1. Erich Przywara â der Denker und seine Welt1
Die Welt, in der Erich Przywara lebte, wirkte und dachte, war eine Welt der BrĂŒche und GegensĂ€tze. Der Grundimpetus von Przywaras Denken ist die Suche nach dem Einen, in dem das VielfĂ€ltige und WidersprĂŒchliche begrĂŒndet ist. Dieser Einheitsgrund ist das rechte VerhĂ€ltnis, in dem alles zueinander steht. Da Erich Przywaras philosophisch-theologisches Werk und seine Existenz âwie kaum bei einem zweiten Theologenâ1 seiner Epoche zusammengehören, ist auch seine BeschĂ€ftigung mit dem JĂŒdischen und dem christlich-jĂŒdischen VerhĂ€ltnis ohne die enge Verschlingung mit seiner Zeit und Umwelt, wie auch ohne Przywaras eigenwilliger Persönlichkeit, nicht zu verstehen. Die symbolischen Orte, die fĂŒr Erich Przywaras Welt und seine eigene existenzielle Verortung stehen, sowie die Koordinaten seines Denkens seien nun skizziert.
1.1 Welt der BrĂŒche und GegensĂ€tze
1.1.1 GegensÀtzliche Geburtserde
Dem oberschlesischen Industriebezirk, in dem âalle GegensĂ€tze sich schnittenâ2, verdankte Erich Przywara seine erste und damit fĂŒr die weitere Entwicklung grundlegende Formung. Am 12. Oktober 1889 in Kattowitz geboren, wurde Przywara von Kindesbeinen an mit einer Stadt konfrontiert, die symptomatisch fĂŒr die GegensĂ€tze und WidersprĂŒche seiner Epoche stehen kann. Im Zuge der rasanten Industrialisierung Oberschlesiens in der zweiten HĂ€lfte des 19. Jahrhunderts stieg Kattowitz binnen weniger Jahrzehnte vom Dorf zum Zentrum des oberschlesischen Industriebezirks auf. Es war keine organisch gewachsene Einheit, sondern eine im Geist des Positivismus kĂŒnstlich angelegte Stadt. âEs war darum eigentlich nicht âErdeâ, sondern Kohlen-Halden-Bodenâ, auf dem ein kalt nĂŒchterner âRealismus von Grube, Fabrik, Handelskontorâ 3 herrschten. Den Geist dieser Entwicklung bekam Erich Przywara aus nĂ€chster NĂ€he zu spĂŒren, da der Alltag in seinem Elternhaus dem GeschĂ€ft des Vaters, eines begabten und leidenschaftlichen Kaufmanns, gĂ€nzlich untergeordnet4 und somit durch âdas rechnerisch NĂŒchterne der AtmosphĂ€re von Kattowitzâ5 zutiefst geprĂ€gt wurde.
Umgeben wurde diese StĂ€tte eines entzauberten Realismus und harter Arbeitsbedingungen von tiefen, vom groĂen schlesischen Romantiker Joseph von Eichendorff besungenen, WĂ€ldern, in derer unendlichen Weite Przywara aufatmen und eine ganz andere Welt erleben konnte: âUnendlichkeit, Wildnis, Zauber, Nachtâ6. Das ist also der erste Gegensatz, dem Przywara ins Gesicht schaut: âSo stark das AbgrĂŒndig-NĂ€chtige echter Romantik im Oberschlesien der WĂ€lder lebt, ebenso stark wirkt ein schroffer rationalistisch nĂŒchterner Technizismus im Oberschlesien der HĂŒtten und Grubenâ7. In Przywaras Welt stehen sich die GegensĂ€tze in ihrer reinen Form gegenĂŒber und es fehlt zwischen ihnen an einer vermittelnden und abmildernden Instanz.
