1 Einleitung
Die Frage nach der Rolle und Bedeutung von „Religion“ im öffentlichen Raum von Schule wird auf dem Hintergrund einer religiös heterogenen „postmodernen“ Gesellschaft diskursiv diskutiert und dabei zumeist auf den grundgesetzlich verankerten konfessionellen Religionsunterricht fokussiert. So wird beispielsweise grundsätzlich gefragt, ob ein konfessioneller Religionsunterricht unter den Bedingungen einer sogenannten Postmoderne überhaupt noch angezeigt, eine kooperativ-konfessionelle oder eine interreligiöse Ausrichtung nicht eher angesagt ist oder ob nicht ein allgemeiner Ethikunterricht eine zeitgemäßere Alternative darstellt.1
Eine solche Fokussierung der „Gretchenfrage“ auf den schulischen Religionsunterricht verkürzt Religion allerdings auf Unterricht und verstellt den Blick für die Frage nach Religion im gesamten allgemeinen, öffentlichen Raum von Schule.
In Eingrenzung dieser weiten Fragerichtung auf die Schulstufe der Grundschule, die ja die Eingangsstufe in das staatliche schulische Bildungs- und Erziehungswesen darstellt und die sich aufgrund ihrer „exponierten Anfangsstellung mit den wohl meisten Zusatzbedingungen und -erwartungen auseinandersetzen“2 muss, stellt sich dann die Frage: Welche Rolle spielen eine religiöse Erziehung und Bildung von Kindern innerhalb einer öffentlichen Grundschule, deren Auftrag und Ziel3 in einer umfassenden grundlegenden Bildung und Erziehung bestehen?
In Anlehnung an die Ausführungen von Jürgen Baumert4, dem ehemaligen Leiter des deutschen PISA-Konsortiums, ist davon auszugehen, dass es neben einem kognitiven, ästhetischen und normativen auch einen religiösen Zugang zur Welt gibt und dass ferner diese vier Zugänge in Verschränkung mit kulturellen „Basiswerkzeugen“ (sprachliche Kompetenz, mathematische Kompetenz etc.) insgesamt die Grundlage einer umfassenden Bildung darstellen. Daraus ergeben sich zwangsläufig Fragen nach Grundlagen und Gestaltungsperspektiven von Bildungs- und Erziehungsprozessen unter Einbeziehung religiösen Lernens in der Grundschule.
Im Rahmen dieser Überlegungen stößt man auf eine Schulart Grundschule, wie sie schulgeschichtlich in diesem Format ausschließlich in Nordrhein-Westfalen und Niedersachsen erhalten geblieben ist: die staatliche Grundschule im Typus einer Bekenntnisgrundschule oder, wie es im Titel heißt: eine öffentliche Grundschule im konfessionellen Gewand. Ihr Spezifikum auszumachen erweist sich bei näherer Betrachtung allerdings als schwierig, ist gleichwohl aber – nicht zuletzt im Blick auf die politische Entwicklung der Existenz dieser Grundschulart – in verschiedener Hinsicht dringend zu klären.
1.1Die Katholische5 Grundschule Nordrhein-Westfalen
Eine Präzisierung und Begründung erfährt das Forschungsinteresse im Sinne einer wissenschaftlichen Annäherung zunächst durch einen Blick auf die strukturelle Organisation des Schulwesens in Deutschland:
Das gesamte Schulsystem steht gemäß § 7 der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland unter der Aufsicht des Staates. Es ist föderaler Natur, so dass die Kulturhoheit in der Verantwortung des jeweiligen Bundeslandes liegt. Das gesamte Schulsystem ist nach Schulstufen aufgebaut.
Die Schulform Grundschule6 innerhalb der Schulstufe der Primarstufe, auf die sich diese Untersuchung konzentriert, realisiert sich gemäß der nordrhein-westfälischen Landesverfassung in drei verschiedenen und voneinander zu unterscheidenden Schularten, nämlich der Gemeinschaftsgrundschule, der Bekenntnisgrundschule oder der Weltanschauungsschule.7 Bekenntnisgrundschulen sind gemäß Artikel 12 der Landesverfassung „Evangelische oder Katholische Grundschulen“8.
