1. Theologie des Gebets und Theologie der SpiritualitÀt
Zur Fragestellung und zum Fach
Ehe man ein Thema darstellt, ist es wichtig, es zu verorten: Wo ist sein (materialer) Platz auf der theologischen Landkarte? Was sind seine Nachbarthemen? Welche Querverbindungen gibt es zu ihnen? Verortung bedeutet aber nicht nur eine Aussage ĂŒber die material-inhaltliche Ansiedelung eines Themas, sondern auch ĂŒber die formale Methode seiner Behandlung: Welche theologische Disziplin ist fĂŒr die gegebene Fragestellung primĂ€r gefragt? Von welcher Warte aus wird sie vorrangig betrachtet? Dem soll hier vorab zur konkreten DurchfĂŒhrung nachgegangen werden.
1.1 Die Fragestellung: Was heiĂt das eigentlich: Beten?
Was heiĂt das eigentlich: Beten? Was tun Menschen, wenn sie von sich sagen, sie beteten? Dies ist letztlich die analytische Frage nach dem Begriff des Betens: Bedeutet Beten nur, sich selbst und sein Ego zu bespiegeln und die eigenen Gedanken durch die Adressierung an Gott aufzuwerten? HeiĂt es, die Kommunikation mit anderen Menschen einfach zu introvertieren und ins Innere der eigenen Psyche zu verlegen? Bedeutet Beten sich selbst zu beruhigen und Autosuggestion bzw. autogenes Training betreiben? Oder eher TrĂ€umen und sich nach und nach eine Traumwelt aufbauen, die einen den alltĂ€glichen Sorgen entreiĂt? Ist Beten mithin das Einnehmen einer spirituellen Droge, die einen betĂ€ubt und den Alltag leichter ertragen lĂ€sst, wie das Karl Marx mit seiner These vom »Opium des Volks«1 nahelegte? Aber selbst wenn das Gebet auch all das ist â ist damit ĂŒber das Gebet schon alles gesagt? Ist es nur das? Oder kommt noch ein Aspekt dazu, der jenseits all dieser Beschreibungen aus der Distanz der Perspektive des unbeteiligten Beobachters liegt?
Wenn das Gebet durch die KlĂ€rung dieser Fragen als Gegenstand klar bestimmt ist und die Mechanismen seiner Genese erhellt sind, ergibt sich eine Folgefrage: Was heiĂt das nun fĂŒr das Wie des Betens, seine Zeiten und Orte, seine spezifische Sprache, seine Inhalte, den leiblichen Vollzug? Das ist die normative Frage nach der angemessenen Praxis des Gebets.
Beide Fragen werden in dieser Abhandlung theologisch und damit wissenschaftlich reflektiert. Es geht nicht um einen Exerzitienvortrag oder eine Predigt, auch nicht um einen erbaulichen Impuls fĂŒr das persönliche geistliche Leben, sondern um eine sorgfĂ€ltige und zugleich mĂŒhsame Reflexion. Die Theologie des Gebets fordert die Anstrengung des Begriffs. Sie muss sauber argumentieren, klar formulieren und prĂ€zisieren und im Widerstreit der Argumente pro und contra eine bestimmte Position plausibilisieren. Dabei steht sie im Dialog mit Glaubenden, Andersglaubenden und Nichtglaubenden. Auf der Basis vernĂŒnftigen Denkens tritt sie mit ihnen in einen Dialog. Paradoxerweise gibt es im deutschen Sprachraum eine im Curriculum des Theologiestudiums verankerte Pflichtvorlesung mit dem Thema »Theologie des Gebets«, wenn ich es richtig sehe, nur an vier theologischen FakultĂ€ten: an der katholischen FakultĂ€t in Linz sowie an den evangelischen FakultĂ€ten in Bochum, Hamburg und Heidelberg. Selbst an den PĂ€pstlichen UniversitĂ€ten in Rom ist ein solcher Kurs nicht zu finden. Das gibt zu denken. Denn immerhin sind wir hier am Kern jeder Theologie. So sagt der Mönchsvater Evagrios Pontikos (346 Ibora, Pontos â 399 in den Kellia, Ăgypten): »Wenn du Theologe bist, betest du wahrhaftig; wenn du wahrhaftig betest, bist du Theologe«2 (De oratione 60). Gebet ist also das Herz jeder Theologie, ihre Quelle und ihr Ziel. Eine Theologie, die sich nicht am Gebet orientiert und von ihm inspirieren lĂ€sst, bleibt seelenlos. Eine Theologie, die nicht auf ein je wahrhaftigeres, redlicheres und lebendigeres Beten zielt, dient zu nichts.
