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Praxis
Von âMathematischen Scherzenâ und
âLiebe und VerstĂ€ndnis fĂŒr die Naturâ
Naturwissenschafterinnen an den Wiener
Volkshochschulen 1900-1938
Brigitte Bischof
Zitation
Bischof, Brigitte (2021): Von âMathematischen Scherzenâ und âLiebe und VerstĂ€ndnis fĂŒr die Naturâ. Naturwissenschafterinnen an den Wiener Volkshochschulen 1900-1938.
In: Magazin erwachsenenbildung.at. Das Fachmedium fĂŒr Forschung, Praxis und Diskurs, Ausgabe 43.
Online: https://erwachsenenbildung.at/magazin/21-43/meb21-43.pdf.
Schlagworte: Naturwissenschafterinnen, VHS-Kursleiterinnen, Wiener Volkshochschulen, bĂŒrgerliche Frauenbewegung, Botanikerinnen, Mathematikerinnen, Zoologinnen, Physikerinnen
Kurzzusammenfassung
Dass Frauen eher Sprache, Literatur und Geisteswissenschaften bevorzugen, ist ein verbreitetes Stereotyp, das sich auch in der Erwachsenenbildung widerspiegelt: Frauen werden eher mit der Leitung von Sprach- oder Literaturkursen als von mathematischen oder naturwissenschaftlichen FĂ€chern assoziiert. Die Autorin zeigt, dass Frauen im Gegensatz dazu wĂ€hrend der Habsburgerzeit sowie in der Zwischenkriegszeit im mathematischen und naturwissenschaftlichen Bereich als Kursleitende an den Wiener Volkshochschulen tĂ€tig waren. Sie waren in ihren jeweiligen Fachbereichen zumeist bestens ausgebildet und zum ĂŒberwiegenden Teil promoviert. Anhand biografischer Skizzen werden im Beitrag zahlreiche Physikerinnen, Mathematikerinnen, Biologinnen, Botanikerinnen, Zoologinnen sowie in geringerem AusmaĂ Chemikerinnen, Meteorologinnen, Astronominnen und Geologinnen vorgestellt und sichtbar. (Red.)
Von âMathematischen Scherzenâ und
âLiebe und VerstĂ€ndnis fĂŒr die Naturâ
Naturwissenschafterinnen an den Wiener
Volkshochschulen 1900-1938
Brigitte Bischof
Gesellschaftliche Stereotype gehen davon aus, Frauen hÀtten eine besondere AffinitÀt zu Sprache, Literatur und Geisteswissenschaften, aber weniger zu Mathematik, Naturwissenschaft und Technik. So mag es nicht verwundern, Frauen in der Erwachsenenbildung als Kursleiterinnen von Sprach- und Literaturkursen zu finden, aber als Kursleiterinnen mathematischer und naturwissenschaftlicher Kurse?
Ein Blick in die Geschichte der Volksbildung zeigt, dass Frauen durchaus und schon sehr frĂŒh Kurse in Mathematik, Physik und Biologie hielten. Diese Frauen und ihr Beitrag zur naturwissenschaftlich ausgerichteten Volksbildung in Wien beginnend in den Jahren der Habsburger Monarchie bis hin zur Zwischenkriegszeit werden auf den folgenden Seiten kursorisch vorgestellt, geht es im vorliegenden Beitrag ja um ein Wirken gegen die Unsichtbarkeit von Frauen und gegen das Vergessen weiblicher Geschichten94.
Naturwissenschafterinnen in der Wiener Volksbildung: nur eine âAusnahmeâ?
Das Neben- und Miteinander gesellschaftlicher Emanzipationsbewegungen Ă€uĂerte sich im Wien der Jahrhundertwende nicht zuletzt in einer Institutionalisierung der Erwachsenenbildung. So kam es u.a. 1893 zur VerselbststĂ€ndigung des Wiener Volksbildungsvereins, 1895 zur Einrichtung volkstĂŒmlicher UniversitĂ€tskurse, 1897 zur GrĂŒndung der Wiener Urania und 1901 zur GrĂŒndung des Volksheims Ottakring (siehe Stifter 2006). Nahezu zeitgleich, nĂ€mlich ab dem Wintersemester 1897/98, kam es zur Zulassung von Frauen als ordentliche Hörerinnen an der Philosophischen FakultĂ€t der UniversitĂ€t Wien (siehe Heindl/Tichy 1990).
