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Gotthardfantasien
Eine Blütenlese aus Wissenschaft und Literatur
- 256 pages
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About this book
Wiege der Eidgenossenschaft, militärisches Réduit, Transitort, technisches Experimentierfeld, Fiktionsmaschine: Der Gotthard setzt Fantasien frei, und zwar nicht nur im Jahr der Eröffnung des Basistunnels, sondern schon seit mehr als zwei Jahrhunderten. Experten aus Politik-, Geschichts-, Kultur- und Literaturwissenschaft sowie von Transtec Gotthard beleuchten die sich bis heute wandelnden Narrative. Dabei beschränken sie sich nicht auf eine Schweizer Nabelschau, sondern präsentieren auch überraschende europäische Perspektiven auf den Gotthard. Ergänzt werden die Beiträge durch literarische Texte von acht prominenten Schriftstellerinnen und Schriftstellern.
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Information
Der Schatten des Passheiligen
Das letzte Wort des heiligen Gotthard und was daraus wurde. Eine historische Miniatur
Pirmin Meier
Hildesheim, am 4. Mai 1038. Den befestigten, aber noch nicht geweihten Stiftsbau auf dem Zierenberg hat der Bischof Godehard zu seinem Golgatha erwählt. Es ist, mit der Kapelle des heiligen Mauritius daneben, seine persönliche Einsiedelei. Hier stirbt, umgeben von vier Jünglingen, der heilige Gotthard, wie er im oberdeutschen Raum genannt wird. «Unsere Füsse zu leiten auf dem Wege des Friedens», sollen gemäss seinem Biografen Wolfher seine letzten Worte gewesen sein. In die Nähe des Stifts St. Mauritius, einem Gruss des Wallis an Niedersachsen, kam später eine Hochburg der Produktion von Autoreifen zu stehen. Das Werk Continental AG schloss 2004. Der Begriff «Füsse» ist nach Art der Deutung von Propheten mehrdeutig auszulegen.
Ob der gebürtige Bayer Godehard, Rompilger und Gefolgsmann des Königs und Kaisers Heinrich II., je in die Nähe des nach ihm benannten Passes gelangt ist, bleibt ungesichert. Mit weiteren hohen Geistlichen des Umfeldes von Heinrich dürfte er aber am 14. Mai 1004 bei dessen Krönung zum König von Italien in Pavia zugegen gewesen sein. In diesem Fall feierte er, auf dem Heimweg, am 4. Juni, in Lugano mit seinem König das Pfingstfest. Dieser nannte ihn kurz danach urkundlich dilecti nobis Gothardi, sinngemäss «meinen geliebten Gotthard». Nach der feierlichen Pfingstmesse am Lago Ceresio traf der königliche Tross via Lukmanier Mitte Juni bei der Pfalz von Zürich ein. Mit Datum vom 17. Juni 1004 befahl der König, dessen Heer einen Monat zuvor in Pavia vor einem Massaker an der Bürgerschaft nicht zurückgeschreckt hatte, für das Herzogtum Schwaben einen Landfrieden. Mittels Urfehde wurde das Gaunergesindel um Zürich zum Verlassen des Landes aufgefordert. Der Haupt- und Staatsaktion wohnten die Äbte von Einsiedeln und St. Gallen bei, wohl auch die Äbtissin des Fraumünsters, der die Leibeigenen des Urserentals gehörten. Nicht ausgeschlossen ist, nebst dem beurkundeten Heribert, Erzbischof von Köln, die Anwesenheit von Godehard, damals noch Abt von Niederaltaich. Der Begriff «Friede» war im Mittelalter so mehrdeutig wie heute. Der gebotene Landfriede, auch Rechtsfriede, diente der Ruhe und Ordnung. Nicht zu verwechseln mit der mystischen Treuga Dei, dem Gottesfrieden. Ein solcher wurde im Münster von Konstanz am Gründonnerstag 1043 als «Ewiger Friede» ausgerufen; ein Begriff, den Kant ironisch gebrauchen sollte. Mit den realen Verhältnissen von damals, etwa den Ungarnkriegen, hatte der Gottesfriede nichts zu tun.
