III.
Streitsache „Offenbarung“
Für viele Theologen hat die demonstratio religiosa nur den Charakter der Vorbereitung auf Erörterungen, in denen das Entscheidende und Eigentliche des christlichen Gottesbegriffs und des christlichen Glaubens zur Sprache kommen. Das Eigentliche des christlichen Gottesbegriffs – so wird argumentiert – ist zugleich dasjenige, was Glaube und Vernunft unterscheidet. Sosehr der Glaube daran interessiert sein muss, sich mit den Mitteln der Vernunft verständlich zu machen, so entschieden tritt er dafür ein, dass seine Sache von der Sache der Vernunft verschieden ist. Er steht für etwas ein, das mit der Vernunft zwar nachvollziehbar, aber nicht ableitbar ist. Vollzug und Gehalt des Glaubens stellen etwas dar, das man mit guten Vernunftgründen vertreten kann, das aber letztlich seinen Grund nicht in der Vernunft hat. Denn der Gegenstand der Vernunft ist jenes Wissen von und über Welt und Dasein, zu dem der Mensch von selbst gelangt, wenn er sich auf die Erkenntniswege der Vernunft begibt. Der Gegenstand des Glaubens aber ist jenes Verständnis von Sein und Sinn, auf das die Vernunft allererst gebracht werden muss. Hier geht es um Einsichten, auf die sie nicht von selbst kommt und wofür sie einen Impuls von außen braucht. Die Vernunft mag genügen, um den Glauben zu rechtfertigen, aber sie reicht nicht aus, um ihn zu begründen.
Ergründen kann die Vernunft die ontologische Struktur der Welt, d. h. ihre existentiale Relationalität als unüberbietbares Verwiesensein, aber sie kann von sich aus nichts über Qualität und Wert dieses Verwiesenseins in Erfahrung bringen. Die Radikalität des Verschiedenseins von Gott bei gleichzeitiger Unüberbietbarkeit des Verwiesenseins auf Gott beschreibt zwar die Sinnstruktur des Daseins, indem sie ein existenz-, freiheits- und identitätskonstitutives Verhältnis benennt. Sie lässt allerdings offen, inwieweit eine solche Existenz, Freiheit und Identität akzeptabel sind angesichts des unabstreifbaren Widerstreits von Leben und Tod, der zu Lebzeiten des Menschen immer zugunsten des Todes ausgeht. An dieser Akzeptanz aber entscheidet sich die Sinnqualität des Daseins. Der christliche Glaube behauptet, dass es zur Erschließung dieser Sinnqualität eines rational unableitbaren Widerfahrnisses bedarf. Wie es um die mögliche Akzeptanz des Daseins steht, muss dem Menschen darin offenbar werden.
Dass sich erst auf dem Weg eines Widerfahrnisses dem Menschen ein Wissen darüber zuschickt, was es „coram Deo“ mit der Kontingenz und Geschöpflichkeit der Welt auf sich hat, konstituiert nach christlicher Überzeugung sowohl den Inhalt des Glaubens als auch dessen Vollzug. Der Glaube verdankt seinen Inhalt einem solchen Widerfahrnis und er ist zugleich die angemessene Weise, ihm gerecht zu werden. Die christliche Theologie behauptet vor diesem Hintergrund, dass auch erst dann zureichend erfasst wird, wer/was es verdient, in Wahrheit und Wirklichkeit als „Gott“ anerkannt und verehrt zu werden, wenn man auf der Basis eines entsprechenden Widerfahrnisses angeben kann, wie dieser Gott zur Welt steht, so dass dann auch gesagt werden kann, was es letztlich mit der Geschöpflichkeit der Welt auf sich hat.138
Für Inhalt und Verlauf dieses Erschließungsvorgangs steht der Begriff der Offenbarung.139 Er bezieht sich zweifach auf das Verhältnis Gottes zur Welt. Er will zum einen (er)klären, dass und wie Gott der Welt zugewandt ist. Zum anderen will er angeben, auf welche Weise dem Menschen Aussagen über dieses Verhältnis möglich werden. „Offenbarung“ hat demnach einen Inhaltsaspekt ( Gottes Weltverhältnis) und einen Geschehensaspekt ( Erschließung einer Kenntnis von Gottes Weltverhältnis).140 Gegenstand der „demonstratio christiana“ ist daher der Aufweis, dass neben einer vernunftgeleiteten Gotteserkenntnis auch die Möglichkeit einer offenbarungsbasierten Gotteserkenntnis besteht. Die Klärung des Offenbarungsbegriffs ist dabei unabdingbar, um die Denkbarkeit dieser Möglichkeit zu bestimmen:
• Ist es überhaupt möglich, einen Offenbarungsbegriff widerspruchsfrei zu konzipieren, so dass sein Gehalt widerspruchsfrei gedacht werden kann?
