Sexueller Missbrauch an Kindern, Jugendlichen und erwachsenen Schutzbefohlenen
Tatorte – Sündenböcke – Fragen an Kirche und Theologie – Antwortversuche
1. Ein paar leise Töne zu Beginn
In meiner Heimatregion hat sexueller Missbrauch Kirche und Gesellschaft erschüttert, und diese Erschütterung hält weiter an, nicht nur in Deutschland – unter den Opfern in erster Linie, aber nicht allein bei ihnen, denn dank dieser Erschütterung setzen sich auch Menschen, die nicht selber sexuellem Missbrauch zum Opfer gefallen sind, damit auseinander.
Sexuelle Gewalt widerfährt Kindern und Jugendlichen vorwiegend in ihren eigenen Familien – bis heute. Zugleich sind unter den Tätern katholische Priester – in einem bisher massiv unterschätzten Ausmaß. Ich gehe fest davon aus, dass gerade die Kirchen sich damit noch lange werden befassen müssen, zumal dann, wenn ich mich den damit zusammenhängenden Fragen weltkirchlich nähere: Als Länder des Bösen outeten sich zunächst die USA, Irland und Deutschland, seit 2010 kamen viele weitere hinzu, beispielsweise Chile, aber weltweit werden weitere Enthüllungen folgen – mit dramatischen Folgen und bedrängenden Fragen, die gestellt werden müssen und denen wir uns stellen müssen.
Angesichts international verbreiteter sexueller Gewalt48 darf die Sorge um die Opfer nicht unter der Hand wieder der Sorge um die Kirche weichen, braucht die vielfach geforderte Kultur des Hinschauens und Hinhörens weiterhin Pflege. Als Kirche kommen wir unserem Auftrag nach, wenn wir mit der Option für die Armen, Traumatisierten und Ausgestoßenen Ernst machen. Diesem Auftrag nachzukommen ist erst recht dann unsere Pflicht, wenn die Kirche diese Armen, Traumatisierten und Ausgestoßenen selber produziert hat. Wer nur den Imageschaden der Kirche im Blick hat, verfehlt die Opfer.
Gewiss braucht es Läuterung und Erneuerung aus der Kraft des Heiligen Geistes. Aber die zu häufig geschwungene Rede von Krisen als Chancen und von einem Neuanfang, der für Opfer wie Hohn klingen muss, weil sie nie neu anfangen können, erscheint mir unpassend, ja gefährlich, wenn sie aus der gegebenen Erschütterung heraus den allmählichen Übergang zur gewohnten kirchlichen Tagesordnung einläuten soll, den es nicht geben kann und nicht geben darf. Vieles davon klingt in meinen Ohren eher wie verzweifelte Kraftmeierei in kirchlich grauenvoller Zeit. Ich schlage lieber leisere Töne an.
Worauf ich abziele, kündigen die vier Stichworte im Untertitel an: zunächst auf Tatorte, also darauf, die Opfer ins Zentrum der Auseinandersetzung zu rücken, die Täter aus der Deckung zu holen und für Missbrauch zu sensibilisieren; sodann auf Sündenböcke, nach denen Schuldbeladene gern Ausschau halten; auf Fragen an Kirche und Theologie, denn die Enthüllungen der letzten Jahre machen auch eine Auseinandersetzung mit der Sündigkeit der Kirche unumgänglich; schließlich auf Antwortversuche, also auf Lösungsansätze für strukturelle Problemlagen und darauf, insbesondere kirchlichen Veränderungsbedarf selbstkritisch zu benennen.
Mit anderen Worten geht es um die drängende und bedrängende Aufgabe, den Schutz von Kindern und Jugendlichen, aber auch von erwachsenen Schutzbefohlenen weltkirchlich und weltweit wahr zu machen.
2. Elternhaus, Pfarrhaus, Schulhaus – Tatorte sexueller Gewalt an Kindern und Jugendlichen
2.1 Missbrauch und Gewalt
Formen sexualisierter Gewalt erfahren in Deutschland etwa 15–20% der Mädchen und etwa 5–10% der Jungen.49 Die landläufige Rede vom sexuellen Missbrauch lässt fälschlicherweise vermuten, es gebe einen legitimen sexuellen Gebrauch von Kindern. Darum spreche ich von Gewalt, die maximal in jedem dritten Fall jener böse Fremde ausübt, der seine ahnungslosen Opfer von der Straße lockt und ins Gebüsch zieht. Mehrheitlich hingegen stammt der Täter aus der Familie50 des Kindes oder zumindest aus ihrem nächsten Umfeld: sei es der Vater, der Stiefvater oder der Großvater, sei es ein väterlicher »Freund«; und in einem von zehn Fällen ist der Täter eine Frau.
