Von Morgarten bis Marignano
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Von Morgarten bis Marignano

Was wir über die Entstehung der Eidgenossenschaft wissen

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Von Morgarten bis Marignano

Was wir über die Entstehung der Eidgenossenschaft wissen

About this book

Unser Bild des Mittelalters ist bis heute stark geprägt von der traditionellen Befreiungsgeschichte mit Tell, Rütlischwur und Burgenbruch sowie der Erbfeindschaft zu den Habsburgern. Die Geschichtsforschung hat in den letzten 50 Jahren diese Begriffe in ihrer Bedeutung hinterfragt, relativiert und neu eingeordnet. Sie hat Mythen von Geschichte getrennt und ihre je eigene Bedeutung herausgearbeitet.Der kurz gefasste Überblick zur Entstehung der Eidgenossenschaft fehlt aber. Nach seinem Aussenblick auf die Eidgenossenschaft über die habsburgische Geschichte der Schweiz (2008) breitet der Autor diesmal das aktuelle Wissen zur Entstehung der Eidgenossenschaft im Spätmittelalter von innen aus. Dies vor dem Hintergrund der traditionellen Erzählung. Referenz dabei sind die Schweizer Chroniken von Aegidius Tschudi und Johannes Stumpf aus der Mitte des 16.Jahrhunderts, die das traditionelle Bild der Schweizer Geschichte bis weit ins 20.Jahrhundert geprägt haben. Dabei entsteht nicht eine neue Erzählung, aber eine Übersicht über die entscheidenden Faktoren, die zur Bildung und Weiterentwicklung der Eidgenossenschaft geführt haben.

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Information

Year
2015
Print ISBN
9783039192335

Die Legende von der alten Freiheit – Mittelland und Alpenraum im frühen 13. Jahrhundert

1

In der Geschichtskonzeption von Aegidius Tschudi ist die alte Freiheit der drei Länder Uri, Schwyz und Unterwalden von zentraler Bedeutung. Sie sei nicht nur alt, sondern vor allem für alle drei Länder gleichwertig gewesen, bestätigt durch die staufischen Könige in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Tschudi beschreibt gleichzeitig eine geschichtete Gesellschaft, in der freie Landleute und Adlige, die «herren und edelknecht», gemeinsam die Täler regierten. Leibeigene Leute, zum Beispiel der Klöster, seien untergeordnet gewesen. Dies entspricht einer Gesellschaftsform, die Tschudi für seine eigene Zeit als richtig erachtete. Er selbst war Teil dieser regierenden «oberherren».
Die Konzeption der alten Freiheit – nicht der individuellen Freiheit, sondern der Freiheit von Zwischengewalten, das heisst von Adel oder Klöstern – ist nicht einfach Tschudis Konstruktion aus dem 16. Jahrhundert. Sie hat Wurzeln im frühen 14. Jahrhundert und kann direkt mit konkretem politischem Handeln der Länder in Verbindung gebracht werden.
Die Länder, insbesondere Unterwalden, das keine Privilegien des 13. Jahrhunderts vorweisen konnte, scheinen die unsichere Situation nach der Ermordung König Albrechts von Habsburg-Österreich 1308 und der Wahl des Luxemburgers Heinrich VII. zum König 1309, beziehungsweise der Doppelwahl des Habsburgers Friedrich des Schönen und Ludwigs des Bayern 1314, zu nutzen verstanden zu haben. Sie konnten insbesondere Ludwig den Bayern dazu bringen, ihnen gleichwertige Königsbriefe mit Bezugnahme auf das Schwyzer Reichsprivileg von 1240 auszustellen. Obwohl die Überlieferungsgeschichte dieser Dokumente äusserst wacklig ist – vielleicht sind einige davon erst in den 1320er-Jahren oder noch später nachhergestellt worden –, konnten sich Schwyz, Uri und Unterwalden Privilegien sichern, die sie in späteren Konflikten gegen die Habsburger einsetzten. Sie schufen sich damit eine gemeinsame, waldstättische Tradition.5 Auf die genauen Umstände der Entstehung dieser Privilegien wird weiter unten zurückzukommen sein. Vorab braucht es aber eine kurze Übersicht zur Geschichte des Raums, in dem die nachmalige Eidgenossenschaft entstanden ist.6

