Mein starkes Kind
Wie Sie das Durchsetzungsvermögen Ihres
Kindes gezielt trainieren und das Selbstbewusstsein
und Selbstvertrauen nachhaltig
stärken
Alena Schulte
Das erwartet Sie in
diesem Ratgeber
Dass wir uns durchsetzen können, ist in unserer Gesellschaft unverzichtbar geworden. Konkurrenz und Wettkampf stehen an der Tagesordnung – im Großen wie im Kleinen. Damit Ihre Kinder inmitten dieses Gefüges ein Leben lang bestehen können, ist es wichtig, dass sie schon in der Kindheit erfahren, was es bedeutet, sich selbst zu kennen, sich selbst zu schätzen und auf dieser Grundlage ein stabiles Selbstwertgefühl aufzubauen. Dieses kann ein mentaler Schutzschild sein, der uns davor bewahrt, uns nur auf Bestätigung von außen zu verlassen und im Inneren ständig mit den eigenen Schwächen und Fehlern zu kämpfen.
Ein stabiles und gesundes Selbstwertgefühl kann man lernen – und Sie als Eltern haben großen Einfluss darauf, wie sich das Selbstwertgefühl Ihres Kindes entwickelt und dass sich Ihr Kind selbst wertvoll, stark und genügend fühlt und so die Konflikte oder Herausforderungen des Lebens leichter meistern kann.
Erfahren Sie in diesem Ratgeber, was ein gesundes Selbstwertgefühl ist, wie sich daraus Durchsetzungsvermögen und Stärke entwickeln kann und was Sie als Eltern dazu beitragen können, dass Ihr Kind ein glückliches und selbstbestimmtes Leben führt.
Konkrete Tipps für die Praxis sollen Ihnen dabei helfen, eigene Verhaltensmuster zu reflektieren und die Emotionen Ihrer Kinder richtig einzuschätzen und mit ihnen umgehen zu können. Sie können Ihre Kinder dabei unterstützen, Erfahrungen zu sammeln, die ihr Selbstwertgefühl und damit ihr Durchsetzungsvermögen stärken.
Geben Sie Ihrem Kind die Chance, jetzt und in der Zukunft seine Wünsche und Bedürfnisse zu formulieren, seinen eigenen Wert zu schätzen, hilfsbereit zu sein und trotzdem „Nein“ sagen zu können.
Kinder für das Leben
stärken
Aus Kinderleben
Paul sitzt am Fenster und schaut traurig auf die Straße. Er ist allein. Wieder hat er sich nicht getraut, die anderen Kinder zu fragen, ob er mitspielen darf. Heute war er der Erste gewesen, der die große Puppe mit den roten Haaren aus dem Korb genommen hat, um mit ihr zu spielen. Er mochte diese Puppe. Sie hat lustige Sommersprossen und schaut so freundlich. Nur kurz hatte er sie in der Puppenküche auf einen Stuhl gesetzt. Als er wiederkam, war die Puppe weg. Ein Mädchen hatte sie sich genommen und zu den vier Puppen auf das Sofa gesetzt. Sie spielten jetzt Schule. Paul würde auch gern mit ihnen spielen. Vor allem aber würde er weiter mit der rothaarigen Puppe spielen. Er wirft ihr einen verstohlenen, sehnsüchtigen Blick zu. Aber er traut sich nicht. Weil er Angst hat, dass die anderen ihn komisch finden, weil er ein Junge ist, weil er Angst hat, von ihnen zurückgewiesen oder ausgelacht zu werden, weil er glaubt, dass er nicht stark genug ist, weil er nicht weiß, dass er sagen kann und darf, was er möchte, weil er nicht weiß, dass er gut ist, wie er ist.
