1 Einleitung
1.1 Zum Einstieg
âDie heutige klinische Psychiatrie versucht, die ReligiositĂ€t des Patienten in ihrer existentiellen Bedeutung zu beachtenâ, so Rainer Tölle und Klaus Windgassen (2014, S. 12).4 Vier Jahre davor schrieb Peter Kaiser: âDas Erstarken der Psychiatrie als eigenstĂ€ndiges Fach, die historisch bedingte naturwissenschaftliche Abwendung von allem Spekulativen, die Psychoanalyse und schlieĂlich die stĂŒrmische Entwicklung der Psychopharmakologie fĂŒhrten zu einer weitestgehenden VerdrĂ€ngung religiöser Thematik aus der Psychiatrie.â (Kaiser 2010, S. 92) Hat sich in diesen vier Jahren die Lage grundlegend verĂ€ndert? Zweifel sind berechtigt âŠ
Nicht nur in der Psychiatrie und Psychotherapie, bereits in der Psychologie scheinen â zumindest im deutschsprachigen Raum â ReligiositĂ€t oder SpiritualitĂ€t keine groĂe Rolle zu spielen.5 Michael Utsch konstatiert fĂŒr die Religionspsychologie in einem ForschungsĂŒberblick:
Es ist erstaunlich, dass die ReligiositĂ€t von der deutschsprachigen Psychologie so wenig wahrgenommen wird, drĂŒckt sich darin doch eine grundlegende kulturelle und individuelle Dimension des Menschen aus. WĂ€hrend die psychologischen Aspekte des Sports, der Werbung, der Musik oder des ökologischen Bewusstseins mittlerweile intensiv erforscht werden, wird die Religion von vielen Psychologen immer noch ignoriert. (Utsch 2008, S. 309)6
Dabei definiert ein klassisches EinfĂŒhrungswerk zur Psychologie von Philip G. Zimbardo und Richard J. Gerrig âPsychologie formal als die wissenschaftliche Untersuchung des Verhaltens von Individuen und ihren mentalen Prozessen.â (Gerrig u. Zimbardo 2013, S. 2) Darf man ReligiositĂ€t bzw. SpiritualitĂ€t dabei von vornherein ausklammern? Der namhafte Sozialpsychologe Roy F. Baumeister urteilt: âLike television, money, sex, and aggression, religion is an important fact of life, and psychology cannot pretend to be complete unless it understands religion alongside these other phenomena.â (Baumeister 2002, S. 165) Ăhnlich betont ein offizielles Handbuch der American Psychological Association (APA): âIn fact, we would argue that a mainstream psychology that overlooks the religious and spiritual dimension of human functioning remains incomplete.â (Pargament et al. 2013a, S. 10)7
Im Bereich von Gesundheit und Krankheit wird Ă€hnlicher Bedarf angemeldet. FĂŒr die Gesundheitswissenschaft allgemein kommt Florian Jeserich in einem LiteraturĂŒberblick zu dem Schluss: âDie systematische Erforschung von Religion(en) und SpiritualitĂ€t(en) als potentiell gesundheitsrelevante Faktoren ist ein Desiderat in der deutschen Gesundheitswissenschaft.â (Jeserich 2011, S. 143) Spezifisch fĂŒr unser Thema formuliert die Deutsche Gesellschaft fĂŒr Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) in einem aktuellen Positionspapier:
Forschung ĂŒber die Bedeutung von Weltanschauungen und Sinngebungsmodellen als Belastung und Ressource im deutschsprachigen Bereich ist sinnvoll und notwendig. Ein interdisziplinĂ€rer Dialog zwischen Religionspsychologie, Theologie und Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik ist erwĂŒnscht und notwendig. Folgende Forschungsthemen erscheinen u. a. wichtig: (1) Wahrnehmen von religiösen/spirituellen BedĂŒrfnissen der Patienten, (2) ReligiositĂ€t und SpiritualitĂ€t als Behandlungshindernis und (3) Zusammenarbeit der Gesundheitsberufe mit Seelsorge-Angeboten. (DGPPN 2016, S. 7)
Das Handbuch Religion and Psychiatry der World Psychiatric Association (WPA) beschreibt im Vorwort Psychiatrie und Religion als zusammengehörig: âReligiosity can be considered a normal personality trait and cannot be disregarded by psychiatrists, whatever their own ideas on religiosity might be. The entire soul/psyche, after all, belongs to their sphere of work.â (Verhagen et al. 2010, S. xvii) Das Handbuch möchte Neugier wecken fĂŒr die Schnittstelle zwischen âpsychiatry and manâs tendency to provide life with a vertical transcendental dimension.â (ebd.)