Der abgeschiedene Alpenraum

Der zentrale Alpenraum um den Gotthard war bis ins 12. Jahrhundert Peripherie. Die wichtigsten Alpenübergänge, die seit römischer Zeit begangen waren, lagen in den westlichen (Mont Cenis, Grosser St. Bernhard) oder östlichen Alpen (Brenner). Die Bündner Pässe Lukmanier und Septimer waren für den Übergang nach Italien und damit für die Reichspolitik von Bedeutung. Simplon und Gotthard waren sicher schon früh begangen, spielten aber für den Warenverkehr erst im Lauf des 13. Jahrhunderts eine Rolle. Das Mittelland zwischen Aare und Rhein lag am Schnittpunkt der alten Reichslandschaften Schwaben und Burgund. Das burgundische Königreich beidseits des Juras mit dem Aareraum und den Bistümern Genf, Lausanne und Sitten war seit dem frühen 11. Jahrhundert ins Heilige Römische Reich integriert. Dieser Raum wurde im 12. Jahrhundert von den schwäbischen Herzögen von Zähringen dominiert – Gründer der Städte Freiburg und Bern –, die auch im östlichen Mittelland eine starke Präsenz hatten. Im Osten gab es aber keine ähnliche Machtballung wie im Westen. Neben den Zähringern etablierten sich verschiedene Adelsdynastien wie die Grafen von Lenzburg, Kyburg und Habsburg, die Grafen von Rapperswil oder die Herren von Vaz und Sax-Misox. Im Rheintal und in Graubünden waren das Bistum von Chur und die Abtei Disentis von Bedeutung.
Für das zentrale Mittelland war die alte Reichspfalz Zürich wichtig, die bis zu deren Aussterben 1173 in den Händen der Grafen von Lenzburg war. Die Lenzburger besassen auch die Grafschaften im Aargau und Zürichgau, die bis in den Raum des Vierwaldstättersees reichten, zudem über die Zürcher Vogtei auch die Rechte des Fraumünsters im Tal Uri und die Reichsvogtei in den Südtälern Blenio und Leventina. Reichsvogtei bedeutete die stellvertretende Herrschaft des Königs, das Recht, für den König Steuern zu erheben oder Reichsdienste, zum Beispiel militärische Gefolgschaft, einzufordern. Vogtei bedeutete in diesem Sinn Oberherrschaft, aber nicht zwingend lokale Herrschaft vor Ort.
Zürich war sowohl topografisch wie herrschaftlich der Zugang zum zentralen Alpenraum. Die Reichsvogtei Zürich gelangte 1173 an die Herzöge von Zähringen, die damit ihre Macht ausbauen konnten. Kaiser Friedrich Barbarossa verlieh weitere Teile des Lenzburger Erbes an die Grafen von Kyburg, die im Thurgau eine starke Stellung besassen. Konkret erhielten sie den östlichen Teil des Zürichgaus, das rechte Zürichseeufer. Der westliche Teil des Zürichgaus am linken Ufer ging an die Habsburger, Grafen im oberen Elsass und Vögte des Klosters Murbach, mit Besitz im Raum Brugg und Bremgarten sowie Gründer und Vögte des Klosters Muri. Zu diesem Teil des Zürichgaus zählten Zug, Schwyz und Nidwalden. Die Habsburger konnten sich bald darauf auch als Grafen im Aargau etablieren. Zum Aargau zählten Luzern und Obwalden. Wie sich diese eher theoretischen Zuweisungen in der konkreten Ausübung von Herrschaft umsetzen liessen, wissen wir nicht. Die Inhaber der Vogtei waren für die Friedenssicherung verantwortlich und Gerichtsinstanz im Konfliktfall.
Das Aussterben der Herzöge von Zähringen im Jahr 1218 brachte die herrschaftliche Situation in Fluss. Grösste Profiteure waren die Grafen von Kyburg, die den zähringischen Besitz südlich des Rheins übernehmen konnten mit dem Schwerpunkt im Aareraum mit der Landgrafschaft Burgund und den Städten Freiburg, Burgdorf und Thun. Der staufische König Friedrich II. erhob Bern und Zürich zu Reichsstädten und unterstellte sie damit seiner direkten Herrschaft. Die adligen Stadtherren wurden damit ausgeschaltet. Bezeichnenderweise verschwindet die alte Reichsburg auf dem Lindenhof in Zürich im Lauf des 13. Jahrhunderts von der Bildfläche. Die Reichsvogtei in Uri scheint an die Habsburger gekommen zu sein. Die Entwicklung im Reich wird für die folgenden Jahrzehnte für den nachmals schweizerischen Raum von grösster Bedeutung sein.

