Teil II
ERFAHRUNGEN UND ENTSCHEIDUNGEN – EINE ANALYSE VON ERZÄHLSTRUKTUREN
3Sozialisationsfaktoren
Eine soziologische Vorbemerkung sei den Ausführungen vorangestellt. In der Debatte um die Deinstitutionalisierung normativer Lebenslaufmuster kann im Blick auf Ordensbiografien zweierlei beobachtet werden: Zum einen finden sich Strukturen, die Analogien zu allen anderen Lebensentscheidungen aufweisen. Zum anderen ist die Entscheidung zum Eintritt in einen Orden oder eine geistliche Gemeinschaft nicht mehr im breiten Sinne sozial anerkannt. Das katholische Milieu schwindet immer mehr.155 Zwar lässt sich, folgt man der Sinusstudie, die Mehrzahl der Katholiken im traditionellen und in Teilen des bürgerlichen (in geringen Teilen in etablierten und konsum-materialistischen) Milieus wiederfinden.156 Gesamtgesellschaftlich sind diese jedoch keine Mehrheit und auch der Katholizismus dürfte sich, wie es die Sinusstudie durch die Unterscheidung der Positionierungen zur Kirche andeutet, wesentlich pluraler entfalten, als es empirisch bislang erhoben ist. Man kann annehmen, dass das Ordensleben auf breiter Basis der katholischen Submilieus sehr differenziert wahrgenommen wird. Man mag zudem vermuten, dass in kirchlich sozialisierten Kreisen durchaus hohe Erwartungen an das Ordensleben geknüpft sind.
Die Definition von religiöser Sozialisation hängt davon ab, welches Begriffsverständnis von Sozialisation vorausgesetzt wird. Reuter definiert diese als einen lebenslangen Prozess.157 Hierbei ist anzumerken, dass auch der Religionsbegriff geklärt sein muss. Der Studie „Megatrend Religion“158 liegt ein analoger Religionsbegriff zu Grunde, der im sozialwissenschaftlichen Sinn weit angesetzt ist.159 Reuter wiederum nimmt in seiner Studie eine Definition von Religion vor, welche „die in den christlichen Kirchen der westlichen Welt institutionalisierten Religionen mit Kultus, Dogmen, Amtsklerus und christlicher Erziehung“160 beschreibt. Sicherlich sind die Tradierung von Glaubenslehre und Normen prägend für religiöses Verhalten. Doch wäre es als eine Engführung zu betrachten, ausschließlich diesen Aspekt als alleiniges Kriterium – sei es positiv oder negativ – für religiöse Sozialisation zu bestimmen. Dies ist von Reuter sicher nicht intendiert, denn er besteht darauf, explizit die Entwicklung individueller religiöser Subjektivität mit einzubeziehen.161
In dieser ersten Annäherung an das Datenmaterial geht es darum, den statistischen Hintergrund der Probanden aus dem kirchlichen Nachwuchs in Frauen- und Männerorden und -gemeinschaften kennen zu lernen, was in Form einer Multivarianz-Analyse geschieht. Das besondere Augenmerk liegt auf drei grundlegenden sozialen Prägeorten:
–Herkunftsfamilien bzw. -milieus und Bildung,
–religiöse Prägungen: der konfessionelle Hintergrund, die religiöse Erziehung und die kirchliche Bindung,
–Darstellung des eigenen religiösen Selbstverständnisses durch die Probanden.
Für eine Erhebung des soziologischen Hintergrunds der Probanden sind v. a. die weiteren folgenden Fragen relevant: Welche multifaktoriellen und komplexen Faktoren der religiösen Sozialisation162 prägen die jungen Ordensleute? Welche Typen von Religiosität und religiöser Entwicklung können festgestellt werden?
3.1Herkunftsfamilien und -milieus
3.1.1Familienstruktur
Es wurde eine Einteilung in Groß- und Kleinfamilie vorgenommen, wobei Erstere ab drei Kindern angesetzt wurde, so dass man besser von größerer Familie sprechen sollte.163 Die Verteilung steht den 2013 erhobenen Zahlen in der Gesamtbevölkerung entgegen, da dort die Haushalte mit über drei Kindern nur 10,8% betragen.164
Die Verteilung in der Geschwisterreihe deckt sich nur zum Teil mit dem Ergebnis der Umfrage von Katharina Kluitmann, bei der die Mehrheit der Probandinnen zwar ebenfalls das jüngste Kind in der Familie war, aber eine ebenfalls beträchtliche Anzahl zu den Ältesten in der Geschwisterreihe gehörten.165 Wenige Einzelkinder stehen also einer Mehrheit an jüngeren Geschwisterkindern gegenüber. Inwieweit dies tatsächlich mit der Lebensentscheidung im Kontext einer Ordensgemeinschaft korreliert, kann nicht gültig nachgewiesen werden. Aber es wäre interessant, der Frage nachzugehen, welche Konsequenzen es für die Dynamik und Rollenverteilung in einer Gemeinschaft hat, wenn diese sich aus einer Mehrheit an jüngeren Kindern und Kindern aus Großfamilien zusammensetzt.