Diese âgeistige Stadterweiterungâ (Eduard Leisching zit. in Stifter 2006) Wiens wurde von Vertreterinnen der bĂŒrgerlichen Frauenbewegung nicht nur unterstĂŒtzt, sie finden sich, wie auch die ersten UniversitĂ€tsabsolventinnen, unter den Vortragenden der Volkshochschulen. Neben Beispielen aus Kunstgeschichte, Literaturwissenschaft und Romanistik kann dabei auch auf eine prominente Naturwissenschafterin â die spĂ€ter international anerkannte Kernphysikerin Lise Meitner â verwiesen werden (siehe Stifter 2006).
Lise Meitner (1878-1968) promovierte 1906 an der UniversitÀt Wien und war nach ihrer Promotion am Wiener Volksbildungsverein, im Volksheim Ottakring und nach ihrer Habilitation an der Wiener Urania tÀtig.95 Entgegen der Vorstellung, dass Meitner als erste und einzige Studentin in Vorlesungen saà und im Labor forschte, ergaben Recherchen zu den Biografien und zur Geschichte von Naturwissenschafterinnen (an) der UniversitÀt Wien (siehe Bischof 2008a), dass vor ihr bereits 25 Studentinnen ein Studium abgeschlossen hatten, darunter etwa die HÀlfte in Naturwissenschaft oder Mathematik. Eine Entwicklung, die sich etwas abgeschwÀcht bis in die Zwischenkriegszeit fortsetzte. Viele dieser Naturwissenschafterinnen wurden spÀter Lehrerinnen, etliche versuchten aber auch, einen anderen, ihrem Studium entsprechenden Beruf einzuschlagen. Eine Möglichkeit, neben der eher begrenzten Aussicht, direkt im akademischen Feld Fuà zu fassen, war die TÀtigkeit in der Volksbildung. Nicht nur konnten Frauen hier die ihnen gesellschaftlich zugesprochenen FÀhigkeiten in der Lehre einsetzen, sondern sie konnten auch ihre wissenschaftliche TÀtigkeit fortsetzen, da die neuen wissenschaftsorientierten Volksbildungseinrichtungen mit sehr guten naturwissenschaftlichen Laboratorien ausgestattet waren.
Frauen sichtbar machen:
Herangehensweise und erste Ergebnisse
Ausgehend vom Modul âNaturwissenschafterinnenâ des Projektes âbiografiA â biografische Datenbank und Lexikon österreichischer Frauenâ wurden die gesammelten Namen und biografischen Hinweise (siehe Bischof 2008a; auch Keintzel/Korotin 2002; Korotin 2016; Korotin/Stupnicki 2018) mit der Bestands-Datenbank des österreichischen Volkshochschul-Archives abgeglichen, welche es u.a. ermöglicht, nach Vortragenden, Kursleiter*innen und ihren Veranstaltungen zu suchen. Die Ergebnisse wurden dann aktualisiert und mittels Online-Recherche ergĂ€nzt. Die systematische Recherche im Bestandsverzeichnis des VHS-Archives umfasste demnach die Doktorandinnen im Bereich Naturwissenschaft und Mathematik (Naturwissenschafterinnen-Sample) bis 1938 und auch ihre TĂ€tigkeit in diesem Bereich und Zeitraum.96
Insgesamt waren 50 Frauen des Samples als Kursleiterinnen und/oder Vortragende der Wiener Volkshochschulen in den genannten FĂ€chern zu finden. Dies sind in etwa fĂŒnfeinhalb Prozent des Naturwissenschafterinnen-Samples. Dieses Ergebnis mag im Vergleich zum Kursangebot im Bereich Naturwissenschaft insgesamt (siehe Ganglbauer 2014) bzw. im Vergleich zur Gesamtzahl der Personen, die an Volksbildungseinrichtungen vor 1938 tĂ€tig waren97, auf den ersten Blick nicht beeindrucken. Auf den zweiten Blick wird deutlich, dass jede einzelne dieser Frauen eine auĂergewöhnliche Geschichte verkörpert und zugleich ihre Vielfalt dem Narrativ der âAusnahmeâ widerspricht.