Landesausbau über die Klöster

Auf der Ebene der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung spielten die Klöster eine zentrale Rolle. Sie trugen die Hauptlast des Landesausbaus im Mittelland und in den Tälern der Alpen. Landesausbau hiess Besiedlung und Urbarmachen beziehungsweise Nutzung von Grund und Boden. Die wichtigsten Klöster waren die alten Benediktinerabteien St. Gallen in der heutigen Ostschweiz, Disentis im Vorderrheintal mit Besitz in Urseren und weit in den Süden, das Fraumünster in Zürich mit grossem Besitz in Uri, Einsiedeln im Raum Schwyz und am oberen Zürichsee und bis nach Vorarlberg sowie die elsässische Abtei Murbach mit ihrer Propstei Luzern, zu der grosser Besitz im Aargau und in Ob- und Nidwalden gehörte. Weiter von Bedeutung waren die Klöster Muri (Freie Ämter, Gersau, Zugersee), Beromünster (Luzern, Obwalden), das 1120 gegründete Kloster Engelberg sowie weitere kleine Klöster wie zum Beispiel die 1262 erstmals erwähnte Zisterzienserinnenabtei von Steinen in Schwyz. Grosse Bedeutung erlangten die Schenkungen der Grafen von Rapperswil an das von ihnen 1227 gegründete Zisterzienserkloster Wettingen in Uri. Allerdings hatten alle diese Klöster grosse Besitzschwerpunkte im Mittelland, der Alpenraum stand für sie nicht im Zentrum. Für die politische Entwicklung von Bedeutung waren die Inhaber der Klostervogteien, so die Habsburger für Murbach-Luzern und Muri, die Rapperswiler für Einsiedeln und Wettingen. St. Gallen, das Fraumünster und Disentis waren sogenannte Reichsabteien, Engelberg konnte sich längerfristig vogtfrei halten.7
Über die konkrete Ausgestaltung des Landesausbaus der Klöster in den inneren Alpentälern wissen wir wenig Bescheid. Die Form der klassischen Grundherrschaft mit zentralen Fron- und Dinghöfen unter der Führung von Meiern oder Ammännern, wie wir sie aus dem Mittelland kennen, wird sich im Alpenraum nur teilweise durchgesetzt haben. Die Wirtschaftsweise unterschied sich vom Mittelland. Der Ackerbau war zwar präsent, aber von geringerer Bedeutung. Die sogenannte Verzelgung des Landes, das heisst die Einführung der Dreizelgen-Brachwirtschaft mit Sommerfeld, Winterfeld und Brachfeld wird sich allenfalls an den Rändern zum Mittelland etabliert haben. Den klimatischen Bedingungen angepasst, war der Ackerbau im Alpenraum in einer Feld-Gras-Wirtschaft organisiert, das heisst in einer weniger geregelten Wechselwirtschaft von Acker- und Grasland. Allerdings betrieb man Ackerbau in weit höheren Regionen als wir uns das heute vorstellen. Extensive Viehwirtschaft wird schon früh eine wichtige Rolle gespielt haben, rund um die Gewässer auch die Fischerei; die Abgabenstrukturen der Klöster, die wir aus frühen Grundbesitzverzeichnissen kennen, deuten darauf hin. Zu den Abgaben gehörten unter anderem Milchprodukte (Käse, Ziger), Kleinvieh (Schafe, Ziegen) und je nach Ort Fische. Hinweise auf Grossvieh sind in der Zeit um 1200 selten. Die persönliche Bindung des Einzelnen an den Grundherrn im Rahmen der klösterlichen Genossenschaft wird zumindest teilweise bestanden haben. Den Gotteshausleuten, wie die klösterlichen Genossen genannt wurden, waren Heiratsverbote ausserhalb der Genossenschaft und Erbschaftssteuern (Fall oder Ehrschatz) auferlegt. Gerichtlich gehörten sie dem Personenverband des Klosters (oder auch eines Adligen als Vogt) und nicht einem kommunalen Verband an. Wie dieses theoretische System der Grundherrschaft im konkreten Fall ausgestaltet war, wissen wir aber kaum. Zugehörigkeit zu einer klösterlichen Genossenschaft bedeutete nicht Rechtlosigkeit. So stammten die führenden Familien der inneren Orte in der Regel aus der Gruppe der klösterlichen Ammänner. Typisches Beispiel dafür sind die Gotteshausleute des Fraumünsters in Uri, die nur mehr lose Bindungen nach Zürich hatten. Mit dem Verkauf des Besitzes des Klosters Wettingen an das Land Uri im Jahr 1359 erhielten die Wettinger Gotteshausleute den gleichen Status wie jene des Fraumünsters, waren mit anderen Worten weitgehend frei von personalen Bindungen.