• Kommt es nicht zu einem Konflikt zwischen Glauben und Vernunft, wenn es neben einer vernunftgeleiteten Gotteserkenntnis noch andere Erkenntniswege geben soll? Wird nicht hierbei die Autonomie der Vernunft ausgehebelt?
• Unter welchen Bedingungen kann sich das, was unter „Offenbarung“ verstanden wird, auch tatsächlich in der Erfahrungswelt des Menschen ereignen?
• Erfüllt die christliche Rede von einer Selbstoffenbarung Gottes die Bedingung, dass sie widerspruchsfrei gedacht werden kann und zugleich ein Geschehen meint, das sich in der Erfahrungswelt des Menschen zutragen kann?141
In der klassischen „demonstratio christiana“ gilt die Kategorie der Offenbarung als unproblematisch. Sie kennt keinen prinzipiellen Einwand gegen die Behauptung, dass es ein Weltverhältnis Gottes gibt, in dem Gott auf übernatürliche Weise dem Menschen „übernatürliche Wahrheiten“ mitteilt. Unproblematisch erscheint auch die Annahme einer zweifachen Erkenntnisordnung – zum einen jene der „natürlichen Vernunft“ und zum anderen jene des Glaubens, die sich aus dem jeweils unterschiedlichen Gegenstand der Erkenntnis ergibt. In der Offenbarung werden dem Menschen „außer dem, was die natürliche Vernunft erfassen kann, in Gott verborgene Geheimnisse zu glauben vorgelegt, die nie in den Bereich unseres Erkennens kämen, wenn sie uns nicht von Gott geoffenbart worden wären.“142 Die Möglichkeit einer solchen Offenbarung sieht man mit dem Hinweis auf die Allmacht Gottes als zureichend abgesichert an. Die eigentliche Aufgabe besteht darin, das tatsächliche geschichtliche Ergangensein einer solchen Offenbarung nachzuweisen und dabei die Person Jesu von Nazareth als Träger und Gestalt einer geschichtlich unüberbietbaren Offenbarung Gottes zu erweisen. Zu diesem Zweck verweist man u. a. auf die von ihm vollbrachten Wunder (als Ausweis seiner Göttlichkeit) oder auf die sich in ihm erfüllenden alttestamentlichen Verheißungen als äußere Beglaubigungen und Beweise. Gegen die Voraussetzungen und Elemente dieses „extrinsezistischen“ Argumentationsmodells143 sind in der Neuzeit zahlreiche Einwände erhoben worden, welche die Offenbarungskategorie als eine für die Vernunft unannehmbare Größe erscheinen lassen.144
§ 9 Bestreitung:
Aufklärung und Offenbarung
Die Aufklärung stellt seit der Mitte des 18. Jahrhunderts in zunehmendem Maße und mit breitem Erfolg in der Bildungsschicht die Begründung des Glaubens auf eine der Vernunft unzugängliche Offenbarungsautorität in Frage. Diese Infragestellung wird vielfach von Philosophen vorgetragen, die keineswegs dem Christentum ablehnend gegenüberstehen (u. a. H. von Cherbury, J. Toland, J. G. Fichte, G. E. Lessing, I. Kant), seine Bedeutung vielmehr bewahren und zeitgemäß (er)klären wollen. Dass dabei der christliche Offenbarungsanspruch auf den Prüfstand gestellt wird, hat einen doppelten Grund. Zum einen wird für das Autonomieprinzip neuzeitlichen Denkens auch auf religiösem Gebiet uneingeschränkte Geltung eingefordert. Und zum anderen kommt es zur Relativierung historischer Größen durch die Erweiterung historischen Wissens und die Entwicklung historisch-kritischer Wissenschaft.