Der real mögliche Rechtsfriede wurde vernünftigerweise nie mit einem Idealzustand verwechselt. Klaus von Flüe bezeichnete ihn 1482 pfiffig als «das böseste Recht». Dass der heilige Gotthard, dessen Festtag am 5. Mai zufällig mit dem 1964 eingeführten Europatag zusammenfällt, wie später Klaus von Flüe als Mann des Friedens zu gelten hat, verdient Aufmerksamkeit. Kaiserlich gesinnt, wollte er es mit dem Papst doch nicht ganz verderben. Seine Formulierungen im Konflikt zwischen Rom und dem Reich sind diplomatischer als die von Aribo von Mainz, der Godehard zum Bischof geweiht hatte.
Am Tor zur Deutschschweiz, bei der Zufahrt in italienische Lande: St. Gotthard. Woche für Woche, durch Meldungen des Strassen- und Schienenverkehrs namentlich in Erinnerung gerufen, hält der Entleibte Wache. Die Passhöhe liegt fast genau 2000 Meter höher als der Sterbeort des Heiligen. Moritzberg, einst eine selbständige Gemeinde mit Stift und Stiftskirche, nördlich angrenzend an das ehemalige Dorf Himmelsthür, liegt bescheidene 109 Meter über Meer. Das Wappen von Moritzberg, von Kaiser Ferdinand 1652 bestätigt, enthält – wie dasjenige von St. Maurice im Wallis – das Kreuz des heiligen Mauritius. Dazu noch den zur Ikonografie von St. Gotthard zugehörigen Drachen. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts schenkte der Bischof von Hildesheim der Pfarrkirche Maria Himmelfahrt in Göschenen, Kanton Uri, eine winzige Knochenreliquie seines heiliggesprochenen Vorgängers. Godehard war vom Andreastag (30. November) 1022 bis zu seinem Tod am 4. Mai 1038 in Niedersachsen Ortsbischof. «Die Ausfahrt Göschenen ist gesperrt.» Die Routinemeldung der Verkehrsinformation von Radio SRF gilt nicht für den, der sucht statt vorbeifährt.
Der als villa montis, «Bergdorf», urkundlich in die Geschichte eingetretene Moritzberg, mit Ortsteilen wie Godehardikamp und der mit Fabrikationsstätten überbauten Schützenwiese, war bis vor kurzem eine Industriehochburg. Der für den Raum Hildesheim bedeutende Arbeitgeber Wetzell Gummiwerke AG, später von Phönix und Continental übernommen, wurde nebst anderem ein Qualitätsbegriff für Hochdruckschläuche. Über dem aufgehobenen Industriestandort, von dem sich ein «alter Schornstein» erhalten hat, wurde ein Einkaufszentrum mit Geschäften und Supermärkten hochgezogen.

13 Heiliger Gotthard als Pilger, Ex-Voto Altar aus der Provinz Venezien.
Im Zusammenhang mit der Beschäftigung von Zwangsarbeitern bei Wetzell zur Zeit des Zweiten Weltkriegs wirbt eine von Klaus Schäfer, Fraktionsgeschäftsführer der Grünen in Hildesheim, mitbetreute historische Homepage für Vernetztes Erinnern. Wohl schon 1028 war es die Arglist der Zeit, die Hildesheims Bischof Godehard veranlasste, den nach einem afrikanischen Glaubenszeugen umbenannten Berg mit Wall und Graben zu befestigen, so, wie 900 Jahre später das Gotthardmassiv von der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur monumentalen Alpenfestung ausgebaut wurde, das Herzensanliegen des 1939 gewählten Oberkommandierenden, General Henri Guisan. Noch von einigen Festungswächtergenerationen der Réduitbrigade 23 betreut, wurde das aufwendigste Fort der Alpen vor der zweiten Jahrtausendwende zum Museum entsorgt. Der Verkehr rollt nach wie vor auf Strasse und Schiene durch das für die strategische Lage der Schweiz bedeutsame Gotthardmassiv, ab Ende 2016 mit der 57 Kilometer langen Untertunnelung der Neuen Eisenbahn-Alpentransversale (NEAT). Das hier konzentrierte Granitvorkommen soll so hart und stabil sein, dass darüber, gestossen von Afrika, die Alpen aufgefaltet wurden. So wenigstens lernten es die Schweizer Schulkinder im Geografieunterricht. Das Fach ist heute, wie Geschichte, auf den Kompetenzbereich Mensch und Umwelt pädagogisiert.