Eine schwache Präsenz des Adels

Die mittelalterliche Feudalgesellschaft, vereinfacht gesagt die Differenzierung zwischen abhängigen Bauern und adligen Herren, scheint im Alpenraum wenig ausgeprägt gewesen zu sein. Dies mag damit zusammenhängen, dass die intensivere Besiedlung des Raums relativ spät erfolgt und vor allem durch die Klöster vorangetrieben worden war. Wie schon beschrieben, ist innerhalb der klösterlichen Organisation eine Führungsgruppe entstanden, die durchaus Berührungspunkte zum Adel haben konnte. Ländliche Potentaten, klösterliche Ammänner und Adlige sind oft schwer auseinanderzuhalten. Sie standen meist in verwandtschaftlichen Verbindungen untereinander und zum Adel im Mittelland und gehörten im weiteren Sinn zum Dienst- oder Ministerialadel («Milites»), der sich im Lauf des 13. Jahrhunderts im Umfeld grosser geistlicher und weltlicher Herrschaften entwickelte.
Die Angehörigen des alten Adels, das heisst die «Nobiles», die Hoch- oder Edelfreien, die sich direkt aus der Königsgefolgschaft rekrutierten, waren im Alpenraum schwach vertreten. Im mittelländischen Vorland gehörten zum Beispiel die Freiherren von Regensberg oder die Herren von Eschenbach, Vögte des Klosters Interlaken, dazu. Die Freiherren von Sellenbüren, Gründer des Klosters Engelberg, waren wahrscheinlich ebenfalls Teil dieser Adelsgruppe. Eine grosse, schwer durchschaubare Gruppe waren die Grafen von Rapperswil, die vor allem in Uri und Schwyz eine starke Stellung hatten und mit Adelsgeschlechtern im Bündner Gebiet, etwa den Herren von Vaz, verbunden waren.8 Die Hunwil in Luzern und später in Ob- und Nidwalden gehörten vielleicht auch dazu. In Obwalden präsent waren die Herren von Wolhusen. In Uri erreichten die Herren von Attinghausen-Schweinsberg, mit verwandtschaftlichen Verbindungen ins Emmental und den Aareraum, in der Zeit um 1300 eine grosse Bedeutung.
Tschudi schreibt in seiner Schweizer Chronik, dass dies «herren und edelknecht […] selbs mittlantlüt und mittregierer» waren. Das heisst, der Adel war Teil der kommunalen Körperschaft. Damit wird er nicht unrecht gehabt haben. Sie gehörten zur Führungsgruppe, die zu Beginn des 14. Jahrhunderts bei der Konstituierung der Waldstätte eine bedeutende Rolle spielte, vor allem auch weil sie ein grosses Interesse daran hatte, den Frieden nach innen und damit auch ihren Besitz zu schützen.
Grundsätzlich ist aber davon auszugehen, dass der Alpenraum im Vergleich zum Mittelland oder anderen Reichslandschaften schwach feudalisiert war. Dies gilt nicht nur für die Innerschweiz, sondern für den Alpenbogen generell. Ein paralleles Beispiel sind die Südalpentäler in der französischen Dauphiné beidseits der heutigen französisch-italienischen Grenze, in der sich im Lauf des 13. und 14. Jahrhunderts mit den «Escartons de Briançon» ähnliche, kommunal verfasste Strukturen entwickelten. Die Landeshoheit verblieb aber mit dem Übergang der Dauphiné an Frankreich im Jahr 1349 beim französischen König.
Mit dem besseren Zugang zu den zentralen Alpenpässen und der wachsenden Bedeutung des Warenverkehrs von Nord nach Süd und umgekehrt geriet aber der Raum an Gotthard und Simplon verstärkt in den Fokus einerseits der Reichs- und Italienpolitik der Könige und ihrer Gefolgschaft, und wurde andererseits Teil des Wirtschaftsraums der den Handel dominierenden Städte, allen voran Mailand.