3.1.2Soziale Herkunft
Die überwiegende Mehrheit der Befragten kommt aus der bürgerlichen Mittelschicht. Rund 59% der Eltern sind als Beamte (16% davon als Lehrer) oder Angestellte ausgebildet, etwa 7% arbeiten in höherer Laufbahn, etwa am Gericht oder im universitären und medizinischen Bereich. Dem handwerklich-landwirtschaftlichen Bereich sind ca. 29% der Eltern zuzuteilen, 3% sind als Selbständige gekennzeichnet, 6% gehören zu den helfenden Berufen, 3% zur Arbeiterschaft. Von den Frauen besitzen fast alle eine Berufsausbildung, ein Großteil ist jedoch (mindestens zeitweilig) nicht erwerbstätig (17 Probanden geben neben dem Beruf der Mutter die Bezeichnung „Hausfrau“ an, nur wenige als einzige Tätigkeit).166
Die große Mehrheit der Probanden ist in einer in der traditionellen Terminologie als klassisch bezeichneten Familienkonstellation aufgewachsen. Von einer Scheidung der Eltern berichten zwei Probanden, ein weiterer gab an, früh ein Elternteil verloren zu haben.
Sicherlich wäre der Versuch lohnenswert, die Familien in die Milieus der Sinusstudie einzuordnen. Mangels genauerer Daten über die Familien kann jedoch eine überprüfbare Einordnung der Probanden in die Sinusmilieus nicht geleistet werden. Aus den Interviews und der im Folgenden vorgestellten Typisierung ergibt sich aber die Vermutung, dass es nicht vorwiegend das traditionelle, sondern eher das bürgerliche Milieu ist, dem die Mehrheit der jungen Ordenschristen entstammt.
3.1.3Bildung
92% der Probanden verfügen über ein (Fach)abitur oder einen Hochschulabschluss, was deutlich über dem gesellschaftlichen Durchschnitt und auch dem Bildungsstand früherer Generationen von Ordensangehörigen liegt.
In der Kategorie „kein höherer Schulabschluss“ liegt die Quote der Männer ein wenig über derjenigen der Frauen, ebenfalls beim „Hochschulabschluss“ (allerdings hier noch geringfügiger). Im Bereich „(Fach-)Abitur“ ist das Verhältnis dagegen ausgeglichen. Es lässt sich also annehmen, dass die Geschlechter bezüglich des Bildungsniveaus ähnliche Merkmale aufweisen und sich einander annähern.
Der Bildungsstand der Probanden in der Gesamtheit ist hoch. Einschränkend bleibt jedoch festzuhalten, dass das Sampling möglicherweise eine Einseitigkeit aufweist. Inwieweit die Statistik bezüglich des Ausbildungsstatus tatsächlich repräsentativ ist, oder ob sich für die Studie tendenziell eher junge Menschen bzw. Gemeinschaften mit intellektuellem Interesse zur Verfügung stellten bzw. von den Verantwortlichen dafür ausgewählt wurden, kann letztlich nicht beantwortet werden.
Das höhere Bildungsniveau gibt den Gemeinschaften in der Zukunft sicher wertvolle Ressourcen, birgt für die Männerorden aber auch ein Spannungspotential zwischen Klerikern und Brüdern in sich.
Der Ordenseintritt heute verspricht nicht mehr wie seit der Zeit des frühen Mittelalters, wo Klöster Orte blühender Bildung waren und vor allem Frauen in einzigartiger Art und Weise gefördert wurden,167 einen höheren Bildungsstand als das säkulare Leben. Im Gegenteil: „Nicht nur, dass der Ordenseintritt [für Frauen] beruflich keine Vorteile hat – er hat mittlerweile sogar Nachteile!“168 Ob Ähnliches tendenziell auch für die Männer gilt, ist diskutierenswert, wenn ja, dann auf einer höheren Ebene.
Für Männer und Frauen ergibt sich annähernd in gleicher Weise der Abbruch des erlernten Berufs oder die Umorientierung des Berufswunsches, wobei sich dies bei einem Eintritt nach Studienabschluss harmonischer gestaltet als bei denjenigen, die einen Arbeitsplatz kündigen und somit einen deutlicheren Einschnitt vollziehen (vgl. 4; 13; 20).
Und wir haben dann ja auch keinen Beruf, also man kann auch nicht über die Arbeit dann noch zu Anerkennung kommen oder so, also man ist ja da so aufeinander geworfen und ja, ich glaube dieses – das war glaube ich das Schwierigste. (18,490-492)
Die Ausübung eines Berufs steht hier für soziale Anerkennung und Eigenständigkeit, im Sinne eines Lebensraumes außerhalb der Gemeinschaftsbeziehungen. Dabei ist anzumerken, dass die Frage der Berufsausübung je nach Gemeinschaftstyp sehr unterschiedlich geregelt ist, sich diese Frage also für die einzelnen Probanden je anders stellt.