Der Verfasser dieser Studie war Rekrut in den Anlagen der oben genannten Réduitbrigade. Später diente er in deren Brudereinheit, der Réduitbrigade 22. Der Auftrag, eine Wiederholung des Franzoseneinfalls 1798 in Nidwalden durch Vorbereitung von Artilleriestellungen im Schoss des Mutterschwandenberges zu verhindern, schärfte das Geschichtsbewusstsein. Unvergessen bleibt im Rückblick auf die Rekrutenschule der nicht enden wollende unterirdische Treppenaufstieg ab Airolos Schienenhöhe bis hinauf zur Gotthard-Festung Motto Bartola. Unweit davon der turmartige Geschützstandort San Carlo, Kaliber 10, 5, benannt nach Carlo Borromeo, dem für die Förderung der Bildung in der katholischen Schweiz verdienstvollen Mailänder Erzbischof. Im Innern des Berges war vielleicht an die Tunnelheilige Barbara zu denken. Oben angekommen beim Ausstieg atmete man auf, wirkte der als Rustico getarnte Ausgang weg von der Festung fast wie St. Gotthards Himmelstür. Wen interessieren heute noch alle diese Details? Eine Antwort an den ungeduldigen Leser: Für eine vergleichbare Detailtreue, damals gegenüber einem deutschen Agenten, wurden noch 1942 zwei Unteroffiziere der Schweizer Armee als Landesverräter hingerichtet.
Beim Rückblick auf das eingangs erwähnte Pfingstfest 1004 ergibt sich die Perspektive, dass Godehard wenigstens einmal im Leben sich in der Nähe des posthum nach ihm benannten Passes aufgehalten haben kann. Am südlichen Ausgang von Lugano soll noch 1386, direkt am See, wo sich damals fast nur Einsiedler niederliessen, ein Gotthard-Kirchlein gestanden haben. Der Luganersee, von den Einheimischen Ceresio genannt, wird gemäss dem Historischen Lexikon der Schweiz erstmals 590 beim heiligen Gregor von Tours genannt. Für die Lokalisierung der Königsurkunden von 1004 gewinnt der zur Zeit Karls des Grossen belegte Name Laco Luanasco das Gewicht eines Arguments. Schon lange stritten sich die Verkehrshistoriker um die Deutung des rätselhaften Namens Lacunaura. Gemäss den Urkunden vom Montag, 12. Juni 1004, scheint es sich um den Ausgangspunkt von Heinrichs Reise vom Tessin nach Zürich zu handeln.
Gehen wir davon aus, dass der königliche Tross beim Weiler Grumo im Raum Ceneri ein vergleichsweise zentrales Lager aufgerichtet hat, mit Lugano als nächstgelegener Stadt sowie mit dem Plan, möglichst bald nach Zürich aufzubrechen, spricht alles für einen Aufenthalt in der Pfingstwoche und noch kurz danach am selben Ort, wo mit dem Pfingsthochamt gleichsam der Erfolg des Italienfeldzuges abgefeiert wurde. Dass ein vom Italienfeldzug ermüdetes Heer, dem ein Gewaltmarsch über die Alpen bevorstand, sich einige Tage an einem vergleichsweise festen Standort darauf vorbereitete, liegt nahe. Verkehrshistoriker zerbrechen sich seit rund 140 Jahren darüber den Kopf. Der Fünftagemarsch erfolgte am wahrscheinlichsten von Cadempino, südlich von Ceneri, über das damals mailändische Bleniotal hinauf zum Lukmanier, wo niemand ein Hospiz des Abtes von Disentis vermuten sollte. Dasselbe gelangt erst 250 Jahre später zur ersten Erwähnung. Die erste grössere Rast nach schwer vorstellbaren Strapazen muss im Klosterdorf Disentis erfolgt sein.
Aus geografischer Sicht wohl schon angenehmer präsentierte sich die uralte Stadt Trun, mit vielen Ahornen, aber wohl noch keinem, unter dem so etwas wie der graue Bund beschworen wurde. Ein vergleichbarer Schwurplatz, eine sogenannte Malstätte, stand damals in Rohr bei Aarau, wo die Grafen von Lenzburg ihre Beziehungen zum Stift Beromünster regelten. Falls Heinrich auf dem Weg nach Zürich Mitglieder dieser Familie traf, so war es frühestens in Schänis. Dass in Zürich, im Zusammenhang mit der Verkündigung des Landfriedens, von einem colloquium die Rede ist, deutet darauf hin, dass der Landfriede, ehe dieser befohlen wurde, noch Gegenstand von Verhandlungen war.
