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Die öffentliche Debatte ĂŒber Migration ist heute ebenso geprĂ€gt von Ăngsten und BefĂŒrchtungen wie von Idealisierung. Was fehlt, sind Perspektiven fĂŒr die Zukunft - kritische Analysen und optimistische EntwĂŒrfe, die von der Ăffentlichkeit aufgenommen und diskutiert werden können.Das vorliegende Buch versammelt 15 VorschlĂ€ge von Personen aus Wissenschaft, Kultur und Politik. Ausgehend von ihrer Kenntnis, Forschung und Erfahrung formulieren die Autoren konstruktive Handlungsmöglichkeiten. Sie benennen das Potenzial, das die Migration fĂŒr die Entwicklung der Schweiz hat. Und sie prĂ€sentierenkonkrete AnsĂ€tze, Beispiele und Instrumente, um die Migration in Richtung dieses Potenzials zu steuern.
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Edition
1Subtopic
Civics & CitizenshipVORSCHLAG 1

Demokratische Rechte auf Nicht-StaatsbĂŒrger ausweiten
WALTER LEIMGRUBER
Spricht man mit Auslandschweizerinnen und -schweizern, bekommt man in der Regel dezidierte Meinungen zur Schweiz zu hören. Manche sind schon seit vielen Jahren ausgewandert, andere erst seit kurzem, manche besuchen das Land regelmĂ€ssig und unterhalten intensive Kontakte, andere beobachten es eher aus der Ferne und mit Hilfe verschiedener Medien. Aber kaum jemanden lĂ€sst sein Herkunftsland kalt. Die Meinungen dazu sind vielfĂ€ltig, sehr hĂ€ufig differenziert. Meist werden die gleichen positiven Punkte herausgestrichen: die StabilitĂ€t und ZuverlĂ€ssigkeit, die demokratischen Rechte, die gute und nicht ruinös teure Ausbildung. Und in fast ebenso vielen FĂ€llen kommen Ă€hnliche Kritikpunkte: Das Land sei zu sehr auf sich selbst fokussiert, nehme die Chancen in einer sich wandelnden Welt zu wenig wahr, sehe die Möglichkeiten nicht, die sich gerade auch dank der weltweiten Community von Schweizerinnen und Schweizern bieten. Mehr Mut, mehr Offenheit wĂŒnschen sich viele Auslandschweizerinnen und -schweizer von ihrem Herkunftsland. Das sind einige erste Resultate von zwei Forschungsprojekten zur Auswanderung aus der Schweiz, die am Seminar fĂŒr Kulturwissenschaft und EuropĂ€ische Ethnologie der UniversitĂ€t Basel durchgefĂŒhrt werden und die unter anderem Interviews mit rund 150 Auswanderinnen und Auswanderern in zehn Staaten beinhalten.
Ăber 760 000 Personen, das sind mehr als zehn Prozent aller Schweizerinnen und Schweizer, leben im Ausland. Nicht alle sind selbst emigriert, viele Familien leben seit Generationen nicht mehr in der Schweiz. Seit Anfang der 1990er-Jahre verlassen jĂ€hrlich 70 000 bis 110 000 Personen das Land, davon sind knapp ein Drittel Schweizer Staatsangehörige. Deren Wanderungssaldo ist seit vielen Jahren negativ, das heisst, es wandern mehr Schweizer BĂŒrgerinnen und BĂŒrger aus als ein.1 Diese Auswanderung findet politisch und medial praktisch keine Beachtung. Migration ist zwar ein Dauerthema, aber nur in die eine Richtung; Auswanderer scheinen nicht zu interessieren. NatĂŒrlich gibt es aber doch die eine oder andere AktivitĂ€t: Die Politik verbessert die Beteiligungsmöglichkeiten fĂŒr Auslandschweizer, indem sie elektronische Abstimmungen fördert, gelegentlich beschĂ€ftigt sich das Parlament mit der freiwilligen AHV oder einem anderen Problem, ab und zu hĂ€lt ein Bundesrat eine Ansprache an einer Versammlung der Auslandschweizer-Organisation (ASO) und lobt die Verbundenheit der Ausgewanderten mit der Schweiz. Aber verglichen mit der Aufmerksamkeit fĂŒr die Einwanderung ist Auswanderung kein Thema.
