1 Warum lohnt sich der Blick auf Franziskus und Luther?
Wer sich mit Franziskus und Luther auf den Weg begibt, beginnt ein Abenteuer. Dieses Abenteuer fĂŒhrt zuerst in das 13. und 16. Jahrhundert und damit in Zeiten, die uns Menschen heute eher fremd sind, weil sie sich so sehr in Sprache, Weltbild oder Gottesvorstellungen von unserer Gegenwart unterscheiden. Und doch lohnt sich eine solche Entdeckungsreise, denn im Fremden verbirgt sich nicht selten eine ĂŒberraschende und neue Perspektive auch auf das eigene Leben.
Doch das Abenteuer birgt noch mehr, denn auch Franziskus und Luther teilten nicht denselben Lebenshorizont, sahen sich nicht denselben Herausforderungen gegenĂŒber und hatten auf die Fragen ihrer Zeit durchaus unterschiedliche Antworten. Dass sie aber dennoch zusammen angeschaut werden können (und vielleicht sogar auch mĂŒssen), hĂ€ngt mit dem zusammen, was beide auch mit uns Menschen im 21. Jahrhundert verbindet: ihr unbedingtes Ringen mit Gott und ihre Versuche, ihre drĂ€ngenden Fragen nach Gott aus ihrer Zeit heraus zu beantworten. âWer bin ich in Gottes Augen?â â so fragte sich Luther und empfand die Entdeckung des gnĂ€digen und erbarmenden Gottes als eine derartige Befreiung, dass er aller Welt die âFreiheit eines Christenmenschenâ nahebringen wollte. Dabei nahm er sich selbst als gebeugt und schwach gegenĂŒber Gott wahr, nicht fĂ€hig, das Gute zu tun, zu dem er berufen war, aber allemal in der Lage, immer wieder an seinen Mitmenschen und auch an sich schuldig zu werden.
Auch Franziskus hat in dieser Weise seine Armut und Nacktheit vor Gott erkannt. Und auch er staunte ĂŒber einen Gott, der aus Liebe das Leid nicht scheut und dem kein Weg zu weit ist, um seinen Menschen in allen Zeiten die Chance zur Umkehr und letztlich zur Versöhnung mit sich selbst zu schenken, um so die Freiheit der Kinder Gottes zu erlangen. In den Spuren eines solchen liebenden Gottes zu gehen versprach höchstes LebensglĂŒck.
âWer also bin ich in Gottes Augen?â Und was ist das fĂŒr ein Gott, der da auf mich schaut? Diese existentiellen Fragen verbinden Franziskus und Luther ĂŒber die Zeiten â und ihre Antworten tun dies ebenso. Beide entdeckten einen Gott, der aus Liebe fĂŒr sie alles tut und selbst den Weg in den Tod nicht scheute. Beide entdeckten also einen Gott, der in seinem Sohn Jesus Christus dauerhaft das Tor zum ewigen Leben aufstöĂt und so die VerheiĂung einlöst, dass niemand verloren geht, keiner, nicht ein Einziger. Und: Beide entdeckten einen Gott, der auch heute liebevoll auf uns Menschen schaut und um unsere Herzen wirbt, indem er uns einlĂ€dt, ihm in seinem Handeln an uns zu vertrauen und auf sein Erbarmen zu hoffen.
In diesem Glaubenswissen treffen sich Franziskus und Luther ĂŒber die Zeiten, auch wenn sie sich in vielen Punkten theologisch nicht einig waren oder Luther zwar viel mit Franziskus, aber nur wenig mit den Franziskanern anfangen konnte. Insofern ist der Weg mit Franziskus und Luther ein Abenteuer, denn er fĂŒhrt nicht nur in die Geschichte und in Hoffnungen und GlaubenskĂ€mpfe von Franziskus und Luther, sondern er fĂŒhrt auch zu uns selbst, zu unseren Fragen, zu unseren Gottesbildern, zu unserem LebensgesprĂ€ch mit Gott.
Franziskus und Luther â Freunde ĂŒber die Zeiten?
Im Jahr 1532 erschien es so, als wenn Martin Luther Franziskus von Assisi niemals als einen verdienstvollen OrdensgrĂŒnder und Heiligen verstehen könnte, denn: In diesem Jahr kommentierte Luther bei einer â nachtrĂ€glich verschriftlichten â Tischrede in ablehnender Weise ein Buch, in dem die Gleichförmigkeit von Franziskus und Christus betont wird (âLiber conformitatum S. Francisci cum Jesu Christoâ). Dieses Werk, das ursprĂŒnglich zwischen 1385 und 1390 von BartholomĂ€us von Pisa verfasst worden ist, wurde 1510 neu herausgegeben â und stand vermutlich auch in Luthers Bibliothek. Der Text war geleitet von dem ganz klaren, bereits im Titel akzentuierten Gedanken, dass es sich bei Franziskus um den âzweiten Christusâ handelte: Ăhnliches Leiden, ein Ă€hnlicher Vorbildcharakter und eine Ă€hnliche RadikalitĂ€t in der Nachfolge wurden hier benannt; aber all dies wollte Luther nicht ĂŒberzeugen, im Gegenteil: Es erboste ihn zutiefst. Einen Vergleich zwischen Christus und Franziskus herzustellen, ja Christus gar durch Franziskus und dann in einem zweiten Atemzug auch noch das Evangelium durch die Regel der Franziskaner zu ersetzen grenzte fĂŒr ihn an Vermessenheit, an GotteslĂ€sterung und an Frechheit (WA TR 2, Nr. 1692, 184).
