Zwischen Revolution und Aufbruch
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Zwischen Revolution und Aufbruch

Pakistan, Tunesien, Ägypten und Myanmar 2012 Begegnungen, Impressionen, Fragen

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Zwischen Revolution und Aufbruch

Pakistan, Tunesien, Ägypten und Myanmar 2012 Begegnungen, Impressionen, Fragen

About this book

Pakistan, Tunesien, Ägypten und Myanmar - vier Länder, in denen Revolutionen und Umwälzungen stattgefunden haben bzw. noch im Gang sind. Klaus Beurle hat sie in der ersten Hälfte des Jahres 2012 mehrere Wochen lang besucht. In seinen zahlreichen Begegnungen ging es ihm vor allem um die Menschen dieser Länder in ihrem Alltag, aber auch um die Rolle der Regierenden, des Militärs und der Wirtschaftseliten. Sein Schwerpunkt lag jedoch auf der Rolle und Bedeutung der Religionen: Sind diese im gegenwärtigen Umbruchprozess primär hinderlich oder richtungsbestimmend? Wie prägen sie den Alltag der Menschen und deren Lebenseinstellungen? Wie steht es um die Beziehungen der Anhänger verschiedener Religionen untereinander? Die Tagebuchaufzeichnungen und Reflexionen geben einenlebendigen Einblick in Gesellschaften, die repräsentativ sind auch für andere Länder zwischen unaufhaltsamen Transformationsprozessen und grundlegender Orientierungssuche.

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Information

Publisher
Echter
Year
2012
Print ISBN
9783429035747
eBook ISBN
9783429060855
Edition
1
Topic
Storia

2012: Ägypten am Scheideweg

Ägyptische Impressionen in der Karwoche und Osterzeit 24. 3.–9. 4. 2012

Ägypten

Staatsform: Präsidialrepublik
Hauptstadt: Kairo
Bevölkerung: 81,5 Mio. Einwohner (2012)
Sprachen: Ägyptisch-Arabisch, Neuarabisch, Nubisch, Siwi (Berber), Domari; Amtssprache: Arabisch; Fremdsprachen: Französisch, Englisch
Religionen: etwa 89% Muslime (Sunniten), etwa 10% Christen: mehrheitlich Kopten, wenige Orthodoxe, Katholiken, Protestanten
Kulturen: pharaonische, nubische, graeco-romanische, christliche und islamische Kultur
Nationalfeiertag: 28. Februar (1922 formell unabhängiges Königreich Ägypten)
Revolution: 25. Januar 2011, 11. Februar 2011: Rücktritt Mubaraks

Henri Boulad – ein Phänomen!