Dabei sind die Verbindungen zwischen den beiden vielfĂ€ltig: Wer aus der Schweiz auswandert, öffnet Raum fĂŒr Einwandernde, und wer von hier weggeht, ist anderswo ein Einwanderer, also Ă€hnlichen Rahmenbedingungen ausgesetzt wie die Immigrantinnen und Immigranten, die in die Schweiz kommen. Ein Blick auf die Auswandernden dĂŒrfte daher auch in Bezug auf die Einwandernden aufschlussreich sein. Und beide Gruppen gehören zum PhĂ€nomen der Globalisierung, die durch eine zunehmende MobilitĂ€t von GĂŒtern, Finanzen, Ideen und eben auch Menschen gekennzeichnet ist. Was passiert mit der Politik, wenn immer mehr Menschen mobil werden und nicht mehr dort leben, wo sie geboren sind oder wo sie ihre StaatsbĂŒrgerschaft besitzen? Und was bedeutet es fĂŒr das politische System, das bisher auf den einzelnen Staat ausgerichtet war, sowie speziell fĂŒr die Demokratie als das zentrale politische Element unseres politischen Systems?
CITOYENNETĂ
Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind oftmals AuslĂ€nder in den LĂ€ndern, in denen sie leben. Viele haben sich aber auch dort einbĂŒrgern lassen, besitzen zwei oder mehr PĂ€sse. Die GrĂŒnde fĂŒr die eine oder andere Entscheidung sind vielfĂ€ltig, aber in aller Regel sehr pragmatisch. Ein zweiter Pass ist hilfreich, unterstĂŒtzt meine Karriere, lĂ€sst mich am Leben am neuen Ort besser teilhaben, wird etwa gesagt. Der zweite Pass hat wenig Einfluss auf das VerhĂ€ltnis zum Herkunftsland. Diesem verdankt man etwas, diesem bleibt man verbunden â und sei es nur als möglicher RĂŒckzugsort, wenn sonst alles schiefgehen sollte.
Ganz selbstverstĂ€ndlich nehmen die Auslandschweizerinnen und -schweizer aber auch am politischen und gesellschaftlichen Leben im neuen Land teil, die einen aktiver, die anderen weniger, wie das auch bei den Schweizern im eigenen Land der Fall ist. In den meisten FĂ€llen erhalten sie das neue BĂŒrgerrecht sehr viel schneller im Vergleich zu AuslĂ€ndern in der Schweiz, und sie finden das gerechtfertigt; nach einigen Jahren Leben vor Ort gehöre man dazu, argumentieren sie.
Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind ein gutes Beispiel dafĂŒr, welche Bedeutung politische Rechte fĂŒr Migrantinnen und Migranten haben können. Man wandert ja nicht aus, um anderswo abseitszustehen, sondern um sich dort ein neues Leben aufzubauen. Zu diesem Leben gehört eine gesellschaftliche Teilhabe, die aus vielen Facetten, auch einer politischen, besteht. Im Französischen gibt es einen schönen Ausdruck fĂŒr diese Art von Teilhabe: «citoyenneté». Ein «citoyen» ist nicht einfach jemand, der zufĂ€llig und ohne sein Zutun BĂŒrger eines Landes ist, sondern jemand, der sich kĂŒmmert. Die Gesellschaft und der Staat werden nach dieser Sicht getragen von den «citoyens» und «citoyennes», die mit ihrer Haltung und ihrem Engagement die Gesellschaft und den Staat erst ausmachen. «Citoyenneté» ist eine Form der Partizipation, die nicht an einen besonderen legalen Status gebunden sein muss; vielmehr soll jeder und jede im Rahmen der LegalitĂ€t das Spektrum der Rechte und Handlungsmöglichkeiten in Anspruch nehmen. Diese stark von der französischen AufklĂ€rung geprĂ€gte Sicht ist in der Westschweiz stĂ€rker verankert als in der Deutschschweiz, die eher in der deutschen Tradition der kulturellen Zugehörigkeit steht.