Es ist eine unruhige Welt. Der rasante Fortschritt machte das bis hinein ins 19. Jahrhundert industriell zurĂŒck gebliebene Deutschland binnen einiger Jahrzehnte zu einer der fĂŒhrenden kapitalistischen Weltwirtschaften. Wie G. Aly beschreibt, verlief dieser Prozess jedoch âin immer rasanteren, den meisten Deutschen zu harten, zu schnellen Rhythmenâ8, was sich in sozialen, tief in das Bevölkerungsgewebe und kollektive Bewusstsein reichenden Verunsicherungen und Spannungen auswirkte. Die ModernisierungsschĂŒbe ĂŒberschlugen sich mit ökonomischen und politischen Krisen, denen sich viele Menschen wehrlos ausgeliefert fĂŒhlten.
Przywara ist Kind seiner Zeit, deren GrundgefĂŒhl im Existenzialismus ihren Ausdruck fand. Alles ist im Fluss, der Mensch bebt von Unruhe. Hoffnung und Angst, Fortschrittsenthusiasmus und Resignation geben sich die Klinke. Das Sein ĂŒberhaupt wird durch seine NichtidentitĂ€t, nicht durch Seinsgewissheit, definiert. Die beruhigten, statischen Strukturen des anthropozentrischen Idealismus entlarvten sich spĂ€testens im Zuge des I. Weltkriegs als nicht tragfĂ€hig. Die Unruhe ist das Welterlebnis, von der her Przywara das Ganze betrachtet. Er nimmt sie ernst und diskreditiert sie nicht, als ob sie nur eine Art Störung wĂ€re. Die Unruhe ist bedrohlich, aber sie offenbart etwas Wesentliches.
Johann Wolfgang Goethe, der Schlesien 1790 bereiste, nannte es ein âzehnfach interessante[s] Landâ und âBrĂŒckenlandschaftâ zwischen West- und Osteuropa9. Przywaras Familienhaus illustriert diese Begegnung und das Miteinander, da sein Vater aus einer polnischen Bauernfamilie, seine Mutter hingegen aus einer deutschen Beamtenfamilie aus NeiĂe stammte. Der Oberschlesier, schreibt Przywara, âspĂŒrt immer gleichzeitig die Gegenseite im eigenen Blutâ10, was ihn vor Einseitigkeit hĂŒtet, und zur âBrĂŒckeâ werden lĂ€sst, vorausgesetzt âer erkennt und anerkennt seine Aufgabeâ11. Die Suche nach der Geisteseinheit zwischen Ost und West begleitet ihn lebenslang als die Herausforderung der Gegenwart schlechthin und wird ihm zur Chiffre der Einheit vor allem im Kontext seiner Begegnung mit dem Judentum.
Auch hier handelt es sich aber nicht um ein harmonisches Miteinander der Ethnien und Kulturen, sondern um einen angespannten Gegensatz. Als Przywara in Kattowitz aufwĂ€chst, liegt die Stadt in der NĂ€he des âDreikaiserecksâ, zwischen Deutschland, Ăsterreich-Ungarn und RuĂland. Die drei aneinandergrenzenden Kaiserreiche schlieĂen sich auf dem Wiener Kongress in der âHeiligen Allianzâ als Garanten âeines einzigen Abendlandesâ zusammen, um âhierdurch sowohl die Gefahr aus Asien wie die Gefahr aus dem Westen bannen zu könnenâ12. Diese politische Ordnung auf der Basis monarchischer LegalitĂ€t hat Mitteleuropa fĂŒr ca. 100 Jahre relativen Frieden beschert, was jedoch auf Kosten national-staatlicher und demokratischer Bestrebungen erfolgte. Nun brechen die nationalen und ideologischen GegensĂ€tze umso heftiger auf.