1. Grenzmarken:
Autonomie der Vernunft – Relativität der Geschichte
Das Autonomieprinzip bedeutet die Emanzipation von den Autoritäten der Tradition als Instanz geltungssichernder Erkenntnis. Es impliziert auch den Widerspruch dagegen, dass die menschliche Vernunft überhaupt eine Autorität über sich habe, von der sie eine für sie selbst unerreichbare Wahrheit nur entgegennehmen könne. Alle Erkenntnis wird konsequent auf das gegründet, wovon der selbständig gewordene Vernunftgebrauch sich aus Prinzipien vergewissert, die ihm unmittelbar evident sind oder die er aus eigener Welterfahrung selbst gewinnt. Das führt zu dem Postulat, dass eine „vera religio“ nur das enthalten könne, was grundsätzlich jedermann in eigener Vernunfterkenntnis bejahen kann. Dies muss den Kernbestand des Christentums keineswegs antasten, da man davon ausgeht, dass autonomer Vernunftgebrauch in Religionsdingen auf jeden Fall die Existenz eines einzigen, gerechten und gütigen Gottes als gewiss erweisen werde, aber auch die Unsterblichkeit der Seele bekräftigen könne und vor allem bestätigen werde, dass alle wahrhaft vernünftigen Menschen mit den vom Christentum herausgestellten Grundgehalten des sittlich Guten und Bösen übereinstimmen werden.
In diesen Gewissheiten, die der zur Vernunftmündigkeit gelangte Mensch in eigener Einsicht in sich selbst aufrufen und gemäß denen er aus eigenem Antrieb leben kann, liegt für die Aufklärer die eigentliche und vernunftgemäße Religion beschlossen. Den Glauben nur auf die Autorität einer Offenbarung zu gründen, die angeblich jede Vernunft übersteigt und gleichwohl Verbindlichkeit beansprucht, erscheint demgegenüber als ein Zustand der Unmündigkeit, der überwunden werden muss. Alle Glaubenssätze, die inhaltlich so beschaffen sind, dass sie nur in dieser Weise hingenommen werden können, verfallen der Kritik. Dass Glaube und Offenbarung gleichwohl immer wieder Anhänger finden, hängt für die religionskritischen Aufklärer mit ebenso überzogenen wie ungedeckten religiösen Sinnofferten zusammen. Die Repräsentanten einer Offenbarungsreligion ködern die Glaubenswilligen, indem sie ihnen Antworten auf die großen Welt- und Lebensrätsel in Aussicht stellen. In Wahrheit verschleiern sie nur ihre Machtund Herrschaftsattitüde und immunisieren sich gegenüber kritischen Nachfragen.145
Wird das Reden von Offenbarung als Behauptung einer der Vernunfteinsicht überlegenen Autorität von dem Prinzip der Vernunftautorität her in Frage gestellt, so wird die dabei reklamierte Beanspruchung einer absoluten Bedeutung für bestimmte historische Größen, d. h. Träger, Medien und Quellen von Offenbarung von der beginnenden Relativierung des Historischen her problematisiert. Beides geht Hand in Hand und hängt auch sachlich zusammen: Die grundsätzliche Emanzipation von der Autorität der Tradition bedeutet zugleich die Verneinung des Anspruchs bestimmter Komplexe des religiöshistorischen Erbes auf eine unbedingte und unüberholbare Verbindlichkeit. Die aufkommende historisch-kritische Forschung beginnt Bibel und christliche Dogmen mit analogen Erscheinungen der Religionsgeschichte zu vergleichen, macht auf die zeitgeschichtlich bedingten Umstände ihrer Erforschung aufmerksam. Sie kommt zu der Überzeugung, dass das historisch Bedingte religiöser Urkunden eben auch nur eine relative, auf die ursprünglichen Adressaten oder auf unter den entsprechenden Bedingungen Lebende beschränkte Bedeutung haben kann. Die historisch-kritische Reflexion führt also nicht nur zu der These, dass historischen Größen als solchen nur relative Bedeutung zukommen kann, sondern auch zu der Erkenntnis, dass den historischen Nachrichten, die es von solchen Größen gibt, nur eine relative Gewissheit zukommt.
2. Jenseits der Vernunft:
Glaube unter Verdacht
Kritische Anfragen gelten aber auch dem Korrelat der Offenbarungskategorie: dem Glauben – und zwar vor allem hinsichtlich seiner ontologischen, erkenntniskritischen und ethischen Implikationen.146 Als unvernünftig erscheint der Offenbarungsglaube, weil er offenkundig auf der ontologische...