Schaut man von Mailand nordwestwärts, ist St. Gotthard tiefsinnig mit dem Wallis verbunden, mit dem afrikanischen Glaubenszeugen Mauritius vom unteren Eingang des Tals. In seinem Kloster Niederaltaich, seiner Bischofsstadt Hildesheim und reichsweit machte sich Godehard für die Verbreitung dieses Kultes stark. Die nach dem Heiligen Kreuz wertvollste Reliquie der Christenheit, die Heilige Lanze, wird mit dem römischen Offizier zur Zeit des Kaisers Diokletian in Verbindung gebracht. Um sich in deren Besitz zu bringen, schreckte König Heinrich II., dem Godehard seine Karriere verdankt, bei seiner umstrittenen Königswahl 1002 nicht vor dem Mittel der Geiselnahme zurück. Das war beim Konflikt mit seinem späteren Kanzler Heribert, dem Erzbischof von Köln.
Generationen vor Parzival stand das Andenken an Mauritius und seine Waffenfreunde, im Unterwallis hingerichtet auf dem Richtfeld von Vérolliez, für das Ideal des christlichen Ritters. Nicht für sich allein in den Tag hineinzuleben, war das Ziel. Das wäre die Torheit der Welt. Aus den Bergen schöpfte das mittelalterliche Christentum so etwas wie spirituelle Orientierung. Als der Dichter Petrarca sich auf den Mont Ventoux (1912 Meter über Meer) aufmachte, ging es ihm um Meditation. Er las einen Text von Kirchenvater Augustinus, wonach es wichtiger sei, sich selbst zu finden, als über die Höhe der Berge im Bild zu sein. Auch die erste Landkarte der Schweizer Alpen, Albrecht von Bonstettens geometrischer Ausblick von der Rigi (1798 Meter über Meer), ist aus diesem Geist zu begreifen. Die Perspektive von Sci Gottardi (1293), einem Namen aus alteidgenössischen Urkunden, der auch im Habsburger Urbar des Schreibers Burkhard von Frick aufscheint, wird mit dem mehrdeutigen Wort Urania umschrieben. Damit ist das Land Uri ebenso gemeint wie der Weg zum Himmelreich.
Die ausserhalb ihrer Urheimat lebenden Walser liebten und lieben den heiligen Gotthard ebenso. Im ganzen Bergtal wird dem Heiligen Dank und künftiges Vertrauen bekundet. Wie geschildert im Unterwallis, in Fully; weiter nördlich, bei Laques oberhalb Sierre, wurde das Gotthard-Heiligtum Cordona zum Refugium des Volksweisen Mathias Will (1613–1698), des zu Lebzeiten mit Blattschüssen jeder Art Verleumdeten. Ins Herz des Landes, nach Nax, hoch über der Bischofsstadt Sitten, machten sich Pilger aus Savoyen auf, um mit den einheimischen Jägern und Soldaten dem heiligen Gotthard zu huldigen; südöstlich im Dorf Simplon behauptet sich der Hildesheimer bis heute als Passheiliger. Es gibt nun mal keinen Sankt Simplon. Der Passübergang nach Domodossola, zur Zeit Napoleons mit einer für den Transport von Kanonen geeigneten Bergstrasse stabilisiert, führt als der ältere von zwei Schweizer Gotthardpässen nach Süden. Das Altarbild in der Dorfkirche zeigt den Passheiligen.
