymmetrische Begegnung und Auseinandersetzung zweier Generationen findet inmitten starker Gegensätze statt. In einem professionell ausgestatteten Raum trifft ein junger, mit den Selbstverständlichkeiten gesellschaftlichen Lebens unvertrauter und damit hadernder Mensch mit einem Erwachsenen zusammen, der seinen Lebensunterhalt durch geschickte professionelle Nutzung eben jener Selbstverständlichkeiten verdient. Die Ausgangslage könnte kaum kontrastreicher sein: Ein leidenschaftlich suchender, Konventionen misstrauender junger Mensch trifft auf einen Menschen, der sich zumeist mit dem Sosein des Lebens abgefunden hat und die sozialen Konventionen hütet. Wahrhaftige, kraftvolle Naivität trifft auf abgeklärte, konventionelle Professionalität; Werdendes trifft auf Gewordenes. Und nun haben beide diese ungleiche Beziehung mit Sinn zu füllen, und zwar in der Hoffnung, dass es dabei dem Jüngeren besser als bisher gelingt, mit seinem Leben zurechtzukommen.
Wenn ich also behaupte, dass junge Menschen nicht lügen, meine ich selbstredend nicht, dass sie nicht fähig wären, sich zu verstellen oder Lügen gezielt einzusetzen. Ich meine vielmehr, dass sie, ohne auf ausreichende Lebenserfahrung oder auf die vorgefertigten Gewissheiten des Selbstverständlichen zurückgreifen zu können, bei der Suche nach glaubwürdigem und vertrauenswürdigem Halt auf Ernsthaftigkeit und Aufrichtigkeit angewiesen sind. Noch haben sie das dringende Bedürfnis, „die Wahrheit“ zu finden und sich nicht nur auf Normen, Konventionen und andere Selbstverständlichkeiten auszureden. Noch haben sie nicht gelernt, sich mit jenen milden Lügen, „Gewissheiten“ und „Wahrheiten“ zu beruhigen, die uns Erwachsenen so nützlich sind und die im Sinne von Foersters die Erfindung von Lügnern darstellen (vgl. von Foerster u. Pörksen 1999). Viele Jugendliche stehen den Erfordernissen gesellschaftlicher Realität ziemlich schutzlos gegenüber und suchen ihren Halt in der – häufig intensiven und leidenschaftlichen – Anbindung an Menschen, die in ihren Augen Vertrauen verdienen. Und gerade das macht junge Menschen so anfällig für Ausnutzung.
Darin, in diesem Kontrast zwischen der offenen, verletzlichen Suche des Jugendlichen nach Verlässlichkeit und dem oftmals sorglosen Verlass des Erwachsenen auf Konventionen, sehe ich das Besondere an der Psychotherapie mit Jugendlichen. Dies bekam ich vor etwas mehr als 25 Jahren sehr deutlich zu spüren. Zu der Zeit hatte ich als junger, frisch gebackener Psychologe den ersten Einzelkontakt mit einem jugendlichen Patienten auf einer Station der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Als ein im Hamburg der sechziger Jahre ausgebildeter Psychologe brachte ich – neben einer Menge für die Praxis unnützer Kenntnisse – einige Techniken aus der Gesprächspsychotherapie jener Jahre mit. Dementsprechend mühte ich mich um die Verbalisierung emotionaler Inhalte, und zwar so lange, bis mich der jugendliche Patient in mich peinlich berührender Direktheit fragte, ob ich denn nichts anderes könnte, als bloß zu wiederholen, was er schon gesagt hätte. Die erwachsenen Patienten, an denen ich diese Künste erlernt und erprobt hatte, hatten nichts Derartiges gesagt, sondern sich artig und konventionell in das Schema eingefügt, das ich ihnen kraft meiner Ausbildung vorgelegt hatte. Diese Erfahrung machte mich hellhörig. Sie forderte mich heraus zu lernen, meinen Umgang mit den jugendlichen Patienten und Patientinnen auf das Besondere ihrer Lebenssituation einzustellen. Eigentlich verdanke ich diesem Jugendlichen viel mehr. Mit seiner Frage gab er mir den entscheidenden Anstoß, mich in der Welt der Psychotherapie umzusehen und so lange zu suchen, bis ich einige Jahre später einen mich überzeugenden, da unkonventionellen bzw. Konventionen entlarvenden Ansatz finden sollte, eben den systemischen Ansatz.