Findet sexuelle Gewalt außerhalb der Familie statt, können die Opfer zumindest im vertrauten Klima ihrer Eltern und Geschwister Zuflucht suchen angesichts mitunter schwerer Grenzverletzungen, die ihnen anderswo angetan wurden. Findet sexuelle Gewalt aber innerhalb der Familie statt – meist über Jahre hinweg –, wird diese selbst zum Tatort. Machtgefälle51, wie sie gesellschaftlich zwischen Starken und Schwachen, Großen und Kleinen, Männern und Frauen vorherrschen, kulminieren innerhalb einer Familie auf tragische Weise in einem Verhältnis von Vater und Tochter, in welchem der Vater seine Macht und das Vertrauen seiner Tochter zu seiner eigenen Befriedigung missbraucht. So umschriebene sexuelle Gewalt tritt in der Vater-Tochter-Beziehung am häufigsten und am krassesten auf.
Einwürfe wie »Ein normales Kind wehrt sich« verkennen die Lage gänzlich: Normal ist allenfalls, dass kleine Mädchen sich nicht wehren können, sondern das entsetzliche »Geheimnis« sexueller Übergriffe schweigend bewahren, weil sie auf die Beziehung zum Vater angewiesen sind, den Bestand der Familie nicht gefährden wollen und oft gar nicht wissen können, dass es in anderen Familien anders zugeht. Sexuelle Gewalt durch den eigenen Vater kommt einem Totalangriff auf das Menschsein eines Mädchens gleich – und lässt sich darum treffend als Seelenmord52 bezeichnen.
2.2 Sexuelle Gewalt in der Familie
Solche Tatortfamilien53 fallen sozial nicht auf und schotten sich mit ihrem Innenleben nach außen hin ab. Schichtspezifika lassen sich nicht feststellen. Die Binnenkonstellation aber zeigt oft einige Charakteristika: einen auffällig bedürftigen Vater in problematischer Beziehung zu einer Mutter, die sich von ihm zurückzieht; einen Vater mit schwach ausgeprägtem Selbstwertgefühl, der sexuelle Aktivitäten braucht, um sich stark zu fühlen, dessen Ideale und Ängste es ihm aber verbieten, dafür den familiären Rahmen zu sprengen, und eine Tochter, die ihn idealisiert – und welche Tochter tut dies nicht wenigstens eine Zeitlang?; eine Mutter, die nichts sieht oder sehen will, möglicherweise selbst Opfer sexueller Gewalt war und darum blind und fühllos ist für das, was ihrem Kind geschieht. Vater und Tochter bilden eine düstere Koalition der von der Mutter Verlassenen und Enttäuschten.
Das chronisch überforderte und gedemütigte Mädchen entwickelt heftige Schuldgefühle54, weil es seiner Mutter nicht gerecht werden kann, dem Vater schon gar nicht, sich selbst auch nicht, also allen etwas schuldig bleibt. Schon darum zeigt sich das Mädchen nach außen hin in höchstem Maße solidarisch mit allen Mitgliedern seiner Familie. Es gewährt keinen Einblick ins Familieninnenleben und erschwert damit massiv den Zugang zum Tatort.
Eine solche Familie gleicht einer Festung, die sich von Feinden umgeben fühlt – das Böse lauert ja allenfalls draußen – und innerhalb dieser starren Außengrenzen keine zwischenmenschlichen Grenzen kennt.
Das Kind ist am stärksten von Schuldgefühlen geplagt – doch trifft gerade es keine Schuld. Ist also der Vater schuld? Schließlich ist er der Täter! Oder die Mutter? Denn sie hat den Vater zurückgestoßen und ihr Kind nicht vor ihm geschützt.
Dabei sind die Eltern eines Opfers nicht selten selbst Opfer sexueller Gewalt. Sie können das Unrecht, das sie ihren Kindern antun, dann kaum wahrnehmen. Väter, die selbst Gewaltopfer sind, werden leichter als andere zu Tätern. 55 Mütter, die ihrerseits Opfer sexueller Gewalt sind, suchen sich auf unbewusster Ebene oft wiederum »Täter« als Männer, bleiben also Opfer. Sie sehen nicht, was ihrem Kind geschieht, weil sie diesen Sachverhalt vor sich selbst fernhalten. Solche Elternpaare können ihre Beziehung und die Erziehung ihrer Kinder kaum gelingend gestalten. Sie vermögen ihren Nachkommen nicht zu geben, womit diese sich nähren können, denn solche Eltern sind selbst Hungernde und fühlen sich als Zukurzgekommene. Seelenmord anzugehen heißt zunächst, ihn in Schuldzusammenhängen zu entdecken.