Die Pässe der Zentralalpen werden wichtig

Der Hildesheimer Bischof Gotthard, 1038 gestorben und 1113 heiliggesprochen, war Schutzpatron einer 1230 vom Mailänder Erzbischof geweihten Kapelle auf dem Monte Tremolo am Südhang des Gotthards. Er wurde zum Namensgeber des Passübergangs, der in den Jahrzehnten zuvor mit der Öffnung der Schöllenenschlucht besser zugänglich und damit für den Warenverkehr nutzbar geworden war. Auch die Kirche von Simplon ist 1235 dem heiligen Gotthard geweiht worden, dem Schutzpatron für Passkirchen. Die religiöse Versorgung der Passrouten deutet darauf hin, dass diese stark an Bedeutung zugenommen hatten. Hinweise zum Umfang des Warenverkehrs kennen wir erst aus der Zeit um 1300 von der savoyischen Zollstelle in Saint-Maurice und der habsburgischen in Luzern. Das Warenaufkommen am Gotthard scheint etwa doppelt so hoch wie am Simplon gewesen zu sein, war allerdings Schwankungen unterworfen. So haben zum Beispiel die nach dem Tod König Rudolfs von Habsburg im Sommer 1291 ausgebrochenen Konflikte den Verkehr am Gotthard deutlich beeinträchtigt und für eine starke Zunahme am Simplon und am Grossen St. Bernhard gesorgt.9 Die wachsende Bedeutung der Alpenpässe ist ohne die Rolle der Städte nicht zu verstehen. Dabei ist nicht nur die weit entwickelte Wirtschaftskraft der lombardischen Städte, besonders Mailands, zu betonen. Auch nördlich der Alpen entwickelte sich die Städtelandschaft seit dem ausgehenden 12. Jahrhundert rasant. Es ist wohl kein Zufall, wenn König Friedrich II. Bern und Zürich nach dem Aussterben der Zähringer 1218 zu Reichsstädten aufwertete. Die Impulse von Bevölkerungszunahme und wirtschaftlichem Wachstum im 12. und 13. Jahrhundert brachten im Raum zwischen Bodensee und Genfersee eine dichte Städtelandschaft hervor. Zu den alten, in spätrömischer Tradition stehenden Orten wie Genf, Lausanne, Sitten, Solothurn, Basel, Zürich, Konstanz und Chur, oft auch Bischofssitze, kamen Dutzende mehr oder weniger erfolgreiche Neugründungen hinzu. Grössere und kleinere Adelsgeschlechter versuchten damit, ihren Machtbereich zu konsolidieren und wirtschaftlich aufzuwerten. Die Zähringer Gründungen Freiburg und Bern sind frühe Beispiele dafür. Dabei ging es um regional ausgerichtete Wirtschaftszentren, wie die Kyburger Städte Winterthur oder Frauenfeld im Thurgau oder die Habsburger Städte Brugg oder Bremgarten im Aargau. Die Gründung von Liestal, Olten und Zofingen im späten 13. Jahrhundert durch die Grafen von Froburg ist hingegen nur vor dem Hintergrund der wachsenden Bedeutung der Strasse über den Hauenstein als Zugangsweg von Basel nach Luzern und zum Gotthard zu verstehen.
Nicht zu unterschätzen ist auch der verstärkte kulturelle Austausch dank dem besseren Zugang über Simplon und Gotthard nach dem Süden. Die adlige Gefolgschaft lernte auf den Italienzügen der staufischen Könige und in deren Auseinandersetzungen mit den lombardischen Städten die weit urbaner geprägte und wirtschaftlich weiter entwickelte Kultur Italiens kennen und wird diese auch zum Vorbild genommen haben. Baute der Adel noch in der Zeit um 1200 in grosser Zahl Burgen, konzentrierte er sich Ende des 13. Jahrhunderts weit stärker auf seine Städte, förderte sie und baute dort feste Wohnsitze. Im militärischen Gefolge des Adels zogen auch der Ritteradel und die ländlichen Führungsgruppen mit nach Italien. Die Schwyzer Landleute, die im Jahr 1240 vor Faenza von Kaiser Friedrich II. ein Reichsprivileg erhielten, werden nicht als ungeordneter Haufen nach Süden gezogen sein, sondern unter der Führung eines Adligen, vielleicht eines Grafen von Rapperswil oder gar zusammen mit Rudolf IV. von Habsburg. Und sie erwarteten eine Entschädigung. Von der Königsgefolgschaft zum Reichsprivileg und zum Solddienst war es ein kurzer Weg.
Die Bewohner des zentralen Alpenraums lebten zu Beginn des 13. Jahrhunderts nicht mehr in einem peripheren Raum, sondern standen in wachsendem Austausch mit dem mittelländischen Vorland und dem nunmehr besser zugänglichen Süden.

… und die alte Freiheit?