Sonntag, 25. März
Folgende Namen hatte ich mir aufgeschrieben – diese Personen will ich unbedingt treffen: den Jesuiten Henri Boulad, die Kleinen Schwestern und die Kleinen Brüder Jesu und Nuntius Michael Fitzgerald. Ich erhoffe mir von diesen Gesprächen einen Einblick zu bekommen in das heutige Ägypten und in das, was die Menschen heute bewegt.
Diese Namen gebe ich gleich beim ersten Frühstück Sr. Regina, „Außenministerin“ der Borromäerinnen genannt. Ihre Tatkraft war von meinen Vorgängern bereits gepriesen worden. „Man muss ihr nur sagen, was man will. Dann macht sie es möglich.“ Sr. Regina hängt sich ans Telefon. Ein paar Minuten später ruft sie mich: „Auf, Fr. Klaus! Boulad ist gerade in Kairo. Den kriegt man nur schwer, er ist immer beschäftigt und lebt sonst ja in Alexandrien. Gehen Sie jetzt gleich zu den Jesuiten. Er wartet dort auf Sie. Unser Chauffeur bringt Sie zu den Jesuiten.“
Ich war gleichermaßen von der Effizienz der Ordensschwester und von der spontanen Zusage des reichlich beschäftigten Jesuiten beeindruckt. Boulad kannte mich ja gar nicht richtig. Eine knappe Stunde fährt mich Fawzli mit dem Schwesternauto durch die riesige Stadt. Ich registriere den Sandstaub in der Luft, die Eselskarren und die Limousinen dazwischen. Bei den Jesuiten angekommen, staune ich: ein Riesenkomplex mit mehreren grau-braunen Gebäuden. Das größte Gebäude in der Altstadt von Kairo ist das Jesuiten-Gymnasium Collège de la Sainte-Famille. Hier sind, wie man mir später sagt, einige der Großen in Politik und Gesellschaft auf das Gymnasium gegangen. Ich werde von drei Personen vor der Rezeption formell begrüßt. Es gehen Leute aus und ein, Jung und Alt, obwohl es Sonntag ist und kein Unterricht gegeben wird. Schon der erste Eindruck von der Struktur und Belebtheit des Gymnasiums lässt erkennen: Die Christen leben nicht am Rand der Gesellschaft. Sie sind gut in die Gesellschaft integriert.
Henri Boulad ist ein Phänomen. Ich war ihm bisher nur einmal im Haus am Dom in Frankfurt begegnet. Boulad wurde 1931 in Alexandrien geboren, ist syrisch-libanesischer Abstammung, absolvierte umfangreiche Theologie- und Psychologie-Studien in Beirut, Paris und Chicago, war danach jahrelang an der Spitze von Caritas Ägypten und Caritas Nordafrika sowie von Caritas International; der Konfession nach ist er griechisch-katholisch, dem Ritus nach byzantinisch. Henri Boulad, der immer unterwegs ist und es liebt, sich anderen mitzuteilen und auf sie zu hören, wurde durch seine Gespräche, Vorträge und Exerzitien weltweit bekannt, vor allem in Frankreich und Österreich durch Hidda Westenbergers Übersetzungen und Veröffentlichungen seiner zahlreichen Vorträge und Gesprächsaufzeichnungen. Er gilt als Mystiker, als prophetischer Geist, der die Zeichen der Zeit im Sinn des Evangeliums auf Höhe des Vatikanischen Konzils deutet.
Das spontane, zweistündige Gespräch mit Henri Boulad war intensiv. Beeindruckend fand ich sein profundes Wissen, seine klare Positionierung als Christ und Priester, seine freundschaftlichen Beziehungen zu unzähligen Muslimen, sein Dialogverständnis und nicht zuletzt sein festes Vertrauen in die Vorsehung Gottes, die er hinter allen Ereignissen am Werk sieht. Ich habe unser Gespräch mitgeschrieben und es am Ende des Kapitels wiedergegeben unter der Überschrift: Ägypten nach der Revolution: „Ich bin hoffnungsvoll“ (s.u. S. 87–95).