***
Montagmorgen. Jana möchte nicht in die Schule. Nicht, weil sie nicht gern lernt. Eigentlich geht sie gern in die Schule, sie ist interessiert, denkt gern nach, das Lernen fällt ihr leicht und sie darf bald aufs Gymnasium. Darauf ist sie schon ein bisschen stolz. Aber Jana hat Angst vor zwei anderen Mädchen aus ihrer Klasse. Jeden Morgen auf dem Schulhof warten die beiden auf sie. Sie wollen ihre Mathehausaufgaben abschreiben. Das geht schnell … einfach die Ergebnisse ins Buch übertragen. Das dauert keine fünf Minuten. Jana hat den halben Samstag mit den Hausaufgaben verbracht. Sie fühlt sich ausgenutzt und sie ist auch sauer auf sich selbst. Das geht nicht erst seit gestern so. Eigentlich ist es schon seit der dritten Klasse. Seit die anderen gemerkt haben, dass Jana fleißig ist. Und dass Jana nicht „nein“ sagen kann. Jana will auch beliebt sein und dazugehören. Sie möchte auch zu den Kindergeburtstagen eingeladen werden. Sie möchte nicht als Letzte in die Sportmannschaft gewählt werden – obwohl sie eigentlich ganz sportlich ist. Und sie möchte nicht Angst haben, dass zu ihrem Geburtstag wieder niemand kommt. Letzte Woche hat Jana die Mathehausaufgaben „vergessen“. So konnte sie ihr auch niemand abschreiben. Heute überlegt sie sich, ob sie vielleicht extra zu spät kommen soll, um den beiden zu entgehen. Alles scheint leichter, als einfach „nein“ zu sagen, denn Jana hat nicht gelernt, „nein“ zu sagen und für sich und ihre Rechte einzustehen. Sie glaubt nicht, dass sie stark genug ist, den beiden ihre Meinung zu sagen. Und sie weiß nicht, dass sie es wert ist, gemocht und geschätzt zu werden, auch, wenn sie sich ihre Beliebtheit nicht mit ihren Hausaufgaben erkauft.
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Clara ist schlecht. Sie fühlt, dass sie gerade einen riesigen Fehler macht. Sie schämt sich, ekelt sich. Alle Alarmglocken in ihrem Kopf läuten ohrenbetäubend laut. Wie konnte sie es nur so weit kommen lassen, sie wollte das doch alles nicht. Toms Hände sind überall. Auch an Stellen, an denen sie sonst noch keiner angefasst hatte. Er drückt seine Lippen auf ihren Mund. Igitt. Das geht ihr alles viel zu schnell. Dabei hat sie doch so lange davon geträumt, dass er mit ihr ausgeht. Heute war es endlich so weit. Sie waren zusammen auf einer Party. Sie war schon ein bisschen verliebt in ihn. Immerhin war er einer der coolen Jungs aus ihrer Schule. Er war zwei Stufen über ihr, hatte bestimmt schon viele Freundinnen. Dass er viele Verehrerinnen hatte, wusste sie auch. Das war das Problem. Wenn sie nicht mitmacht, dann geht er halt mit der Nächsten aus. Mit einer, die cooler, mutiger und reifer ist als sie. Sie hatte sich das alles ganz anders vorgestellt, wollte erst einmal Händchen halten; den anderen zeigen, dass jemand wie Tom mit ihr ausgeht.
Und das, obwohl sie erst 13 ist. Und jetzt – alles ist anders gekommen. Sie will das alles nicht, aber sie traut sich nicht, „stopp“ zu sagen, obwohl sie es laut herausschreien wollte: „Stopp, lass das! Ich will das nicht!“ Aber sie hat Angst, dass er dann das Interesse an ihr verliert, wenn sie ihn jetzt nicht gewähren lässt, dass er sie für ein kleines unreifes Kind hält, dass er es vielleicht den anderen erzählt. Und sie zweifelt auch, ob sie nicht einfach falsch ist. Falsch fühlt? Sie will doch auch kein Kind mehr sein. Clara weiß nicht, dass alle ihre Gefühle, ihre Zweifel, ihre Ängste berechtigt sind, dass sie das Recht hat, sie durchzusetzen und für sie einzustehen. Sie weiß nicht, dass sie „nein“ sagen kann und dadurch nicht an Wert verliert, dass sie allein über sich bestimmen kann.