Wenige Jahre danach, als Przywara seine Heimatstadt verlassen hat, zerbricht diese Allianz endgĂŒltig. Nach dem I. Weltkrieg wurde Oberschlesien geteilt und Kattowitz dem wiedergegrĂŒndeten polnischen Staat zugeschlagen. So traten auch viele nationale Anfeindungen zu Tage. In dieser Periode besuchte Przywara seine Heimatstadt, um 1920 seine Primizmesse zu feiern und einen Vortrag fĂŒr den dortigen MĂ€nnerverein zu halten. In einem handschriftlich gefertigten Verzeichnis aller seiner VortrĂ€ge bis 1938 steht der am 29. November 1920 geplante Vortrag ĂŒber âDie katholische Geistesbewegung in Deutschland seit Beginn des Weltkriegesâ zu Beginn der langen Liste. Daneben wird angemerkt: ânicht gehalten, da der Saal abbrannte (Brandstiftung polnischer Insurgenten)â13. Dieser Einstieg in die VortragstĂ€tigkeit in Przywaras Heimatstadt mag symbolisch gesehen werden: in der Zerrissenheit zwischen den benachbarten Völkern, im brodelnden Chaos nach dem Zusammenbruch der alten Ordnung, im Trauma des verlorenen Krieges.
Auch Ereignisse um Kattowitz in den drauffolgenden Jahren sind bezeichnend fĂŒr die Welt, in der Przywara lebte. Unweit von seiner Heimatstadt wurde mit dem fingierten Ăberfall auf den Sender Gleiwitz der Paukenschlag fĂŒr den Ausbruch des II. Weltkrieges gegeben. Nach dem Krieg blieb Kattowitz hinter dem Eisernen Vorhang, um 1953â56 sogar StalinogrĂłd zu heiĂen. Ca. 30 km von Kattowitz entfernt liegt noch eine andere Stadt, die wie keine andere fĂŒr das Dunkle des 20. Jahrhunderts steht: Auschwitz.
Diese Erde, die Przywara in seinen Kindes- und Jugendjahren geformt hatte, versank im Chaos des Weltgeschehens. Mit ihr versank aber auch ein weltanschauliches, philosophisches und politisch-gesellschaftliches Projekt. Der I. Weltkrieg zeigte, dass der âKohlen-Halden-Bodenâ am Dreikaisereck des ausgehenden 19. Jahrhunderts nur eine dĂŒnne Erdkruste der Technik und der Politik war, unter der die âversöhnten GegensĂ€tze ein wahrhaft chthonisches Chaos blieben, das als sein Symbol Rauch und Feuer und Aschenstaub der Gruben- und HĂŒttenlandschaft emportriebâ14. Mit der Weimarer Zeit beginnt das Ringen um Strukturen in politischen und wirtschaftlichen Turbulenzen, um letztendlich in die nĂ€chste Katastrophe zu mĂŒnden. FĂŒr Przywara ist Oberschlesien ein symbolischer Zugang zur Welt, wie sie wirklich ist. Ăber das Erlebnis des I. Weltkrieges schreibt er:
âDas aber ist das eigentliche fruchtbare Erlebnis der Kriegsjahre, daĂ diese vergötterte Welt auseinanderflog in Fetzen, daĂ diese ganze Menschheit, in die man Gott verengt und vermenschlicht hatte, sich zeigte als ein Raubgesindel, daĂ diese ganze Schöpfung sich zeigt als ein Vulkan. Das ganze Kriegserlebnis war letztlich: daĂ wir erwachten, und jenes Erlebnis von der Welt hatten, wie sie Augustinus uns zeichnet: diese Welt âistâ eigentlich gar nicht.â15.
Diese Welt gibt es nur als eine Spannungseinheit. Da wo Entzweiung herrscht, mĂŒssen die Bezogenheiten und VerhĂ€ltnisse neu durchdacht werden. Przywara scheint jede feste Form der Einheit von GegensĂ€tzen suspekt utopisch, trĂŒgerisch und somit letztendlich gefĂ€hrlich. Er warnt unablĂ€ssig vor oberflĂ€chlichen und starren Konstrukten einer Einheit der real existierenden GegensĂ€tze. Vielmehr will Przywara alle Konstrukte zerlegen und in das Chthonische der GegensĂ€tze hinabsteigen, um den Er...