Heinrich II. und seine Vorgänger und Nachfolger verstanden sich zu ihrer Zeit als Ordner der Welt. In jenen Junitagen 1004 wurde die innige Verbindung des Klosters Einsiedeln unter Abt Wirun mit König Heinrich durch einen erstmaligen Schiedsspruch zugunsten des Klosters Tatsache. Die Beziehung kulminierte am 5. Januar 1018, als der zum Kaiser gekrönte Heinrich dem Kloster 230 Quadratkilometer Sihltal, Bibertal und Alptal «für ewige Zeiten» vermachte, die Basis für die Zucht des Braunviehs, damit die Landwirtschaftsrevolution im dortigen Alpenraum ermöglichend. Von derselben profitierten auch freie Bauern. Damit war die Rechtsgrundlage geschaffen, warum Einsiedeln und Kastherr Habsburg beim Morgartenkrieg «im Recht» waren, deren Gegner aber beim Marchenstreit «im Unrecht». Es herrschte wohl, wie Bruder Klaus es ausdrücken sollte, «das böseste Recht». Godehard von Hildesheim mag sein letztes Wort wohl nicht so gemeint haben.
Ohne jenen 17. Juni 1004 in Zürich hätte die Schweizer Geschichte möglicherweise einen anderen Ausgang genommen. Godehard, zum Priester geweiht von Bischof Wolfgang, dem Gründer der Stiftsschule Einsiedeln, und Abt Wirun, beide mit dem Kloster Reichenau in Verbindung stehend, müssen einander gekannt haben.
«Unsere Füsse zu leiten auf dem Wege des Friedens» bleibt von den legendären Thebäern über den heiligen Godehard bis zu Klaus von Flüe ein Motto für eine spirituelle Geschichtsbetrachtung mit Spiegelungen in die Gegenwart.
Der San Gottardo, Leid und Freude des Tessins
Ein Transitweg zwischen Hoffnungen und Enttäuschungen
Marco Marcacci
Der San Gottardo – welcher, wie man im Tessin zu sagen pflegt, seine Heiligkeit, sein «San», wegen der Gotthardbahn verloren habe – ist aufs Innigste mit den historischen Wechselfällen des italienischsprachigen Kantons verbunden. Am Gotthard, der zugleich trennendes und vereinendes Gebirge, wesentlicher Transitweg (von den Tessinern «Weg der Völker» getauft) und Ort symbolischer Repräsentationen ist, haben sich während der letzten zwei Jahrhunderte die Hoffnungen und Enttäuschungen des Tessins sowie der Tessinerinnen und Tessiner vor allem in ihren manchmal schwierigen Beziehungen zum Rest der Schweiz herauskristallisiert. Es waren Hoffnungen auf ökonomische Entwicklung, um einer endemischen Armut zu entkommen, und auf kulturelle und moralische Erlösung nach Jahrhunderten der Knechtschaft als reiner Wille, sich vollumfänglich am eidgenössischen Leben zu beteiligen. Es waren aber auch Enttäuschungen wegen zerbrochener Träume und nicht eingelöster Versprechen, gesetzt auf den grossen Strassen- und Eisenbahnprojekten des Gotthards.
Schon bevor das Tessin zu dem geworden ist, was es heute ist, das heisst zur Zeit der Vogteien, war es der Gotthard, welcher Urner und Schwyzer in den Süden der Alpen gedrängt hat, um sich eine Handelsroute nach Mailand und in die Lombardei zu eröffnen. Nachdem die Eidgenossen zwischen dem 15. und dem Beginn des 16. Jahrhunderts die Kontrolle über die Südseite des Gotthards erworben hatten, was für ihren Handel mit Italien zentral war, konnten sie ihn auch nach der Niederlage in Marignano erhalten. So wurde der Gotthard zur Nabelschnur, welche das Tessin an den Rest der Schweiz bindet, und das ist sie bis heute geblieben.
Der Gotthardweg, Lebensarterie für den Kanton
Der junge Kanton Tessin, mit der napoleonischen Mediationsakte aus dem Jahr 1803 begründet, wurde sofort mit der Gotthard-Frage (oder besser gesagt: mit dem Gotthard-Weg) konfrontiert. Der Kanton, der die sehr unbeliebten direkten Steuern, welche die Helvetische Republik verlangte, abgeschafft hatte, erwirtschaftete einen grossen Teil der eigenen öffentlichen Einnahmen aus den Zollabgaben und Wegegeldern. Er sah...
Table of contents
- Umschlag
- Titel
- Inhaltsverzeichnis
- Warum Gotthardfantasien? Eine Einführung: Boris Previšić
- INFRASTRUKTUR, NATUR
- KONTRAPUNKTE
- BILANZEN, SZENARIEN
- Autorenverzeichnis
- Abbildungsverzeichnis
- Anmerkungen
- Impressum