Kairo – schockierende Ersteindrücke

Montag, 26. März
Die ersten Eindrücke sind umwerfend. Ersteindrücke in einer fremden Megastadt: Großspurige Straßen und Autostaus, neueste Modelle und Klapperkisten, Taxis überall. Moscheen, auch Kirchen, imposante historische und religiöse Bauwerke fallen mir ins Auge. Geschichtsepochen tun sich vor mir auf. Ich sehe keine Slums, wie ich sie von Mumbai (Bombay) oder Kolkata (Kalkutta) her kenne. Ich sehe übervölkerte Stadtteile, an die sich hypermoderne Geschäftsstraßen und schicke, großräumig angelegte Stadtviertel anreihen. Wenn mein Fahrer die Umgehungsstraßen verlässt, stoßen wir auf Eselskarren und Pferdegespanne, die neben Mercedes und BMWs dahertrotten. Eine mit keiner anderen Stadt vergleichbare Stadt – Kairo lebt extrem zwischen Antike und Moderne. Altes und Neues stehen aufeinander und eng nebeneinander, wie auch stille Armut und protzender Reichtum sich berühren.
Etwa 16 Millionen Menschen leben in dieser Stadt. Jeder Stadtteil ist eine Stadt für sich. Ich wohne bei den Borromäerinnen in Ma’adi im Süden. Allein in diesem Stadtteil wohnen etwa zwei Millionen Menschen. Ich gehe spazieren und finde fast nicht mehr in den Konvent der Schwestern zurück, so vertrackt und verschachtelt sind die Straßen. Sie hatten mich vor dem Straßengewirr Ma’adis gewarnt, in dem sich schon mancher ausländische Priester verlaufen hat. Straßenbezeichnungen finde ich nirgends, Smog liegt über der ganzen Stadt. Die Sonne ist nur in einem fahlen Licht zu erkennen.
Auch nach mehreren Tagen fühle ich mich noch fremd und unsicher in Kairo. Ich kann mich schlecht durchfragen, weil ich kein Arabisch kann. Die Beschriftungen sind auf Arabisch, weniger Einheimische als gedacht sprechen Englisch. Ich setze mich in ein Straßencafé mitten auf dem Gehweg, um eine Tasse Tee mitten unter Ägyptern zu trinken. Die Wasserpfeifen rauche ich nicht mit ihnen. Beim Teetrinken Seite an Seite mit ihnen interessiert sich niemand für mich, den einzigen Ausländer unter ihnen. Aber es nimmt auch niemand Anstoß an mir. Keine finsteren Seitenblicke. Man ist einfach da, Frauen ausgeschlossen – hier im traditionellen Straßencafé, während es in Restaurants und Cafés in modernen Stadtvierteln anders ist: Dort sitzen Frauen und Männer an einem Tisch. Hier im Straßencafé genieße ich es, den ägyptischen Männern, jungen und alten, zuzuhören, ohne etwas zu verstehen. Sie reden in dezentem Ton miteinander, nicht laut oder angeberisch. Besonders entspannend finde ich es, denen zuzuschauen, die ihre Wasserpfeife still und allein vor sich hin rauchen und dabei in den Himmel oder auch auf den Boden schauen. Ich gehe jeden Tag in dasselbe Café, ich mag diese Atmosphäre. An der Beziehung zwischen den Ägyptern und mir ändert sich nichts, abgesehen davon, dass der jugendliche „Teekellner“ in einfacher, aber moderner Sportkleidung mich inzwischen kennt und mich mit sanftem Lächeln begrüßt, wenn ich ankomme. Nach drei Tagen mache ich es mir noch gemütlicher, indem ich mir täglich zum Tee ein Croissant vom Bäcker auf der anderen Straßenseite erlaube, das besonders gut schmeckt, weil der Bäcker es erst einige Minuten zuvor aus seinem offenen Ofen herausgeholt hat. Außer mir kaufen bei ihm fast nur Frauen ein. Man tritt sich fast auf die Füße, so voll ist die Frischofenbäckerei, und überall liegt wohlduftende Backware herum. Auf der anderen Straßenseite stößt sich niemand an meinem Croissant zum Tee, obwohl keiner der gut 40 Ägypter zu seinem Tee etwas isst.
Absurd erscheinen mir bei der Fahrt zu meinem ersten Gesprächstermin mit Henri Boulad die vielen noch unbewohnten Hochhäuser, die auf engstem Raum nebeneinander gebaut wurden. Wer soll in diese Wohnungen einziehen oder sich darin gar wohlfühlen? Welche Stadtplanung lässt solche Wohnbaustrukturen zu? Unheimlich erscheint mir beim Vorbeifahren das riesige Gefängnisgebäude, in dem Hosni Mubarak auf seinen Prozess wartet. Und verheerend empfinde ich die Umweltverschmutzung. Alles Denkbare wird an den Straßenrand und in Abwasserkanäle geworfen. Abfallberge häufen sich hier und dort. Kann man neben offenen Müllhalden und allgegenwärtigem Abfall am Straßenrand überhaupt leben, überleben? In der Megastadt Kairo setzen mir verschiedene extreme Erfahrungen spürbar zu. Könnte ich als Ausländer in dieser Stadt leben und mich wohlfühlen? Ist das große kulturelle, religiöse und geistige Erbe Kairos überhaupt noch da? Keine Großstadt hat mich anfangs derart schockiert wie Kairo. Auf mich allein gestellt, wäre ich auf verlorenem Posten gewesen.