Die Auslandschweizerinnen und -schweizer sind hĂ€ufig «citoyens» und «citoyennes», und zwar von zwei Staaten. Sie kĂŒmmern sich nach wie vor um die Belange ihres Herkunftslands â was BundesrĂ€te in entsprechenden Feiern auch gerne positiv herausstreichen â, setzen sich aber auch fĂŒr die Belange in ihrer neuen Heimat ein. Kann man sich in und fĂŒr zwei Staaten und Gesellschaften engagieren? Man kann, wie viele Beispiele zeigen. Bei manchen Menschen ist gerade das Erfahren dieser Vielfalt Ausgangspunkt einer intensiven Auseinandersetzung mit der Gesellschaft. Der «citoyen» und die «citoyenne», die um die Möglichkeiten der Welt wissen, wissen auch, wie sehr es auf jeden Einzelnen ankommt.
Sehen wir uns einmal die Entwicklungen dieser Vielfalt hierzulande anhand von ein paar Fakten an:
â Der Anteil der AuslĂ€nderinnen und AuslĂ€nder nimmt zu, gegenwĂ€rtig liegt er bei einem Viertel der Bevölkerung.
â Die Verflechtung auf allen Ebenen â Wirtschaft, Technik, Kultur, Kommunikation â ist enorm. Konzernchefs wie auch ArbeitskrĂ€fte werden global rekrutiert und eingesetzt. Die Bindung der Wirtschaft an den Nationalstaat ist bisweilen kaum mehr vorhanden. Der Unterschied zum Zustand noch vor einer Generation, der von einer engen Verflechtung dieser Ebenen geprĂ€gt war, ist enorm. Die globale Verflechtung fĂŒhrt offenbar zur Entflechtung der einzelnen gesellschaftlichen Ebenen.
â Fast die HĂ€lfte der Eheschliessungen ist binational, bald sind in jedem zweiten Haushalt zwei oder mehr PĂ€sse vorhanden.
Generell ist eine Transnationalisierung des Lebensstils festzustellen, eine Verbundenheit mit zwei und mehr LĂ€ndern, aus denen Teile der Familie stammen, mit denen man soziale oder wirtschaftliche Beziehungen pflegt, in denen man sich kulturell verankert fĂŒhlt. Die Menschen werden «multilokal» oder «ortspolygam», bauen sich soziale Netze auf, die sich ĂŒber die Staaten hinweg aufspannen.2 In der Regel dominiert daher auch ein pragmatisches VerhĂ€ltnis zu StaatsbĂŒrgerschaften.
Doppelte StaatsbĂŒrgerschaften erfahren durch diese Entwicklung politisch zunehmend Anerkennung. Lange Zeit war der Widerstand dagegen heftig. Vor allem AuswanderungslĂ€nder fördern aber inzwischen die doppelte StaatsbĂŒrgerschaft, weil sie befĂŒrchten, sonst die Verbindung zu ihren ausgewanderten BĂŒrgerinnen und BĂŒrgern zu verlieren. Immer intensiver pflegen sie die Beziehungen zu ihren Auswanderern, grĂŒnden sogar eigene Ministerien. In diversen LĂ€ndern sind Ausland-Staatsangehörige mit eigenen Sitzen in den Parlamenten vertreten. Man spricht von einer «extraterritorialen StaatsbĂŒrgerschaft». WĂ€re auch das Umgekehrte denkbar? Sitze fĂŒr AuslĂ€nder im Parlament der Einwanderungsstaaten auf der Basis einer allgemeinen «citoyenneté»?