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Diese kurzen Einblicke zeigen drei völlig unterschiedliche Situationen, in denen Kinder nicht in der Lage waren, sich durchzusetzen. Die fehlende innere Stärke, der Glaube an sich selbst und das Wissen um den eigenen Wert hätten ihnen geholfen, für ihre Bedürfnisse einzustehen. Die Tragweite der drei Situationen ist sehr verschieden. Es wird aber auch klar, dass das Empfinden von negativen Erfahrungen abhängig vom Alter eines Menschen sein kann, dass diese Erlebnisse gemessen an unseren „Erwachsenenproblemen“ für uns vielleicht banal scheinen und trotzdem traumatisierend für ein Kind sein können.
Claras Erlebnis zeigt, wohin es im schlimmsten Fall führen kann, wenn man nicht gelernt hat, sich durchzusetzen und auf seine innere Stimme und Kraft zu vertrauen. Umso wichtiger ist es, diese Eigenschaft schon so früh wie möglich zu stärken, das Selbstwertgefühl eines Kindes aufzubauen und es darin zu unterstützen, seine Bedürfnisse ernst und wahrzunehmen und für sie einzustehen.
Selbstverständlich gleicht kein Kind dem anderen und alle Kinder haben unterschiedliche und individuelle Bedürfnisse. Es gibt aber auch etwas, das bei allen Kindern gleich ist. Der Wunsch nach Liebe, Geborgenheit, Halt und Verständnis. Dass Kinder diese Sicherheiten erfahren dürfen, ist die alltägliche Aufgabe der Eltern.
Es gibt auch kein „Patentrezept“, das Ihre Kinder zu starken, durchsetzungsfähigen Menschen macht. Jedes Kind, jede Situation, jede Familie ist anders und es müssen jeden Tag individuelle und dem Alltag angepasste Entscheidungen getroffen werden.
Trotzdem ist es wichtig, sich als Eltern der Verantwortung bewusst zu sein: Es liegt in Ihrer Hand, dass Ihr Kind ein gesundes Durchsetzungsvermögen entwickelt und zu einem starken Erwachsenen heranwächst, der dem Leben mit Mut begegnet, mit Schwierigkeiten, Rückschlägen oder Misserfolgen umzugehen weiß, der seine Stärken kennt und seine Schwächen akzeptiert und der in der Lage ist, soziale und emotionale Beziehungen einzugehen. Dafür müssen sich Kinder in Ihren Familien geborgen und aufgehoben fühlen und ihre Beziehung zu anderen Menschen (Familie, Freunde …) als etwas Stärkendes und Schönes begreifen.
Das Durchsetzungsvermögen ist weder eine „Technik“ noch eine „Fertigkeit“, die man sich irgendwann im Leben aneignet. Vielmehr ist es ein Merkmal der Persönlichkeit eines Kindes, welches sich nur dann ausbilden kann, wenn sich das Kind geliebt, geschätzt und geborgen fühlt und so ein stabiles Selbstwertgefühl entwickelt.
Wer sich durchsetzen kann, ist in der Lage, seine Rechte auf eine angemessene Art zu verteidigen, „nein“ zu sagen und gleichzeitig achtsam und respektvoll mit seiner Umgebung umzugehen.
Wie sehr das Durchsetzungsvermögen bei einem Kind ausgeprägt ist, beziehungsweise wie sehr es sich ausprägt, ist individuell. Es wird immer Charaktere geben, die lieber einmal mehr zurückstecken und Konfrontationen oder Diskussionen aus dem Weg gehen, um die Harmonie nicht zu gefährden, während andere sich lieber auf Biegen und Brechen durchsetzen wollen. Solange alles in einem gesunden, das heißt auch achtsamen Maß – sich selbst und der Umwelt gegenüber – stattfindet, gibt es kein „Richtig“ oder „Falsch“. Wichtig ist zu erkennen, welche Stärken und Schwächen Ihr Kind hat – und das so objektiv wie möglich. Nicht jedes Kind benötigt mehr Durchsetzungsvermögen; möglicherweise aber Strategien, um respektvoll und achtsam seine Wünsche und Bedürfnisse formulieren zu können und Kompromisse einzugehen.
