I. Analyse des Vernunftbegriffs Ratzingers
1. Positivistische Vernunft
1.1 Wahrheit des Faktums: Historische Vernunft
Für Ratzinger ist die Wende vom metaphysischen Denken der Antike und des Mittelalters hin zum positivistischen Denken der Neuzeit besonders mit der Person des italienischen Philosophen Giambattista Vico (1688–1744) verbunden, der Ratzingers Ansicht nach „wohl als erster eine völlig neue Idee von Wahrheit und Erkenntnis formuliert und in einem kühnen Vorgriff die typische Formel des neuzeitlichen Geistes hinsichtlich der Wahrheits- und Wirklichkeitsfrage geprägt hat.“1 Der Inhalt dieser Formel lautet ‚verum quia factum; dies bedeutet, dass für den Menschen nur das als wahr erkennbar ist, was er selbst gemacht hat. Hinter dieser Überzeugung steht der aristotelische Gedanke, dass man, um eine Sache wirklich zu kennen, ihre Ursache kennen muss. Weil das Sein selbst sich aber der vollen Kenntnis des Menschen entzieht, führt zu gesicherten Aussagen deshalb nach Ansicht Vicos eben nicht die metaphysische Spekulation, sondern nur die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem vom Menschen Gemachten. „Nicht dem Sein nachzudenken ist die Aufgabe und Möglichkeit des menschlichen Geistes, sondern dem Faktum, dem Gemachten, der Eigenwelt des Menschen, denn nur sie vermögen wir wahrhaft zu verstehen.“2 Nach der Infragestellung des metaphysischen Denkens des Mittelalters und der Antike sucht der Mensch nun Gewissheit in dem, was er selbst erzeugt hat. „Die Herrschaft des Faktums beginnt, das heißt die radikale Zuwendung des Menschen zu seinem eigenen Werk als dem allein ihm Gewissen.“3 Wahrheit wird von der so umschriebenen historischen Vernunft also nicht mehr in metaphysischer Spekulation gesucht, sondern im historischen Faktenwissen.
Diese neue Sichtweise hat zur Folge, dass als die einzigen anerkannten Wissenschaften nur noch die Mathematik und die historische Wissenschaft übrig bleiben, denn nur in ihnen kann der Mensch sich seiner Erkenntnis noch sicher sein. Die „Historie verschlingt gleichsam den ganzen Kosmos der Wissenschaften in sich hinein und verwandelt sie alle grundlegend.“4 Ratzinger sieht diese Entwicklung in der Philosophie bei Hegel, in der Nationalökonomie bei Marx und schließlich in der Naturwissenschaft bei Darwin vollzogen. Bei Letzterem „wird das System des Lebendigen als eine Geschichte des Lebens begriffen; an die Stelle der Konstanz dessen, was bleibt, wie es geschaffen ist, tritt eine Abstammungsreihe, in der alle Dinge voneinander kommen und aufeinander rückführbar sind“5.
Das Prinzip des geschichtlichen Denkens führt auch im philosophischen Bereich zu einem grundlegenden Umdenken. Hier wird die Welt nun „nicht mehr als das feste Gehäuse des Seins, sondern als ein Prozess, dessen beständige Ausbreitung die Bewegung des Seins selber ist“6, verstanden. Das statisch-räumlich gedachte Seinsverständnis der Antike und des Mittelalters weicht also nun einem Verständnis, bei dem das Sein selbst als Zeit begriffen wird: „Zeit ist nicht nur die äußere Umdrehung des Kosmos, sondern ist die Form des Seins selbst, das nur als Werden besteht und uns nur deshalb als stehendes Sein erscheint, weil wir einen so geringen Ausschnitt überblicken, dass wir nur die Kontinuität der scheinbar bleibenden Gestalt, nicht deren stilles Unterwegssein zu neuen Gestalten wahrnehmen.“7 Der Bezug des Menschen auf ein Vernunftprinzip des Seins ist unter diesen Bedingungen natürlich nur noch innerhalb des Prozesses möglich, als welcher das Sein nun gedacht wird. Ratzinger sieht diese Konsequenz in der Philosophie Hegels verwirklicht: Der „Logos wird in Geschichte zu sich selbst. Er kann also an keinem einzelnen Punkt der Geschichte angesiedelt, er kann nie übergeschichtlich als in sich selber Seiendes gesichtet werden.“8 So läuft für Ratzinger ein Historismus, der sich absolut setzt, auf die Auflösung von Wahrheit in Geschichte hinaus. Die Wahrheit steht nicht über der Geschichte, sondern ist ihr immanent, auch sie ist der Zeitlichkeit unterworfen.