Globalisierung, Interdependenz und Transnationalisierung vervielfĂ€ltigen also die staatlichen Zugehörigkeiten. Entsprechend mĂŒssen wir die politischen Rechte neu denken, nicht mehr bloss national ausgerichtet, sondern vernetzt: Die Menschen, die hier leben, sind immer hĂ€ufiger auch BĂŒrger oder Beteiligte anderer staatlicher Systeme, wĂ€hrend viele Menschen mit Schweizer Pass nicht hier leben und ebenfalls Teil anderer Einheiten sind. Diese verschiedenen Systeme wirken aufeinander ein. Wenn ein Auswanderungsstaat mit viel Aufwand versucht, seine ausgewanderten BĂŒrger an sich zu binden und ihnen Beteiligung, Schutz, auch Zugehörigkeit anbietet, wir hingegen nichts dergleichen tun: Wohin wendet sich die betroffene Person, von wem fĂŒhlt sie sich ernst genommen, identitĂ€tsmĂ€ssig bestĂ€tigt? Wir beteiligen uns zunehmend an einer Art internationalem Schaulaufen, einem Schaulaufen, von dem wir annehmen können, dass wir gute Startbedingungen haben, da unser politisches System, davon sind wir ĂŒberzeugt, attraktiv ist. Aber dies zu sagen, genĂŒgt nicht mehr: Wir mĂŒssen die Menschen abholen, um sie in dieses angeblich attraktive System zu integrieren.
In der Westschweiz sieht man diese ZusammenhĂ€nge deutlicher. Es ist deshalb kein Zufall, dass Westschweizer Kantone das Stimm- und Wahlrecht fĂŒr AuslĂ€nder auf lokaler und einzelne sogar auf kantonaler Ebene verankert haben. Doch es geht nicht nur um das Stimm- und Wahlrecht. Ein «citoyen» ist nicht einfach eine Person, die zur Urne geht. Sie kĂŒmmert sich auf vielfĂ€ltige Art und Weise um ihr Umfeld und ihre Mitwelt. Ihr politisches und gesellschaftliches Engagement fĂ€llt nicht einfach vom Himmel. Es wird ausgelöst durch Erfahrungen, angefangen bei den Diskussionen am familiĂ€ren Esstisch ĂŒber die staatspolitische Bildung in den Schulen bis hin zu ganz konkreten Ereignissen, die gerade bei jungen Menschen entscheidend dafĂŒr sind, ob sie sich beteiligen oder nicht. «Citoyens» mĂŒssen also geformt werden. Wir aber gehen davon aus, dass AuslĂ€nderinnen und AuslĂ€nder sich aus allen politischen GeschĂ€ften heraushalten, um sich nach zehn oder zwölf Jahren einbĂŒrgern zu lassen und ab diesem Zeitpunkt die Rolle des engagierten BĂŒrgers zu spielen. Offensichtlich herrscht die Auffassung, das Engagement wĂŒrde bei der Ăbergabe des roten Passes vom Himmel fallen wie die Gesetzestafeln bei Moses. Diese Vorstellung, dass man sich ein Jahrzehnt lang abstinent verhalten kann und soll, um danach voller Begeisterung politisch zu partizipieren, ist naiv. Das Engagement muss reifen wie ein Schweizer KĂ€se. Aus einem Eunuchen wird kaum ein guter Liebhaber.
BREITE TEILHABE â BREITER NUTZEN
Daher ist es nötig, politische Teilhabe offener und breiter zu denken. «Citoyenneté» heisst das Programm der Eidgenössischen Migrationskommission (EKM),3 mit dem in den letzten Jahren rund 60 Projekte unterstĂŒtzt wurden, die darauf hinzielen, politische Beteiligungsmöglichkeiten auszuloten, zugĂ€nglich zu machen und möglichst breite Bevölkerungsschichten unabhĂ€ngig von ihrer StaatsbĂŒrgerschaft in politische Prozesse einzubeziehen.