1.2 Der Gegenstand: Das Gebet
Damit wir die Untersuchungen ĂŒber das Gebet beginnen können, brauchen wir zunĂ€chst eine Arbeitsdefinition. Diese mag im Verlauf der Abhandlung verfeinert, ergĂ€nzt oder gar korrigiert werden, sie muss aber am Anfang klar umreiĂen, wonach wir suchen bzw. was wir untersuchen.
Eine erste AnnĂ€herung bietet die Etymologie: Im HebrĂ€ischen des Alten Testaments begegnen fĂŒr das PhĂ€nomen des Betens vielfĂ€ltige Begriffe. Folgende finden sich hĂ€ufig:
â darasch = suchen
â halal = preisen
â palal (im Hitpael) = flehen
â chanan (im Hitpael) = Huld erbitten
â tefillah = Gebet
â tehillah = Lied
Damit ist schon eine groĂe Bandbreite sowohl der möglichen Gebetsinhalte als auch der denkbaren Gebetsformen angedeutet. Es wird nicht leicht sein, all diese Varianten unter den Hut einer einzigen Definition zu bringen.
Das Griechische bietet in der Septuaginta und im Neuen Testament v.a. eine Wortwurzel:
â ÏÏÎżÏΔÏ
Ï bzw. ÏÏÎżÏΔÏÏÎżÎŒÎ±Îč = bitten, flehen â ΔÏÏÎżÎŒÎ±Îč = sich rĂŒhmen â versprechen â beten, flehen
An der Tatsache, dass die eine Wurzel des Griechischen in der deutschen Ăbersetzung sehr viele Begriffe zur Auswahl fordert, zeigt den Wunsch der griechischen Bibel an, fĂŒr viele benachbarte PhĂ€nomene einen Oberbegriff zu finden, ohne deren Vielfalt einzuebnen. Diesen Weg geht tendenziell auch das Lateinische:
â oratio = Rede, Vortrag, Ansprache, Gebet und orare = reden, sprechen, beten werden aber ergĂ€nzt durch einen zweiten Terminus
â precari = bitten, ersuchen, der u.a. im modernen Englisch »to pray« weiterlebt.
Das Deutsche konzentriert sich auf den Begriff
â »beten«, der von »bitten« abgeleitet ist, was seinerseits auf »binden« = vertraglich fordern zurĂŒckgeht.
Eine brauchbare Definition des Gebets muss das Spektrum der etymologisch gefundenen Wortbedeutungen in etwa abdecken und auf den Punkt bringen. Sie soll aber zudem so weit gefasst sein, dass sie noch das GebetsverstĂ€ndnis aller Religionen umgreifen kann. Wir gehen ja davon aus, dass auch Buddhisten, Muslime oder Angehörige von Naturreligionen beten. Eine dezidiert christlich-theologische Definition des Gebets bereits an dieser Stelle wĂŒrde zu viele potenzielle Einsichten verschlieĂen und den Dialog mit Anders- oder Nichtglaubenden verunmöglichen. Die gesuchte Definition muss also eine religionswissenschaftliche sein.
NatĂŒrlich: Eine alle ĂŒberzeugende und alles umfassende Definition gibt es nicht. Carl Heinz Ratschow schlĂ€gt folgende Bestimmung vor: Gebet ist das »dialogische GegenĂŒber zu einem angesprochenen höheren Wesen« (Carl Heinz Ratschow 1984, 31). Damit setzt Ratschow v.a. auf zwei Elemente: Die Situation einer Begegnung des Menschen mit dem Göttlichen und deren kommunikative, dialogische Dimension. Beide Aspekte scheinen auch mir die unerlĂ€sslichen Eckpunkte eines Begriffs des Gebets zu sein. Jedoch möchte ich beide Formulierungen leicht abwandeln:
â Die Begriffe »dialogisch« und »angesprochen« betonen m.E. zu stark die Sprache. Die Möglichkeit nonverbaler Kommunikation, ja nonverbalen Kontakts mit dem Göttlichen, wie sie etwa in der Meditation im Vordergrund steht, wird von Ratschow zumindest nicht ausdrĂŒcklich gemacht, wenn nicht gar ausgeschlossen.