Bevor ich aber darauf eingehe, erlaube ich mir eine kurze Reflexion über die Lebenslage der Jugendlichen.
WAS IST BESONDERES AN JUGENDLICHEN?
Von allen Beschreibungen, die man dazu finden oder sich selbst ausdenken kann, erscheint mir am passendsten die folgende: Jugendliche sind Grenzgänger – gewissermaßen „borderliners“ –, die sich im Niemandsland zwischen dem fremd verantworteten Leben der Kindheit und der eigenständigen Verantwortung des Erwachsenenseins befinden und sich darin zurechtzufinden versuchen. Dieser Zustand des Übergangs verlangt es, so viel Ungewissheit und Konfliktgeladenheit auszuhalten und so viel Lernfähigkeit und Anpassungsvermögen zu erbringen, wie wohl in keinem anderen Stadium der menschlichen Entwicklung. Daher eignet sich diese Lebensphase einerseits ganz besonders für das Auftreten aller möglichen Auffälligkeiten, einschließlich derer, die in die Zuständigkeit der Psychiatrie fallen: Ängste, Zwänge, Essstörungen und Psychosen nehmen meistens hier ihren Ausgang; die Folgen kindlicher Traumata, wie sie durch Misshandlung, Vernachlässigung und Ausnutzung ausgelöst werden, werden häufig im Jugendlichenalter manifest, ebenso die Folgen unglücklicher physiologischer Ausstattungsmerkmale. Andererseits eignet sich diese Entwicklungsphase des Übergangs ebenso wie wohl kein anderes Stadium ganz besonders für vielfältige Veränderungen, weiterführende Entwicklungen und andere unvorhergesehene Entfaltungen. Darin liegt mitunter das Reizvolle an der Therapie mit Jugendlichen.
SYSTEMISCHE THERAPIE
Der systemische Ansatz
Es geht hier um die Frage, ob es auf der Basis systemischen Denkens tatsächlich sinnvoll ist, von einem unterscheidbaren therapeutischen Ansatz für Kinder und Jugendliche auszugehen oder ob das bereits Vorhandene auch zu diesem Zweck ausreicht. Zuvor möchte ich aber kurz bei der Frage verweilen, was der systemische Ansatz nun beinhaltet. „Systemisch“ steht hier als Kürzel für eine allgemeine Sichtweise des Menschen, gewissermaßen für eine Anthropologie, die im Wesentlichen zugleich von der biologischen Individualität eines jeden Menschen und der sozialen Eingebundenheit aller Menschen ausgeht und beides als untrennbar konstituierende Aspekte der menschlichen Natur – des zoon politikon – begreift. Dementsprechend besagt das so genannte „systemische Prinzip“ – auf den Punkt gebracht –, dass Menschen mindestens zu zweit vorkommen. Menschen werden zu Menschen nur unter Menschen. Aber diese Sozialisation ist bekanntlich kein einfacher Prozess, denn sie wird von Wesen getragen, die aufgrund ihrer biopsychosozialen Komplexität füreinander undurchschaubar und unbestimmbar sind und bleiben. Um zu verstehen, wie Menschen dennoch zu sozialen Wesen heranwachsen, muss man unterstellen, dass sie andauernd bemüht sind, ihre unentrinnbare biologische Individualität durch Konsensualisierung zu überwinden. Und diese nie aufhörende Bemühung beginnt, wie die neuere Säuglingsforschung zu berichten weiß, schon im Säuglingsalter und wird nach und nach von immer komplexer werdenden Formen der affektiven Abstimmung getragen, die später durch Sprachlichkeit fortgeführt und verfeinert wird (vgl. z. B. Dornes 1993; Stern 1992).
Das Dilemma psychosozialer Versorgung
Am Anfang jeder Form der psychosozialen Versorgung steht ein unauflösbares Dilemma. Dieses resultiert aus der Handlungskausalität, die in dem gesellschaftlichen Auftrag an den professionellen Helfer enthalten ist. Dieses so genannte Therapeutendilemma lässt sich wie folgt formulieren: „Handele wirksam, ohne je im Voraus zu wissen, wie und was dein Handeln auslösen wird!“ (vgl. Ludewig 1992). Der jeweilige Umgang mit diesem Dilemma hat Folgen für die Diagnostik, die Intervention und die Evaluation von Therapien und anderen psychosozialen Maßnahmen (vgl. L...