Die Borromäerinnen und die Deutsche Schule

Dienstag, 27. März
Ich bin nicht als Tourist nach Kairo gekommen. Die Borromäerinnen (Mutterhaus in Schmallenbach) hatten mich eingeladen, die Kar- und Osterliturgie mit ihnen und ihrer Gemeinde zu feiern. Ich will vor diesem Hintergrund sehen, erspüren und aus Gesprächen heraushören, wie Ägypter und Ägypterinnen ihre Situation heute, ein gutes Jahr nach der Revolution ansehen und verstehen, wie sie sich die Zukunft vorstellen und gestalten wollen …
Die Deutsche Schule der Borromäerinnen (DSB) im Zentrum der Stadt, direkt am Tahrir-Platz, und der in Ma’adi im Süden der Stadt gelegene Kindergarten derselben Kongregation sind angesehene, stadtbekannte Institutionen. Beide Einrichtungen sind vor etwa 100 Jahren für ägyptische Mädchen geschaffen worden, die die deutsche Kultur kennenlernen wollen und die in der deutschen Sprache unterrichtet werden. „Die Idee oder Regel, dass die ägyptischen Schwestern auch untereinander nur Deutsch sprechen dürfen, ist ein wenig befremdend“, merkte der römische Nuntius dazu an. Die DSB-Busse, die die Mädchen von weit entfernten Stadtteilen zusammenführen, sind im Straßengewimmel nicht zu übersehen. Beide Konvente haben je noch eine deutsche Schwester in ihrer Kommunität, die – wie ich feststelle – die Fäden noch ein wenig zusammenhält. Die anderen 13 Schwestern sind Ägypterinnen, sie sprechen alle fließend Deutsch. Sie sind aber mit der ägyptischen Realität bestens vertraut – einmal weil sie Ägypterinnen sind und zum andern weil sie täglich mit ägyptischen Kindern und Schülerinnen zusammenkommen und auch deren Eltern bestens kennen, die mehrheitlich muslimisch oder koptisch-christlich sind.
„Unsere Beziehungen zu den Muslimen sind sehr gut. Es gibt in der Zusammenarbeit mit ihnen überhaupt keine Probleme. Die religiösen Unterschiede kennen Christinnen und Musliminnen mehr oder weniger, aber menschlich trennt uns nichts. Die Musliminnen, auch ihre Männer, respektieren uns Ordensschwestern sogar mehr als unsere Christen. Für die Christen ist es selbstverständlich, dass wir für sie da sind“, sagt Sr. Mathilde, die vor zehn Jahren aus Jerusalem nach Kairo versetzt wurde. Die Leiterin des Kindergartens, Sr. Regina, kann ihre Besorgnis über die jüngste Entwicklung des Landes allerdings nicht unterdrücken: „Seit der Revolution ist alles schlechter geworden. Früher war wirklich Ordnung und Disziplin im Land, es gab keine Sicherheitsprobleme. Jetzt steigt die Kriminalität an und viele meinen, sich aufgrund der letzten Ereignisse in den Vordergrund schieben zu können.“ Von der Oberschicht aus gesehen, die sich mit dem Mubarak-System arrangiert hatte und von den Sicherheiten und Vorteilen der Elite profitierte, ist dies sicherlich ein nicht zu übersehender Gesichtspunkt. Doch die ägyptische Wirklichkeit nach der Revolution von Anfang 2011 stellt sich, trotz aller heutigen unleugbaren Risiken und Unsicherheiten, aus Sicht der Bevölkerung, die unter den inzwischen verjagten Mubarak-System gelitten hat, positiv dar.

Wie wird es mit Ägypten weitergehen?