In den Fällen, in denen die Probanden erst nach Abschluss der Ausbildung oder sogar noch später nach einigen Jahren der Berufstätigkeit in die Ordensgemeinschaften eintreten, sind mit dem Eintritt aller Voraussicht nach keine sozialen Aufstiegsmöglichkeiten verbunden oder zu erwarten. Allerdings leben die Gemeinschaften auch nicht am Existenzminimum. Es mag zwar eine Sorge um den Bestand der Institution vorherrschen, aber in materieller Hinsicht ist für die Grundbedürfnisse der Mitglieder gesorgt.
In früheren Zeiten lebten Klöster entweder von Almosen, Stiftungen oder der Bedarf an Nahrung war durch die landwirtschaftliche Eigenproduktion gedeckt. In der postsäkularen Gesellschaft, in welche die Gemeinschaften vielfältig eingebunden sind, bekommt der Beruf, auch in den kontemplativen Gemeinschaften, ein neues Gewicht. Es wird in Zukunft nicht nur ideell um die Frage der Anerkennung in einem Beruf gehen, sondern um die Notwendigkeit der Finanzierung der Institution. Abhängig von der Wirtschaftsform der einzelnen Gemeinschaften wird dies unterschiedlich aussehen.169
Aber auch hinsichtlich des Evangelisierungsauftrags stellt sich die Aufgabe, darüber zu reflektieren, wie das geweihte Leben evangeliumsgemäß nicht als Sonderwelt fungiert, sondern in der Gesellschaft wirksam werden kann.170 Berufstätigkeit ist einer der möglichen Aspekte dieser Suche.
Das Ergebnis des Items 8 „Berufswunsch“ zeigt, dass schon vor oder mit dem Ordenseintritt pastorale Berufe wie Priester, Gemeindereferentin oder Pastoralreferentin, soziale Berufe und Bildungsberufe vorherrschend sind. Mehr Frauen als Männer streben eine Universitätslaufbahn an, besonders die Probandinnen aus den kontemplativen Gemeinschaften zählen in hohem Maß zu den hochqualifizierten Teilnehmern der Studie.
Interessanterweise wird dies in den wenigsten Interviews direkt angesprochen. Eine Ausnahme bildet Veit, der die Frage nach Beruf und Charisma eigens thematisiert, wobei deutlich wird, dass die Frage auch innergemeinschaftlich ausführlich behandelt wird:
Also es ist tatsächlich eine starke Suche danach, wie können wir unser Charisma heute leben. Das ist ein sehr spannender Prozess. Weil einmal die Vorstellungen relativ unterschiedliche sind innerhalb der Gemeinschaft von dem, was ist unser Charisma wirklich und wie zeigt es sich. Dann aber sicher auch zu gucken, was ist uns an Tradition mitgegeben, was ist auch gewachsen, auch in den letzten Jahrzehnten, und wo sind wirklich die Veränderungen, die gefragt sind oder die tragfähig sind. Und so, wenn ich so zurückschaue, was ich von den Mitbrüdern mitbekomme, die derzeit die Gemeinschaft bilden, dann sind die Veränderungen, glaube ich, tatsächlich sehr groß gewesen, also ja, im Grunde zum Konzil, wo wirklich ja sehr viel aufgebrochen ist und man so den Eindruck hatte, wir müssen unsere Klöster verlassen, wir müssen raus in die Seelsorge, in die Pastoral – und man so ein Stück, also viel auch über Bord geworfen hat und sich wirklich ganz in die Pastoral gestürzt hat, Pfarreien gegründet hat, (…) gegründet hat und inzwischen so bei den Jüngeren das Bewusstsein entsteht, das alleine ist es nicht. Unser Charisma ist mehr. Und gerade die kontemplative Spur, die ein Stück weit unser Auftrag einfach ist und unser Fundament ist, die braucht sehr viel mehr Raum und Zeit, um sie wirklich zu kultivieren und zu leben auch – und das, was Sie vorhin gefragt haben, auch zu öffnen für die Menschen, die genau das suchen, die eine Oase suchen, die einen Ort suchen, an dem sie genau das erleben können und entdecken können auch. Und da steht im Moment so die Gemeinschaft so bei der Suche so, was ist der Weg. Unsere kontemplative Dimension einmal für uns selber glaubwürdig zu leben und dann auch als Dienst für die Menschen anzubieten. Und wo bleibt da die Tradition und wo bleibt da auch der konkrete Dienst in Seelsorge bei den Menschen, das auch genau so zu unserem Charisma gehört? Das ist im Moment so ein ganz starker Suchprozess, der sicher noch nicht abgeschlossen ist und sehr spannend einfach ist auch, wie wird sich das entwickeln? (47,258-282)
Das Thema des Berufs hängt eng zusammen mit der Frage der Umsetzung der kontemplativen Ordensausrichtung in der heutigen Gesellschaft, mit der Frage von Tradition und Wandel, dem Beitrag d...