Doch damit nicht genug, denn das Thema verebbte anschlieĂend keineswegs: 1542 verfasste Martin Luther die Vorrede zur Schrift âDer BarfĂŒĂermönche Eulenspiegel und Alkoranâ (und damit eine gekĂŒrzte und polemisch aufgeladene Fassung des âLiberâ), die vom Pfarrer und Superintendenten Erasmus Albertus erstellt worden ist (WA 53, 409â411). In seiner Vorrede lĂ€sst Luther kein gutes Haar am Papsttum, dem die BuĂe und damit die Umkehr zu Gott vollkommen fremd seien und das sich zugleich in der gegenwĂ€rtigen Zeit (also um 1542) âschmĂŒckenâ und âputzenâ und ĂŒberdies seine Lehre inzwischen auch auf Reichstagen darstellen und verteidigen wĂŒrde. Und mehr noch: Den Franziskanern sei zudem vorzuwerfen, dass sie die Regel des âBarfussersâ fĂŒr das Evangelium hielten und auf diese Weise Christus explizit durch Franziskus ersetzten. Dies kĂ€me einer âgroĂen LĂŒgendenâ gleich. Dabei sei Franziskus ebenso wie Benedikt ein schwacher Mensch gewesen. Dies macht Luther an zwei Punkten fest: Erstens musste Franziskus seine sexuellen Begierden âin den Schnee tretenâ und Frau und Kind durch sieben âSchneeballenâ ersetzen, um seine âjugendliche Brunstâ einzudĂ€mmen. Dieses Verhalten legt Luther als SchwĂ€che von Franziskus aus, die er â und das meinte Luther ganz ernst â hĂ€tte vermeiden können, wenn er sich fĂŒr das Ehe- und nicht fĂŒr das KlostergelĂŒbde entschieden hĂ€tte, denn dann hĂ€tten seine Begierden in aller Freiheit ihren Ort gehabt.
Als zweite SchwĂ€che von Franziskus erkennt Luther in seiner Vorrede von 1542, dass Franziskus des âweltlichen oder Kirchen regiments ⊠viel zu geringeâ sei, denn er sei âunerfahrenâ und zugleich auch âungelerntâ gewesen und habe gerade wegen dieser Unkenntnis durch sein ânarren werck ⊠Christum und sein Reich verfinstertâ (WA 53, 411). Ein verfinstertes Christentum â das ist ein massiver Vorwurf, den Luther hier formulierte.
Doch indem Luther diese zwei SchwĂ€chen von Franziskus benennt, leuchtet zugleich etwas von dem auf, was ebenfalls sein gesamtes Franziskusbild durchzieht: Bei aller Kritik an dem, was ĂŒber Franziskus gesagt wurde, wollte Luther den OrdensgrĂŒnder doch nicht ungeschĂŒtzt im Hagel der Kritik stehenlassen, im Gegenteil: Es gehört zu Luthers ambivalenter Sichtweise auf Franziskus und die Franziskaner, dass er Letztere in aller SchĂ€rfe verurteilte, wĂ€hrend er Ersteren von dieser Kritik weitgehend ausnahm.1 Und so zeigt sich, dass die Rede von den SchwĂ€chen von Franziskus, die Luther fĂŒhrte, nicht als Anschuldigung verstanden wurde, sondern dem Schutz von Franziskus dienen sollte. Das heiĂt: Der Hinweis, dass Franziskus unerfahren und ungelernt sei, zielte darauf, dass Franziskus es in all seinem Denken und Tun schlicht nicht besser gewusst hatte, weil er kein ausgebildeter Theologe war. Insofern hĂ€tte er zwar ein ânarren werckâ betrieben, aber dies könnte man ihm wegen seiner Ungelerntheit nicht zur Last legen. Vor diesem Hintergrund kommt dann auch Luthers Hinweis, dass Franziskus besser eine Ehe eingegangen wĂ€re, eine andere Bedeutung zu, weil dieser nun einen eher fĂŒrsorglichen Klang erhĂ€lt, der fĂŒr einen Menschen gilt, der wohl glaubend, aber in diesem Glauben nicht universitĂ€r ausgebildet war.