Montag, 2. und Dienstag, 3. April 2012
Zu Gast bei den Kleinen Schwestern Jesu in einem Handwerkerviertel in der Nähe des Hauptbahnhofs, anderntags bei den Kleinen Brüdern Jesu am äußersten Rand der Stadt. Gut eineinhalb Stunden Autofahrt sind die beiden kleinen Gemeinschaften voneinander entfernt. Noch zwei andere Fraternitäten gibt es in Kairo, die ich aus Zeitgründen nicht besuchen kann. Alle leben mitten unter einfachen, meist armen Menschen. Ihre „missionarische Priorität“ liegt in alltäglichen Begegnungen in der Nachbarschaft oder am Arbeitsplatz und in Beziehungen oder Freundschaften, die sich daraus ergeben. Sie präsentieren auf diese Weise eine Kirche ohne Mauern, ohne Eingrenzung, ohne feste Strukturen. Institutionelle Sicherheit und strukturelle Schutzmauern suchen sie nicht. Der verborgene, alltägliche Jesus von Nazareth ist ihr Leitbild. Das will etwas heißen in Kairo, wo Sicherheit und Zugehörigkeit zu einer Tradition lebensnotwendig erscheinen!
„Wie kommt ihr damit zu Recht, als Christinnen, als christliche Ordensfrauen mitten unter Muslimen in alltäglicher Berührungsnähe zu leben?“ frage ich die Kleinen Schwestern. „Der Alltag ist oft langweilig und mühselig, doch gibt es immer wieder kleine Überraschungen, die den Alltag würzen – ein Gespräch auf der Straße, eine Begegnung im Hausflur, eine schöne Geste eines Händlers auf dem Wochenmarkt, freundschaftliche, solidarische Gespräche am Arbeitsplatz. Dadurch wird es uns nie langweilig. Schwierigkeiten mit unseren Nachbarn haben wir noch nie gehabt. Und wir leben schon über 30 Jahre in diesem Stadtteil“, sagt Kleine Schwester Anne.
Michel, Kleiner Bruder aus Frankreich, lebt seit 40 Jahren in Kairo und hat häufig erfahren, dass Ägypter ihr Privatleben generell nach außen abschirmen und nicht preisgeben wollen, auch untereinander, nicht nur Ausländern gegenüber. „Man hat seine Freunde, aber den Nachbarn lässt man in Ruhe, vor allem, wenn es um Fragen der Religion und Politik geht. Dass wir als Christen mitten unter ihnen leben, stört unsere Nachbarn überhaupt nicht. Wir wissen beispielsweise, dass der Nachbar unter uns Salafist ist und dass unsere Nachbarn nebenan zu den Muslimbrüdern gehören und die Nachbarn rechts über uns liberale Muslime sind, während unsere Nachbarin links über uns zur Oberschicht von Kairo gehört und eine Vorliebe für alles Französische hat. Aber viel mehr wissen wir voneinander nicht, weil man über persönliche Dinge nicht miteinander redet. Auch unsere muslimischen Nachbarn wissen vermutlich nichts oder ganz wenig voneinander. Jedenfalls sehen wir nie, dass sich Hausbewohner miteinander unterhalten.“
Während unseres Gesprächs wird Michel per Handy angerufen. In fließendem Arabisch und mit warmer Stimme führt er eine Weile lang ein engagiertes Gespräch. Danach erklärt er mir: „Ich sprach gerade mit einem jungen Ägypter, einem Künstler, der in einem Dorf am Nil lebt. In seinem Dorf hatte der Kleine Bruder Jean, der vor fünf Jahren gestorben ist, ein Atelier zur Ausbildung junger Ägypter in Malerei, Töpferei und Keramik aufgebaut. Die jungen Künstler, die das Atelier übernommen haben, sind uns bis heute eng verbunden.“ Danach zeigt er mir auf dem Laptop eindrucksvolle Dias des Ateliers. Es liegt in einer dörflichen Idylle. Michel, der in der Fraternität in Kairo vorwiegend einen kranken algerischen Bruder pflegt, ist eine Art Gästebruder für andere Kleine Brüder auf der Durchreise oder wenn mehrere Kleine Brüder aus der Region zu einem Treffen zusammenkommen. Dafür liegt Kairo sehr günstig. Die Fraternitäten sollten als Zeichen der Universalität der Kirche international „gemischt“ sein. Doch nicht überall ist möglich, was in Ägypten möglich ist: dass ägyptische und ausländische Kleine Brüder und Schwestern miteinander leben, ohne vom Geheimdienst belästigt zu werden.
Die Frage, wie es nach der Revolution mit Ägypten weitergehen wird, kommt in jedem unserer Gespräche vor. „Es ist alles offen, man wird sehen, wie es weitergeht“, sagt Samua, die junge ägyptische Kleine Schwester. „Doch es ist schon viel Wertvolles bisher erreicht worden. Wenn ich in der Metro zur Arbeit fahre, diskutieren die Leute neben mir offen und angstfrei politische und religiöse Fragen. Manche hören Koranrezitationen vom Handy, andere diskutieren über einen Zeitungsartikel, andere beklagen sich über das Parlament. Die Menschen in unserem Land sagen jetzt frei und offen, was sie denken und wovon sie überzeugt sind. Das war bisher überhaupt nicht möglich. Ich hoffe fest, dass alles gut weitergehen wird.“

Al-Azhar Universität – Garant eines säkularen Ägyptens

Michel Cuypers, Kleiner Bruder aus Flandern, Namensvetter seines oben erwähnten französischen Mitbruders, arbeitet bei den Dominikanern, die sich bereits seit langem im christlich-muslimischen Dialog engagieren. Einer der bedeutendsten ägyptischen Dominikaner war George Anawati. Dessen Denken hatte Einfluss auf das Vatikanische Konzil und trug zur Öffnung der katholischen Kirche gegenüber den Muslimen bei. Nach ihm wurde eine von dem deutschen Weißen Vater Hans Vöcking gegründete Stiftung benannt, die heute der Verständigung zwischen Muslimen und Christen dient. In derselben Richtung forscht heute auch Michel Cuypers. Er hat im Jahr 2009 ein hochwissenschaftliches Buch zur Koran-Exegese unter dem Titel „Le Festin. Une lecture de la sourate al-Maida“ (Das Fest. Eine Lektüre der Sourette al-Maida) veröffentlicht, das neue Wege zum Verständnis...

Table of contents

  1. Cover
  2. Titel
  3. Impressum
  4. Inhalt
  5. Tagebuchnotizen wozu?
  6. Pakistan – Im Dunkeln keimt Hoffnung
  7. Tunesien – nach der Revolution
  8. 2012: Ägypten am Scheideweg
  9. Myanmar – ein Volk atmet auf
  10. Resümee