Grundsätzlich ist auf der Grundlage der Verfassung der Bundesrepublik Deutschland (Art. 7,4) zwischen öffentlichen und privaten Schulen zu unterscheiden. So ist beispielsweise die Katholische Grundschule NRW als öffentliche, staatliche Grundschule keine Privatgrundschule, oder, wertneutraler formuliert, sie ist keine Grundschule in freier Trägerschaft der Katholischen Kirche. Bekenntnisschulen sind also öffentliche Schulen in staatlicher Trägerschaft, deren Auftrag darin besteht, Unterricht und Erziehung im Rahmen der staatlichen Vorgaben nach den Grundsätzen des entsprechenden Bekenntnisses zu planen, durchzuführen und zu reflektieren.9
Als eine Schulart innerhalb der Schulform Grundschule ist sie landesverfassungs- und schulrechtlich10 von der Gemeinschaftsgrundschule zu unterscheiden, in der Schülerinnen und Schüler „auf der Grundlage christlicher Bildungs- und Kulturwerte in Offenheit für die christlichen Bekenntnisse und für andere religiöse und weltanschauliche Überzeugungen“11 unterrichtet werden. Im Unterschied dazu realisieren sich in der Bekenntnisgrundschule Unterricht und Erziehung nach den Grundsätzen des betreffenden Bekenntnisses.12 In Nordrhein-Westfalen ist damit schulhistorisch eine Schulart erhalten geblieben, die in allen anderen Bundesländern, mit Ausnahme von Niedersachsen, in dieser Form abgeschafft wurde.
Gegenstand dieser Untersuchung ist die Bekenntnisgrundschule in NRW in ihrer katholischen Ausprägung. Unter den Bekenntnisgrundschulen in NRW insgesamt stellen sie den zahlenmäßig größten Anteil dar: So waren nach der amtlichen Schulstatistik des Landes NRW im Schuljahr 2011/1213 von den insgesamt 2978 staatlichen Grundschulen mit ihren 632 545 Schülerinnen und Schülern 914 Grundschulen Katholische Grundschulen mit 190 372 Schülerinnen und Schülern.
Innerhalb der nordrhein-westfälischen Grundschullandschaft realisiert sich die KGS regional unterschiedlich: In manchen Fällen bildet sie die einzige Grundschule innerhalb einer Kommune oder eines Stadtteils, die faktisch von mehr oder weniger allen Kindern des Ortes/Ortsteils und nicht – wie zu vermuten wäre – ausschließlich von den katholischen Schülerinnen und Schülern besucht wird. In anderen Fällen ist die KGS in regionaler Nähe zu einer Gemeinschaftsgrundschule verortet. Dann stellt sie mit Blick auf eine regionale Nähe zum Wohnort des Kindes eine Angebotsschule dar, ein Alternativangebot. Dieses grundsätzliche Nebeneinander (Alleinstellung und Koexistenz) der beiden Schularten führt nicht selten zu Problemen: In einigen Kommunen, die eine Katholische Grundschule als Angebotsschule vorhalten, führt der konfessionelle Zuschnitt zu einer „Milieuverengung“ innerhalb der Schüler- und Elternschaft der jeweiligen Schulart (GGS/KGS). Für den Schulträger, also eine Stadt oder eine Gemeinde, ergeben sich aus dem Nebeneinander der beiden Schularten Zuweisungsprobleme in der Festlegung der Zügigkeiten einer Schule und in der Steuerung der Schülerströme. Wenn nun, auch und gerade angesichts in der Regel offener Schulbezirksgrenzen,14 die Katholische Grundschule eine verfassungsrechtlich garantierte Alternative zur Gemeinschaftsgrundschule darstellt, muss die berechtigte Frage Antwort finden, was denn im Unterschied zur GGS das Spezifische an ihr ist, worin also ihr Proprium besteht. Ist sie die einzige Grundschule vor Ort und wird daher von mehr oder weniger allen Grundschülerinnen und -schülern des Ortes bzw. des Ortsteils besucht, stellt sich die Frage ihrer Ausrichtung zwar nicht in regionaler Unmittelbarkeit zu einer GGS, wohl aber mit Blick auf ihre Ausrichtung: In ihrem Namenszug nämlich trägt sie die Bezeichnung „Katholische Grundschule“. Dies darf mit Erwartungen verbunden sein. Aber mit welchen, so muss gefragt werden.
Die Tatsache also, dass es überhaupt neben einer GGS auch Bekenntnisgrundschulen gibt, sowie das Nebeneinander dieser Schularten als beiderseits öffentliche Schulen innerhalb der nordrhein-westfälischen Grundschullandschaft werfen eine Reihe von Fragen und Problemen auf. Gerhard Fuest spricht von einem als krisenhaft zu beschreibenden Zustand der staatlichen Bekenntnisschule zur Zeit der zweiten Grundschulreform (1968) bis heute.15
Auch in der gesellschaftlichen und politischen Diskussion ist die Frage nach einer öffentlichen Bekenntnisschule virulent. So titelt und fordert die Initiative „Kurze Beine – Kurze Wege“ auf ihrer Homepage: „Schluss mit religiös begründeter Diskriminierung an öffentlichen Schulen in NRW.“16
Eine substanzielle, wissenschaftlichen Standards genügende Auseinandersetzung und Argumentation setzen hier bei der Frage an, was es denn handlungstheoretisch eigentlich bedeutet, Kinder nach dem katholischen Bekenntnis zu unterrichten und zu erziehen.