Die BewĂ€ltigung von schweren psychischen Störungen ist eine groĂe Herausforderung fĂŒr alle Beteiligten. Psychiatrische und psychotherapeutische Behandlung ersetzt dabei nicht das, was eine Person selbst zum Umgang mit ihrem Problem beitragen kann und muss. Allgemein spricht man hier von der persönlichen Krankheitsverarbeitung oder -bewĂ€ltigung, die Fritz A. Muthny und JĂŒrgen Bengel im Handbuch der Gesundheitspsychologie und Medizinischen Psychologie so definieren:
Die Belastungen setzen einen komplexen Verarbeitungsprozess in Gang (Krankheitsverarbeitung oder -bewĂ€ltigung, Coping). Der Betroffene bewertet die Bedrohung durch die Krankheit und prĂŒft, welche personalen und sozialen Ressourcen helfen, die Belastung zu mindern. Krankheitsverarbeitung ist nach Heim (1986) âdas BemĂŒhen, bereits bestehende oder erwartete Belastungen durch die Krankheit innerpsychisch (emotional/kognitiv) oder durch zielgerichtetes Handeln aufzufangen, auszugleichen, zu meistern oder zu verarbeitenâ. (Muthny u. Bengel 2009, S. 359)
Nach Erfahrung der Autoren stoĂe dieses Thema âbei Ărzten wie Pflegepersonal gleichermaĂen auf groĂes Interesseâ und trage âviel zum VerstĂ€ndnis von Patienten bei.â (vgl. ebd., S. 366) Zum Erleben und Verhalten gehört bei schweren Erkrankungen zumindest fĂŒr einen Teil der Patienten auch die religiöse bzw. spirituelle Ebene mit vielerlei Aspekten, die in der BewĂ€ltigung eine Rolle spielen können: Fragen, Ringen, Suchen, Handeln und evtl. Erfahrungen von Beziehung mit anderen und dem GröĂeren (Transzendenten), von Halt oder Sinn.
Das Ziel einer Behandlung ist in der Regel die Wiederherstellung der Gesundheit, oft aber auch eine Genesung, die mit evtl. bleibenden EinschrÀnkungen möglichst gesund umgehen kann. Heutige Definitionen von Gesundheit tragen dem Rechnung:
Im Anschluss an den französischen Medizintheoretiker Georges Canguilhem wird Gesundheit heute von Philosophen, Theologen und Medizinern als die FĂ€higkeit verstanden, auch EinbuĂen und Störungen der Gesundheit zu ertragen und durch ihre Integration in das eigene Lebenskonzept zu einer neuen »Norm des Lebens« im Sinne eines neuen Gleichgewichtes zu finden. (Schockenhoff 2009, S. 310) f.)8
Genesung im Sinne von âgut leben könnenâ mit bleibenden psychischen Problemen wird z. B. auch im Recovery-Ansatz ausdrĂŒcklich beschrieben (vgl. dazu Abschn. 3.2.6). Dazu bedarf es neben dem Abbau von Problemen auch der Aufmerksamkeit fĂŒr vorhandene Ressourcen, welche sich fĂŒr eine positive BewĂ€ltigung aktivieren oder verstĂ€rken lassen. Die persönliche ReligiositĂ€t bzw. SpiritualitĂ€t können dazu gehören â ohne sie deshalb fĂŒr die Gesundheit komplett verzwecken zu wollen.9
1.2 Psychologische und therapeutische Interessen
Psychologie wie auch Psychiatrie haben ein Interesse, mit ihrem Tun positiv fĂŒr menschliches Leben zu wirken: fĂŒr HumanitĂ€t, Heilung, die Entfaltung von Lebensmöglichkeiten. Mit dieser Option treffen sie sich mit der Caritas wie auch der Praktischen Theologie (dazu mehr in Abschn. 1.4). Nach Jacob A. Belzen ist Psychologie nicht wertneutral, sondern sie engagiere sich fĂŒr die Förderung menschlichen Wohlergehens (human welfare) â wobei es freilich keinen Konsens gebe, worin dieses bestehe (vgl. Belzen 2009a, S. 207). Bernhard Grom versteht Religionspsychologie als âengagierte Wissenschaftâ:
Aufgrund ihrer psychohygienisch-therapeutischen Grundausrichtung muss sich die Psychologie fĂŒr das psychische Wohlbefinden und eine gĂŒnstige Persönlichkeitsentwicklung der Menschen verantwortlich fĂŒhlen; darum soll die Religionspsychologie auch ermitteln, welche religiösen Einstellungen das Wohlbefinden und die Persönlichkeitsentwicklung beeintrĂ€chtigen oder fördern. (Grom 2007, S. 14)
In diesem Sinne will auch das bereits genannte APA-Handbuch mit einer gröĂeren Beachtung der religiösen bzw. spirituellen Dimension dazu beitragen, die conditio humana zu verbessern: âGreater attention to the religious and spiritual dimension, we firmly believe, can enrich and vitalize our efforts to understand and enhance the human condition.â (Pargament et al. 2013b, S. 18)