Die Gesellschaft bietet heute grundsĂ€tzlich viele Möglichkeiten der Partizipation: Man wird Mitglied in Vereinen, man arbeitet freiwillig in Institutionen, man tut mit in Schul- oder Gemeindekommissionen, in denen hĂ€ufig keine BeschrĂ€nkungen bezĂŒglich nationaler Zugehörigkeit bestehen. All dies geschieht auch, doch in viel zu kleinem Ausmass. Die GrĂŒnde dafĂŒr sind das Unwissen der Einen und die UntĂ€tigkeit der Anderen: Viele, die in die Schweiz einwandern, kennen die Mechanismen der Gesellschaft zu wenig, weil es in ihren HerkunftslĂ€ndern anders lĂ€uft. Die wesentliche Rolle von Vereinen etwa ist eine schweizerische Eigenheit, die vielerorts fehlt. Die demokratischen Mitsprache- und Mitgestaltungsrechte sind oft nicht markiert als offen fĂŒr alle, sondern werden in der Wahrnehmung der Menschen automatisch mit der Staatszugehörigkeit verbunden.
Die Einheimischen ihrerseits tun wenig dafĂŒr, das Wissen um das Funktionieren dieser Gesellschaft zu vermitteln. Einerseits ist es ihnen so vertraut, dass sie gar nicht realisieren, dass es anderen unvertraut ist, andererseits gehen sie von einer Hol-, nicht von einer Bringschuld aus: Sie sind der Ansicht, die anderen mĂŒssten sich halt informieren. Das ist aber im feinmaschigen Netz schweizerischer Assoziierungen gar nicht so einfach. Man braucht ein grosses Wissen, um herauszufinden, wo man mittun kann, welche Kommission neu bestellt wird. Hier wĂ€re der erste Ansatzpunkt fĂŒr die Herausbildung von «citoyenneté» auch der Zugewanderten: Es gilt, diesen unser System zu erklĂ€ren und sie in unser politisches Netzwerk einzufĂŒhren, so wie wir damals am Mittagstisch, in der Schule, am Arbeitsort eingefĂŒhrt worden sind.
«Warum sollen wir das alles tun, was bringt uns das?», lautet eine hĂ€ufige Frage zu dieser Aufforderung. Der erste Grund fĂŒr eine breite politische Partizipation ist ein ganz praktischer: Ohne dieses Einbinden möglichst vieler Bewohnerinnen und Bewohner wird das System Schaden nehmen. Wenn immer mehr Leute abseitsstehen, wenn immer mehr Menschen sich nicht fĂŒr die allgemeinen Belange interessieren und engagieren, ist ein politisches System, das derart föderalistisch, partizipativ und subsidiĂ€r wie das schweizerische aufgebaut ist, nicht mehr funktionsfĂ€hig. Wir brauchen die Köpfe und Ideen von möglichst vielen Bewohnerinnen und Bewohnern, um all die Aufgaben zwischen Vereinen, Institutionen, Schulen, Kommissionen, GemeinderĂ€ten, kantonalen Interessensorganisationen und gesamtschweizerischen VerbĂ€nden bewĂ€ltigen zu können. Schon heute klagen viele Gemeinden darĂŒber, dass sie kaum noch Personen finden fĂŒr ihre Ămter; Vereine und gemeinnĂŒtzige Organisationen sehen sich mit Mitgliederschwund konfrontiert.
Hier gilt es aktiv zu werden: Gemeinden, VerbĂ€nde, Kantone sollten alle Bewohnerinnen und Bewohner ohne Schweizer Pass ansprechen und sie ĂŒber die Möglichkeiten der Partizipation in verschiedenen Gremien informieren. Sie sollten Veranstaltungen organisieren, um die Interessierten in die Funktionsweise der Institutionen einzufĂŒhren, und sie sollten sie aktiv ermutigen, sich zu engagieren und sich fĂŒr Ămter und Aufgaben zu bewerben.4 Viele Menschen, die seit langem hier leben, sind mit der Funktionsweise von Gemeinden, Ămtern und Organisationen wenig vertraut, weil sie sie nie wirklich kennengelernt haben. Angebote, die staatsbĂŒrgerliches Wissen anschaulich und praxisnah vermitteln, könnten hier Abhilfe schaffen. Auch in den Schulen mĂŒsste der staatsbĂŒrgerliche Unterricht wieder eine grössere Rolle spielen.