Innerhalb dieser Untersuchung geht es also darum, Antworten auf die Frage nach einem Proprium Katholischer Grundschulen zu finden: Worin liegen ihr besonderer, auf einem katholischen Bekenntnis beruhender pädagogischer Beitrag und gesellschaftlicher Auftrag? Findet eine Katholische Grundschule als Schulart in einer sogenannten postmodernen, zunehmend kirchenfernen Gesellschaft als staatliche Regelschule substanziell noch ihre Berechtigung, und welchem spezifischen Anliegen und Auftrag kommt sie nach? Zu fragen ist dann auch nach grundlegenden und begleitenden Ressourcen, wie es sich für eine Untersuchung, die sich an der Praxis der Grundschule orientiert und die also nach Handlungsoptionen fragt, gebietet.
Eine wissenschaftliche Untersuchung des Phänomens „Katholische Grundschule NRW“ als einer öffentlichen Grundschule im konfessionellen Gewand, wie sie hier vorgelegt wird, stellt innerhalb der grundschulpädagogischen und religionspädagogischen Forschung ein Desiderat dar. Sie ist dringend angezeigt, weil sich die KGS den genannten weitreichenden, berechtigten Anfragen ausgesetzt sieht und sich direkte Antworten oder zumindest Handlungsempfehlungen in der wissenschaftlichen Literatur neueren Datums bisher nicht finden.
Die Betrachtung der KGS als einer Bekenntnisgrundschule stellt unter grundschulpädagogischen und religionspädagogischen Gesichtspunkten zweifellos ein weites Feld dar, so dass wir notwendig begründete Abgrenzungen vornehmen müssen.
1.2Fokussierung der Fragestellung
Innerhalb dieser Untersuchung werde ich mich auf das Land NRW konzentrieren, gleichwohl die Bekenntnisgrundschule als Schulart auch in Niedersachsen existiert. Eine solche Abgrenzung ergibt sich aus der föderalen Verantwortung der Bundesländer im Bildungsbereich (Schule und Hochschule) und den daraus resultierenden unterschiedlichen schulrechtlichen Bestimmungen der beiden Länder. Gleiches gilt für die historische Rückfrage, warum andere Bundesländer die Bekenntnisgrundschule im Laufe der Schulgeschichte als Schulart aufgegeben haben.
Ferner wird sich die Untersuchung auf die Katholische Grundschule ausrichten. Dies ist zum einen der Tatsache geschuldet, dass Katholische Grundschulen unter den Bekenntnisschulen den zahlenmäßig größten Anteil ausmachen. Zum anderen liegt in diesem Zuschnitt auch das persönliche wissenschaftliche Interesse: Denn diesen Forschungsgegenstand auf die Bekenntnisgrundschule als Katholische Grundschule hin zu betrachten, ist für mich auch berufsbiographisch motiviert durch diverse Erfahrungen im Feld: Für mich als katholische Grundschullehrerin, als langjährige Schulleiterin einer Katholischen Grundschule und aktuell als Dozentin für Grundschulpädagogik und -didaktik im Bereich der Lehrerfort- und -weiterbildung haben die aus einer reflektierten Praxis gewonnenen Erkenntnisse subjektiv nachvollziehbare Auswirkungen auf die Ausbildung identitätsstiftender und berufsbezogener Kompetenzen. Insofern bildet die hier vorgelegte wissenschaftstheoretische Auseinandersetzung durchaus auch einen „inneren Diskurs“ ab, indem sie gewissermaßen auf intrapersonaler Ebene subjektives Erfahrungswissen und kognitive und emotionale Einstellungen und Haltungen in einen differenzierten pädagogischen und religionspädagogischen Denkansatz einzubinden versucht.
Infolge dieser Zuspitzung auf die KGS ist die Evangelische Grundschule, die sich auf den Grundsätzen des evangelischen Bekenntnisses realisiert, der wissenschaftlichen Eindeutigkeit halber aus dieser Untersuchung ausgeschlossen.
Ferner konzentriert sich diese Studie auf die Grundschule als eigenständige Schulstufe innerhalb des Bildungssystems und lässt damit das Feld der Sekundarstufe I, genauerhin die Bekenntnishauptschule, unbeachtet. Eine wissenschaftstheoretische Orientierung an einer eigenständigen wissenschaftlichen Grundschulpädagogik, wie sie sich insbesondere in den 1970er Jahren durchsetzte, ist somit konsequent.
Einem Theorieverständnis von Grundschule wäre sicher auch die Frage nach einem Proprium der Gemeinschaftsgrundschule dienlich, wie sie im nordrhein-westfälischen Schulgesetz ebenfalls definiert ist. Damit wäre die Frage verbunden, was es handlungstheoretisch oder auch norm...