Die frühere Forschung hat versucht – von einem Freiheitsbegriff des 19. Jahrhunderts geprägt –, in der Innerschweiz möglichst viele, sogenannt freie Leute dingfest zu machen. Schon für Wilhelm Oechsli 1891 und dann vor allem für Karl Meyer 1927 war die Existenz von freien Leuten, die keinem Grundherrn, sondern nur dem Landesherrn beziehungsweise direkt dem König verantwortlich gewesen seien, eine Voraussetzung für die Bildung von kommunalen Organisationen, die sich direkt König und Reich verpflichtet gefühlt hätten.10 Sie argumentierten dabei unter anderem mit der Rodungsfreiheit. Adel und Klöster hätten als Entgelt für Rodung und Landesausbau diesen Gruppen individuelle Freiheit verliehen. Auch für Tschudi waren diese «frijen landtlüt» von zentraler Bedeutung. Sie seien in der Nachfolge der römischen Kolonisatoren schon immer da gewesen. Der Adel habe sie dann bedrängt und zu unterwerfen versucht.
Diese Argumentation wird durch die vorhandenen Quellen nicht gestützt. Es ist tatsächlich so, dass auch noch das berühmte Habsburger Urbar, das grosse Besitzverzeichnis aus dem frühen 14. Jahrhundert, sogenannt freie Vogtleute erwähnt. Diese gab es, mehr oder weniger zahlreich, auch im Mittelland. Sie standen aber, wenn sie nicht im Dienstadel aufsteigen konnten, im 13. und 14. Jahrhundert oft auf der Verliererseite. Ohne Zugehörigkeit zur sozialen Gruppe eines Klosters oder eines Adligen waren sie von der wirtschaftlichen Entwicklung abgehängt. Es gibt denn auch zahlreiche Beispiele dieser freien Vogtleute, die sich freiwillig in die Abhängigkeit eines Herrn begeben haben, um letztlich dort Karriere zu machen.
Was für das Mittelland gilt, wird auch für die Alpentäler nicht falsch gewesen sein. Wie oben beschrieben waren die späteren Waldstätte geprägt von grossen Gruppen von den Klöstern zugehörigen Gotteshausleuten. In Unterwalden und Uri wohl mehr, in Schwyz wahrscheinlich weniger. Aber: Die Zugehörigkeit zu diesen klösterlichen Genossenschaften war wahrscheinlich schon im 13. Jahrhundert schwach oder ist im Lauf der Zeit schwächer geworden. Für die Leute des Fraumünsters in Uri ist dies offensichtlich. Für die politische Entwicklung zu den kommunalen Organ...