Franziskus â auch fĂŒr Luther âheiligâ
Bewertete Luther Franziskus, schienen eigene Gesetze zu gelten, denn: Gott selbst rĂŒckte nun bei den Einlassungen Luthers in die Mitte, der sich in seiner Barmherzigkeit Franziskusâ â und im Ăbrigen auch Benedikts und aller weiteren OrdensgrĂŒnder â erbarmt hĂ€tte, als er ihr Ringen gesehen hatte. Stand Gott also in der Mitte, wurde es plötzlich möglich, Menschen anderer Frömmigkeitsrichtungen und Glaubensauffassungen in einem neuen Licht zu sehen und dabei zu verstehen, dass alle Unterschiede hinter dem gemeinsamen Glauben an das Heilswirken Gottes zurĂŒcktreten können. Dieser Grundzug, der auch heute gelingende ökumenische GesprĂ€che charakterisiert, erweitert das eigene Gottesbild, weil er auf einen Gott verweist, dessen Liebe auch da nicht endet, wo sich das menschliche Vermögen erschöpft, andere anzunehmen und zu lieben. In dieser Haltung in GesprĂ€che etwa mit anderen Konfessionen zu gehen hat oft schon aus GesprĂ€chspartner/-innen Beschenkte werden lassen.
Im Wissen um den gemeinsamen Glauben an den barmherzigen Gott konnte Luther Franziskus also leichten Herzens als einen âfrommen Mannâ (WA TR 3, Nr. 3626, 466 f) bezeichnen, weil dieser eben in erkennbarer und beeindruckender Weise auf das Wort Gottes vertraute. So formulierte Luther es bei den Tischreden aus den 1540er Jahren â und daran wollte er auch in der Zeit festhalten, in der er das âLiberâ und damit die ErzĂ€hlungen ĂŒber Franziskus scharf kritisierte (WA TR 5, Nr. 6352, 616).
Und weil Luther Franziskus nicht entheiligte, konnte er ihn auch â ebenso wie den OrdensgrĂŒnder Benedikt â als ein zeitloses Exempel fĂŒr das heilvolle Handeln Gottes verstehen. Deshalb erscheint auch die Folgerung fĂŒr die Lesenden der Vorrede zum âLiberâ in einem geradezu versöhnlichen Ton, wenn es heiĂt: âSind sie [i. e. die OrdensgrĂŒnder, d. Verf.] selig geworden, ⊠so sollen wir auch nicht verzweifelnâ (WA 53, 411). Beiden seien also SchwĂ€chen zu attestieren, aber beide lebten zugleich gestĂŒtzt auf das Wort Gottes â und damit in einer Art und Weise, die Luther durchaus auch fĂŒr sich in Anspruch nahm, so dass hier eine NĂ€he entstand. Die Sympathien fĂŒr Franziskus waren also bei Luther groĂ, ĂŒbertrugen sich aber letztlich nicht auf den Franziskanerorden als solchen.
Franziskus und Luther â auf der Suche nach möglichen AnnĂ€herungen und Parallelen
Luther und Franziskus hatten also offenbar mehr miteinander zu tun, als es der erste Blick auf die Aussagen Luthers aus den Jahren 1532 und 1542 nahelegt. Deshalb soll in einem ersten Teil Luther noch einmal deutlicher in all seiner Ambivalenz zur Sprache kommen, wenn er ausgehend von seinem Blick auf Franziskus und auf die Franziskaner ĂŒber Armut, das Ordenswesen an sich und den wachsenden politischen Einfluss der Franziskaner in der ersten HĂ€lfte des 16. Jahrhunderts streitet, dabei aber gleichzeitig versucht, den OrdensgrĂŒnder weiterhin als Heiligen zu sehen und zu schĂ€tzen. Konkret heiĂt dies, dass Luther einerseits Franziskus fĂŒr einen bewundernswerten Mann hielt, der durch den Geist geradezu brannte (âvir admirabilis et spiritu ferventissimusâ, WA 8, 579). Andererseits hielt ihn dies aber nicht davon ab, mit groĂer Vehemenz die Franziskaner zu kritisieren.
Doch woher kam diese letztlich ungebrochene Zuneigung Luthers zu Franziskus? Er selbst erklĂ€rt es nicht im Detail, wie auch sonst seine Aussagen zu Franziskus kraftvoll, aber doch spĂ€rlich sind. So ist die bereits genannte Vorrede von 1542 auch die letzte Quelle, in der sich Luther zu Franziskus Ă€uĂerte, bevor er 1546 starb. Doch das Zusammenlesen der Hinweise aus dieser Vorrede, aus den Tischreden und aus einzelnen Predigten legt den Gedanken nahe, dass Luther sich in dem OrdensgrĂŒnder Franziskus im Grunde wiedererkannte. Einen AnknĂŒpfungspunkt fand er darin, dass auch er sich ganz auf die Gnade und das Erbarmen Gottes verlieĂ und bestĂ€ndig die besondere Bedeutung des Wortes Gottes betonte, das es anzunehmen und nicht zu verfĂ€lschen galt. Franziskus sprach er zu, ebenso gedacht und gelebt zu haben, so dass sich hier â n...