2.3 Symptomatik bei Seelenmord
Ein Bündel von Symptomen, die bei Opfern sexueller Gewalt in unterschiedlicher Gewichtung früher oder später auftreten, führe ich an: depressive Verstimmungen, scheinbar »grundloses« Weinen; Schuldgefühle, die das Opfer auf sich nimmt, um sich das gute Bild vom eigenen Vater trotz allem erhalten zu können; umfassende Schamgefühle, die am betroffenen Mädchen kleben wie die Hände des Gewalttäters; Verachtung gegen den eigenen – geschändeten – Leib, in dem es sich lebt wie im Exil; selbstzerstörerische Handlungen bis hin zu Selbstverstümmelungen und Suizidfantasien; körperliche und seelische Verletzungen sowie Lähmungserscheinungen; auffällige Gefügigkeit, der Eindruck, verraten und gebrochen zu sein; Rückzug von Gleichaltrigen, das Gefühl, nicht dazuzugehören, und ein Sich-unwirklich-Vorkommen.
Betroffene blenden ganze Kindheitsphasen aus, mit denen sie keinerlei Erinnerung verbinden. Auf fatale Weise scheint sich zu bestätigen, was Täter gern glauben: dass Kinder sowieso vergessen. Sie entwickeln jedoch stark konflikthafte Beziehungen, die von massiven Ambivalenzen geprägt sind. Ferner kommt es zur Sexualisierung, also zur sexuellen Aufladung von nichtsexuellen Beziehungen, zu Verquickungen von Sexualität und Gewalt sowie zu dem Phänomen, dass sexuelle Kontakte vorrangig mit fremden Menschen möglich werden – bis hin zur Prostitution. So lassen sich Abhängigkeiten gegenüber emotional Nahestehenden wie dem Vater fortan vermeiden. Oft sind es überfallartig auftretende Flashbacks im jungen Erwachsenenalter, also plötzlich einsetzende sensorische Erinnerungen an bislang verdrängte Gewalterfahrungen, vor deren Aufdeckung sich das Kind seither um seines bloßen Überlebens willen schützen musste. Diese »Gedächtnisfetzen« bringen einen sehr schmerzhaften Prozess in Gang, den Betroffene niemals allein bewältigen können. Professionelle Unterstützung ist unerlässlich. Welche Formen des Beistands sind aus praktischer Erfahrung hilfreich? Ist Versöhnung – etwa mit der eigenen Geschichte – überhaupt möglich?
2.4 Möglichkeit und Unmöglichkeit von Versöhnung
Einander-Verzeihen und Sich-miteinander-Versöhnen sind zentrale, aber praktisch nicht oder nur sehr schwer erreichbare Ziele im Umgang von Täter und Opfer. Dabei darf der Wunsch nach Versöhnung56 das Opfer nicht des Rechts berauben, Wut zu empfinden und zu artikulieren sowie Rachefantasien zu entwickeln. Einige Fragen tauchen auf: Kann ein Mensch überhaupt jemandem verzeihen, der ihm die Lebensgrundlage weggezogen hat, der Seelenmord an ihm begangen hat? Kann ein Mensch seiner Mutter verzeihen, die ihn davor nicht bewahrt hat? Kann ein Mensch seinem Vater verzeihen, der seine Taten möglicherweise selbst verdrängt hat und dem es an Einsicht in seine Schuld fehlt? Kann ein Mensch sich mit sich selbst, seiner Geschichte, seiner zerbrochenen Kindheit und seiner gebrochenen Existenz versöhnen? Kann er mit dem Kind, das er war und an dem Seelenmord begangen wurde, in Kontakt kommen? Dieses Kind kann nur leben, wenn das Gewaltopfer seine Opferrolle eines Tages fahren lässt. Oft erliegen Betroffene – verständlicherweise – der Gefahr, sich in ihrer Opferrolle dauerhaft festzuschreiben. Diese hindert zwar am Leben, verleiht dem Nicht-Leben aber eine orientierende Struktur. Manche Frauen halten an ihrer Opferrolle fest, weil sie fürchten, das verletzte Kind zu verraten, wenn sie ihre Opferrolle aufgeben. Sie haben viele Jahre gebraucht, um einen Zugang zur Wahrheit dieses Kindes zu finden und sich diese zuzumuten, und spüren nun starke Widerstände dagegen, sich davon zu verabschieden. Dabei geht es letztlich jedoch nicht darum, das beschädigte Kind im Stich zu lassen, sondern darum, ihm ein neues Haus zu bauen, in dem es sich fr...