Table of contents

  1. Cover
  2. Haupttitel
  3. Inhaltsverzeichnis
  4. Vorwort
  5. Prolog: Eine neue Verbindlichkeit - die Beschwörung der Bündnisse nach dem Alten Zürichkrieg
  6. 1 Die Legende von der alten Freiheit - Mittelland und Alpenraum im frühen 13. Jahrhundert
  7. 2 Königsdienst und Reichsfreiheit - die Waldstätte im 13. Jahrhundert
  8. 3 1291 - ein Wendepunkt?
  9. 4 Landleute und Täler - die Reichsvogtei Waldstätte 1308/09
  10. 5 «Hütet euch am Morgarten» - Könige, Adel, Klöster und Länder im Widerstreit
  11. 6 Ein Brudermord mit Folgen - Bern zwischen Habsburg, den Waldstätten und Savoyen
  12. 7 Ein Wechsel auf Zeit? Zürich zwischen den Waldstätten und Habsburg-Österreich
  13. 8 Viehzüchter und Händler als neue Herren - der Adel auf dem Rückzug
  14. 9 Eine Wende bei Sempach? Städte und Länder im Vorwärtsdrang
  15. 10 Chaos am Bodensee - die habsburgische Landesherrschaft in Auflösung
  16. 11 Untertanen statt Landleute - die ersten Gemeinen Herrschaften
  17. 12 Ein schwieriges Erbe bringt Streit - Zürich, Habsburg und Schwyz im Dreieck
  18. 13 Ein Friede auf ewig - die «Ewige Richtung» als Versuch eines definitiven Friedensschlusses
  19. 14 Viel Konfliktpotenzial im Innern - Stanser Verkommnis, Freiburg und Solothurn
  20. 15 Bereinigungen an Hoch- und Alpenrhein - Schwabenkrieg, Basel und Schaffhausen
  21. 16 Zwischen Marignano und der Reformation - Soldverträge als Aussenpolitik
  22. Epilog: Eine gemeinsame Geschichte - die Befreiungstradition im Spiegel der Geschichtsschreibung
  23. Nachwort
  24. Anhang
  25. Zeittafel
  26. Anmerkungen
  27. Ausgewählte Quellen und Literatur
  28. Orts- und Personenregister
  29. Der Autor
  30. Vom gleichen Autor
  31. Impressum