Ein stabiles Selbstwertgefühl und ein gesundes Durchsetzungsvermögen können den Kindern helfen, Krisensituationen zu bewältigen und mit Kritik umzugehen. Wenn ein Kind seinen eigenen Wert kennt, kann es konstruktive Kritik aufnehmen und diese aber auch von destruktiven Angriffen unterscheiden und solche abwehren. Das Ziel sollte sein, dass Ihr Kind erkennt, dass es wertvoll ist, so wie es ist, und dass die Beurteilung seiner Wertigkeit nicht nur von äußeren Faktoren abhängt, sondern dass das Maß in ihm selbst liegt.
Voraussetzungen schaffen
Wenn wir uns als Erwachsene schwertun, uns durchzusetzen, liegt das Problem oft – wie so vieles – in der wichtigsten Phase unseres Lebens: der Kindheit. Das Selbstwertgefühl des Menschen wird in den ersten sechs Lebensjahren ausgeprägt.
Wenn wir von unseren Bezugspersonen nicht oder nur unzureichend darauf vorbereitet wurden, fällt es uns als Erwachsene oft schwer, für sich selbst und seine Bedürfnisse einzustehen, seine Rechte durchzusetzen und zu verteidigen. Wer in der Kindheit erlebt, was ein gesundes Durchsetzungsvermögen ist und sich selbst wertschätzen gelernt hat, dem hilft es, in schwierigen Phasen Geduld und Ruhe zu bewahren und so ein ausgeglicheneres Leben zu führen und gelingende Beziehungen zu seinen Mitmenschen aufzubauen.
Problematisch wird es immer dann, wenn Kinder in ihren ersten Lebensjahren negative Erfahrungen mit ihrem eigenen Selbstwert machen. Dies kann völlig ohne bösen Willen der Eltern oder auch der Lehrer oder Erzieher geschehen und trotzdem einen immensen Einfluss auf das weitere Leben und Selbst-Erleben des Kindes haben. Wenn den emotionalen Bedürfnissen eines Kindes nicht oder nur unzureichend nachgekommen wird, speichert das Kind diese negative Erfahrung und projiziert sie auf viele Bereiche seines weiteren Lebens. Man spricht in solchen Fällen von „emotionaler Nachlässigkeit“.
Wird über ein Kind gelacht, weil es – in den Augen der Eltern – über eine Nichtigkeit weint oder empört ist, kann es dazu führen, dass es seine Emotionen beim nächsten Mal nicht mehr ungehemmt zeigt und seine Gefühle versteckt, da es nicht noch einmal ausgelacht werden möchte. Was in den Augen eines Kindes schlimm und bedeutsam ist, muss es nicht unbedingt in den Augen eines Erwachsenen sein. Dass sich die Erlebens- und Erkenntniswelt eines Kindes enorm von der seiner Eltern unterscheidet, darf in keinem Fall vergessen werden. Was für ein Kind „schlimm“ ist, scheint für einen Erwachsenen wie eine Lappalie. Bekommt das Kind diese Missachtung bzw. Fehleinschätzung seiner Empfindung zu spüren, kann das weitreichende Auswirkungen auf seine emotionale Entwicklung haben: Es kann seine Gefühle nicht einordnen, hält sie für unangemessen und falsch, und lernt, sie zu unterdrücken.
Die Konsequenzen reichen weit in das Erwachsenenleben hinein. Wer seine Emotionen nicht einordnen kann, wird auch nicht in der Lage sein, sie in einer angemessenen Art und Weise zum Ausdruck zu bringen. Oftmals resultieren daraus dann zwei gegenteilige Strategien: Die einen entscheiden sich für ein untergeordnetes Verhalten, geben in Konfliktsituationen nach und lassen zu, dass andere Menschen sie in der Hand haben; die anderen legen eine Anti-Haltung an den Tag, ne...