Der Mensch findet sich und sein Selbstverständnis durch diese Einsicht in die Zeitlichkeit allen Seins und die damit verbundene Reduktion aller Wissenschaft auf die Historie in einer „eigentümlichen Situation“ wieder: „In dem Augenblick, in dem eine radikale Anthropozentrik einsetzt, der Mensch nur noch sein eigenes Werk erkennen kann, muss er doch zugleich lernen, sich selbst als ein bloß zufällig Gewordenes, auch nur als ‚Faktum‘, hinzunehmen.“9 Das Selbstverständnis des Menschen als ein sinnvoll im Ganzen des Kosmos integriertes Wesen ist somit innerhalb des historischen Denkens fragwürdig geworden. Seine scheinbare kosmische Seinsnotwendigkeit ist der Einsicht in seine geschichtliche Kontingenz gewichen.
1.2 Wahrheit des Verifizierbaren: Naturwissenschaftliche Vernunft
Trotz der Blütezeit des historischen Denkens im 19. Jh. geriet es Anfang des 20. Jh. in eine Krise, welche sich aus der Kritik an der Unsicherheit historischer Aussagen ergab. Immer „deutlicher zeigte sich, dass es das reine Faktum und seine unerschütterliche Sicherheit gar nicht gibt, dass auch im Faktum jedes Mal noch das Deuten und seine Zweideutigkeit enthalten sind. Immer weniger konnte man sich verbergen, dass man abermals nicht jene Gewissheit in Händen hielt, die man sich zunächst, in der Abwendung von der Spekulation, von der Tatsachenforschung versprochen hatte.“10 Der Grund für diesen defizitären Gewissheitsgrad historischer Tatsachen liegt in ihrer Einmaligkeit und Unwiederholbarkeit. Denn historische Ereignisse liegen in der Vergangenheit und sind trotz aller Quellen und Belege dem Menschen nicht mehr vollends zugänglich.
Diese Einsicht führt nach Ratzinger bald zur Überzeugung, dass dem Menschen zu guter Letzt nur das wirklich erkennbar ist, was beliebig oft wiederholbar ist.11 So erscheint nun die „naturwissenschaftliche Methode, die sich aus der Verbindung von Mathematik … und Zuwendung zur Faktizität in der Form des wiederholbaren Experiments ergibt, als der einzig wirkliche Träger zuverlässiger Gewissheit.“12 Denn die empirische Methode der Naturwissenschaft zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass sie ein Versuchsergebnis nur dann als wahr gelten lässt, wenn es sich beliebig oft durch Wiederholung des gleichen Experiments belegen lässt.
Der große Vorteil von auf diesem Wege gewonnenen naturwissenschaftlichen Gewissheiten besteht in ihrer Unabhängigkeit von der Geschichte. Denn auch wenn naturwissenschaftliche Einsichten „in ihrem Entstehen ohne Zweifel an bestimmte geistesgeschichtliche Voraussetzungen gebunden“13 sind, so kommt ihnen doch auch unabhängig von diesen Voraussetzungen Gültigkeit zu. „Die Ergebnisse streifen ihre geschichtlichen Voraussetzungen ab und bilden zusammen den festen Bestand eines allmählich wachsenden Wissens, in dem die Summe fester Daten von Pythagoras bis Einstein beständig zunimmt und als selbstständiges geistiges Gefüge der naturwissenschaftlichen Forschung zuhanden ist. Die Geschichte, in der sich der jeweilige Gedanke ausbildet, gehört nicht in den Gedanken mit hinein; sie ist für den Gedanken nicht Geschichte, sondern nur Vorgeschichte. Der Naturwissenschaftler bedarf ihrer nicht.“14
Die in der Neuzeit einsetzende Konzentration des menschlichen Denkens auf das im Experiment Verifizierbare bzw. Falsifizierbare hat wie das historische Denken tief greifende Auswirkungen auf das Weltbild des Menschen: Wenn ‚Welt‘ ihm bis dahin als metaphysisches System vor Augen schwebte, das ihm „gleichsam greifbar in der Hierarchie der Sphären“ war, „die vom Untersten und Dumpfsten, der Erd...