Die ersten Kursleiterinnen sind bereits frĂŒh, nĂ€mlich um 1902 zu finden. Zeitlich verteilen sie sich recht unregelmĂ€Ăig ĂŒber die Jahre hinweg; auch die Zahl der Kursleiterinnen variiert. Mehr Frauen gleichzeitig sind an den Wiener Volkshochschulen in den Jahren unmittelbar vor und nach dem Ersten Weltkrieg sowie mit Schwankungen in den 1920er Jahren tĂ€tig. 1931 und wieder ab 1934 sinkt die Anzahl der Kursleiterinnen. Wobei dies nicht mit der Zahl der Kurse korrelieren muss. So finden sich Lehrende, die nur einzelne Veranstaltungen anbieten, aber auch Kursleiter*innen, die im Lauf der Zeit mehrere hundert Angebote zu verzeichnen haben.
Bemerkenswert sind neben dem zeitlichen Verlauf die Unterschiede der einzelnen Fachbereiche. Im Bereich der Mathematik und der Botanik sind mehr Kursleiterinnen zu finden als im Bereich der Zoologie und Physik; auffallend ist das praktische Fehlen von Chemikerinnen unter den Kursleiterinnen, reprĂ€sentieren die Chemikerinnen unter den Dissertantinnen doch immerhin die zahlenmĂ€Ăig gröĂte Gruppe. In absoluten Zahlen haben bis 1938 fast fĂŒnfmal so viele Frauen eine Chemiearbeit zur Promotion eingereicht als im Bereich der Mathematik.
Naturwissenschafterinnen an Wiener Volkshochschuleinrichtungen â biografische Skizzen
Die Pionierinnen
Margarete Furcht (1879-1976), die erste Chemikerin der UniversitĂ€t Wien, taucht 1902 als Dr. Grete Furcht, Leiterin des Kurses Anorganische Chemie am Volksheim Ottakring auf. Sie hĂ€lt in Summe vier Kurse zu Chemie. Bis 1906 erscheinen mehrere ihrer Publikationen im Blatt âDas Wissen fĂŒr Alle. VolkstĂŒmliche VortrĂ€ge und populĂ€rwissenschaftliche Rundschauâ sowie im âNĂ Volksbildungsblattâ (siehe Furcht 1903a, 1903b, 1903c, 1904 u. 1906). In der Zwischenkriegszeit ist sie in einer Radioröhrenfabrik tĂ€tig und veröffentlicht gemeinsam mit anderen mehrere Patente. Margarete Furcht emigriert Anfang 1939 nach England (vgl. Bischof 2014, S. 28f.).
Die erste Physikerin, Olga Steindler, verh. Ehrenhaft-Steindler (1879-1933), die spĂ€tere GrĂŒnderin und Direktorin der ersten Handelsakademie fĂŒr MĂ€dchen, ist ebenfalls ab 1902 als Kursleiterin zu finden. Sie leitet insgesamt elf Kurse aus allen Bereichen der Physik am Wiener Volksbildungsverein und am Volksheim Ottakring, zuletzt auch das Physikalische Praktikum gemeinsam mit Lise Meitner. 1905/06 resp. 1907/08 wird sie als Vorstandsmitglied des Physikalischen Kabinetts am Volksheim Ottakring verzeichnet (vgl. Gebhardt 2016, S. 69).
Flora Hochsinger (1878-1942), die erste Absolventin aus dem Bereich Meteorologie und Geophysik, ist die am lĂ€ngsten tĂ€tige Kursleiterin. Ab 1906/07, also bereits wĂ€hrend ihres Studiums, ist sie am Volksheim Ottakring, insbesondere im Bereich Mathematik als Kursleiterin verzeichnet. Nach Abschluss ihres Studiums (Promotion 1910) findet sich 1911/12 und wieder 1920/21 je ein Kurs zu Meteorologie. Bis zu ihrem letzten Jahr am Volksheim Ottakring (1937/38) ergeben sich in Summe 225 Treffer in der Archiv-Datenbank der Volkshochschulen im Bereich Kurse/VortrĂ€ge. Sie unterrichtet verschiedenste Mathematik-Themen, so z.B. Elementares Rechnen, aber auch Zinseszinsen, Versicherungsrechnung und mathematische Scherze. 1916/17 ĂŒbernimmt Hochsinger von Eduard Helly die Leitung der Fachgruppe Mathematik (vgl. Gebhardt 2016, S. 82). Daneben publiziert sie zahlreiche BeitrĂ€ge im Organ des Allgemeinen Ăsterreichischen Frauenvereins âNeues Frauenlebenâ. Nach dem âAnschlussâ Ăsterreichs an das Deutsche Reich bemĂŒht sich Flora Hochsinger vergeblich um Ausreise aus Ăsterreich und eine Möglichkeit der Emigration, dokumentiert in einem Briefwechsel mit...