Der Psychiater und Psychotherapeut Daniel Hell (vormals Direktor der Psychiatrischen UniversitĂ€tsklinik ZĂŒrich) gibt dem Zusammenwirken psychiatrisch-psychotherapeutischer Konzepte und spirituell-religiöser Konzeptionen die Ăberschrift âDifferenzierung statt Spaltungâ (Hell 2013, S. 18). Im Blick auf Not und âUnheilsein des Menschenâ sagt er: âPsychotherapie und Seelsorge gehen nicht ineinander auf und sollten meines Erachtens nicht vermischt werden; sie lassen sich in der Praxis aber auch nicht völlig trennen.â (ebd., S. 19) Unvermischt und ungetrennt â ein in der Theologie langbewĂ€hrtes Prinzip! Hell sieht in solcher RĂŒckbesinnung keinen âGegensatz zur neurowissenschaftlichen Forschungâ:
Je mehr wir ĂŒber das Gehirn lernen, desto mehr erkennen wir auch den Einfluss von LebensumstĂ€nden und Erziehung auf Gehirnfunktionen und Gehirnstruktur. Wir werden von unserem Gehirn nicht nur gesteuert, sondern wir verĂ€ndern unser Gehirn ebenso durch gezieltes Ăben und durch bewusste LebensfĂŒhrung. Offenbar ist die Zeit reif, menschliche Grundhaltungen und kulturelle wie individuelle Wertvorstellungen wieder ernster zu nehmen. Dazu gehören auch spirituelle und religiöse Fragen, die in Psychiatrie und Psychotherapie lange tabuisiert wurden. (ebd., S. 20)
Seiner Folgerung fĂŒr die Psychiatrie und Psychotherapie kann man gut zustimmen: âEs gilt, die spirituelle Dimension ernst zu nehmen, ohne gleichzeitig die kritisch-wissenschaftliche Haltung aufzugeben.â (ebd.) Ăhnlich plĂ€diert Peter J. Verhagen dafĂŒr, dass Wissenschaft und Religion nicht von vornherein als Gegner und Todfeinde zu betrachten seien, sondern VerbĂŒndete sein könnten gegen Nonsens und Aberglaube (vgl. Verhagen 2012, S. 356), es brauche dafĂŒr vernĂŒnftige QualitĂ€tskriterien fĂŒr die Reflexion und Haltung zu Psychiatrie und Religion â zugunsten der seelischen Gesundheit und zum Wohle aller (vgl. ebd., S. 357).
Zwei prominente Stimmen zur Psychotherapie sollen noch zu Wort kommen. Jacob A. Belzen sieht eine Analogie im therapeutischen Umgang zwischen dem Bereich ReligiositĂ€t/SpiritualitĂ€t und dem Bereich SexualitĂ€t: Psychologen wĂŒssten, wie wichtig und schwierig es sein könne, in professioneller Weise ĂŒber diesen Lebensbereich zu sprechen. Sie sollten sensibel sein fĂŒr die jeweilige Relevanz, empathisch zuhören, sich Urteilen und Bewertungen enthalten, Fachwissen besitzen ⊠Psychotherapeuten dĂŒrften hier so wenig ihre Klienten anleiten wie darin, wie sie ihr Geld ausgeben oder wohin sie in Urlaub fahren sollten. Aber wĂ€hrend Therapeuten ausgebildet seien, ĂŒber solch profane Themen wie finanzielles, sexuelles oder Ess-Verhalten zu reden, sei kaum jemand ausgebildet, mit moralischen, ethischen, religiösen und spirituellen Themen professionell umzugehen â eine analoge QualitĂ€t an Ausbildung fĂŒr den Umgang mit diesen Themen lege sich darum nahe (vgl. Belzen 2004, S. 296).10
Der Freiburger Psychoanalytiker Tilmann Moser hat 27 Jahre nach seinem sehr bekannt gewordenen Buch Gottesvergiftung (1976) eine aktualisierte Sicht vorgelegt: Von der Gottesvergiftung zu einem ertrĂ€glichen Gott (2003). Darin legt er Psychotherapeuten nahe, ânach zwei Richtungen wachsamâ zu sein: einerseits fĂŒr â den dĂŒsteren Gott hinter einer Depression oder einer Angstneuroseâ, andererseits fĂŒr die âEntdeckung einer religiösen »Substanz«, in welcher Form auch immer, die einen tragenden Grund bedeuten kannâ. Deshalb sollten sie in ihren âDeutungen eher sehr zurĂŒckhaltend sein, um nicht ungewollt zerstörerisch zu wirken.â (ebd., S. 11) Er sieht in âGottesvergiftungenâ eine âsehr primitive Theologie am Werkâ, âdie Gott als Instrument der Erziehung und der EinschĂŒchterung benutzt hat.â (ebd., S. 23) Andererseits entdeckte er ein positives menschliches GrundgefĂŒhl, das er âFĂ€higkeit zur Andachtâ nennt (vgl. ebd.). Ihr komme in der kindlichen Entwicklung âeine wichtige Bedeutung fĂŒr den Aufbau ihrer seelischen Weltâ zu. Es sei dann âentscheidend, wie diese FĂ€higkeit zur Andacht aufgenommen wird und welche Inhalte die Erwachsenen in dieses kostbare GefÀà hineingieĂen.â (ebd., S. 24) Moser sieht die UrsachenzusammenhĂ€nge deshalb differenzierter als 1976 und verweist auf zirkulĂ€re Prozesse, vorgegebene Disp...