â Das »höhere Wesen« impliziert bereits die Annahme einer »PersonalitĂ€t« des GegenĂŒbers. Ob das im Buddhismus oder in anderen fernöstlichen Religionen so akzeptiert wĂŒrde, wage ich zu bezweifeln. Mir ist daher an dieser Stelle eine offenere Formulierung lieber.
Daher lautet mein Vorschlag einer Definition: Gebet ist die »bewusste ganzheitliche Begegnung mit dem Geheimnis«. Kurz einige ErlÀuterungen zu den verwendeten Elementen:
â bewusst: Gebet ist eine vom Menschen aktiv und zielgerichtet gesteuerte Handlung. Sie muss daher im Betenden bewusst sein und absichtlich geschehen â nicht unbedingt im Moment des Gebets (da ist sie idealerweise unbewusst â der Betende lĂ€sst sich fallen), wohl aber vor- und nachher in Vorbereitung bzw. Erinnerung.
â ganzheitlich: Gebet ist keine distanzierte Analyse, sondern ein Sich-hineinnehmen-Lassen in eine Beziehung. Daher kann es sich nicht allein im Wort oder im Denken vollziehen, sondern umfasst notwendig GefĂŒhl und leibhaftigen Ausdruck. Beten geschieht ganzheitlich.
â Begegnung: In Differenz zu Ratschow verstehe ich Beten nicht allein als Wortgeschehen. Mit Ratschow betone ich den Begegnungscharakter des Betens. WĂ€re Beten reine Selbstbespiegelung oder pures SelbstgesprĂ€ch, wĂŒrde ihm ein entscheidendes Moment verloren gehen.
â mit dem Geheimnis: Der Begriff des Geheimnisses scheint mir fĂŒr alle Religionen akzeptabel. Er lĂ€sst viel Spielraum, denn er kann das apersonale Göttliche oder den personalen Gott meinen. Statt sich bereits bei der Gebetsdefinition auf die Streitfrage »personal oder apersonal?« einzulassen, wird das Gemeinsame aller Religionen betont: dass sie den Sinn fĂŒr das Geheimnis der Welt und des Lebens wecken und pflegen wollen. Zugleich wird mit der Betonung des Geheimnishaften einer ritualistisch entleerten Interpretation des Betens der Boden entzogen. Nicht der Mund muss beten, sondern das Herz.
1.3 Das »Fach«: Theologie der SpiritualitÀt
In welchem Zusammenhang steht die Frage nach der Theologie des Gebets? In welchem theologischen »Fach« stellen wir sie? Das Gebet ist in allen Religionen Teil der SpiritualitĂ€t. Nun gibt es an manchen theologischen FakultĂ€ten wie z.B. in Wien einen eigenen Lehrstuhl fĂŒr »Theologie der SpiritualitĂ€t« oder sogar eigene (Master- bzw. Lizentiats-)StudiengĂ€nge wie in MĂŒnster oder Nijmegen, Rom oder Chicago. Meist aber wird dieser spezifische Zugang einem der anderen theologischen FĂ€cher zugeschlagen. Zumindest gilt damit die theologische Reflexion der SpiritualitĂ€t fast an allen FakultĂ€ten als ein eigenstĂ€ndiger Zugang mit einzelnen Lehrveranstaltungen und einer eigenen Abteilung in der Bibliothek. Im deutschen Sprachraum haben sich daher die betreffenden TheologInnen aller Konfessionen, die aus unterschiedlichsten theologischen Disziplinen stammen, zur »Arbeitsgemeinschaft Theologie der SpiritualitĂ€t« zusammengeschlossen und treffen sich regelmĂ€Ăig zu Tagungen.
Was meint der Begriff SpiritualitÀt? Der Begriff wurde erst in den 1960er und 1970er Jahren aus dem Französischen ins Deutsche ...