Neben diesen eher pragmatischen GrĂŒnden fĂŒr eine politische Einbindung der Migrantinnen und Migranten gibt es aber auch prinzipielle. Es stellt sich die Frage, ob ein politisches System, in dem grosse Teile der Bevölkerung von der Mitsprache ausgeschlossen sind, als Demokratie bezeichnet werden kann. Aktuell ist gut ein Viertel der Bevölkerung ohne politische Rechte. Gibt es eine Grenze, ab der eine Gesellschaft nicht mehr als demokratisch bezeichnet werden kann? Dazu liegen meines Wissens keine Arbeiten vor, die eine Zahl liefern wĂŒrden. Aber demokratietheoretisch lĂ€sst sich kaum begrĂŒnden, dass wesentlichen Teilen der Bevölkerung entsprechende Rechte vorbehalten werden. Demokratie basiert auf einer universalistischen Logik, nationalstaatliche Zugehörigkeit hingegen auf einer exkludierenden. Hier liegt ein wesentlicher Widerspruch nationalstaatlicher Demokratie, der sich mit der zunehmenden MobilitĂ€t immer grösserer Gruppen stĂ€rker akzentuiert.
Die demokratische Entwicklungsgeschichte der Schweiz ist in dieser Hinsicht aufschlussreich, denn sie ist geprĂ€gt vom langwierigen, aber doch erfolgreichen Einschluss immer weiterer Gruppen. Waren in einer frĂŒhen Phase nur MĂ€nner, die an einem Ort ĂŒber Heimatrechte und ĂŒber einen Mindestbesitz verfĂŒgten, mitspracheberechtigt, weitete sich dies mit der Zeit auf alle erwachsenen MĂ€nner aus.1848 waren allerdings die nichtchristlichen MĂ€nner, das hiess damals praktisch ausschliesslich MĂ€nner jĂŒdischen Glaubens, noch ausgeschlossen; sie wurden erst 1866 (auf Druck Frankreichs) als BĂŒrger anerkannt. Es dauerte in der Schweiz dann ĂŒberaus lange, bis die weibliche HĂ€lfte der Bevölkerung integriert wurde, wie wir wissen (es waren ĂŒbrigens auch hier die Westschweizer Kantone, die als erste die Trendwende vollzogen).
Seit 1975, vier Jahre nach dem Frauenstimmrecht, dĂŒrfen auch Auslandschweizerinnen und -schweizer stimmen und wĂ€hlen. Bis zur Briefwahl konnten das aber nur wenige wirklich nutzen. Der Bundesrat hatte sich lange gegen diese Möglichkeit gewehrt, weil er sonst auch AuslĂ€ndern in der Schweiz gleiche Rechte hĂ€tte zugestehen mĂŒssen. Daher wurde die Briefwahl erst 1989 eingefĂŒhrt. Seither können AuslĂ€nderinnen und AuslĂ€nder auch hierzulande an Wahlen ihrer HeimatlĂ€nder teilnehmen, seit 1994 auch direkt in Botschaften und Konsulaten.
Schliesslich hat man auch die Altersgrenzen verschoben, um jĂŒngeren Menschen die Partizipation zu ermöglichen: 1997 wurde das Stimm- und Wahlrechtsalter auf 18 Jahre gesenkt.
Ein weiteres Argument fĂŒr ein ausgeweitetes Stimmrecht liegt in der Erfahrung, dass eine breit abgestĂŒtzte Entscheidungsfindung eine Gesellschaft friktionsĂ€rmer, im Idealfall harmonischer funktionieren lĂ€sst. Fehlende Partizipation von immer grösseren Gruppen wird die Demokratie mit der Zeit beeintrĂ€chtigen, weil diese Gruppen anfangen, ihre Interessen auf andere Art durchzusetzen und weil innerhalb des Systems PartikulĂ€rinteressen die Oberhand gewinnen. Im Extremfall entstehen Parallelgesellschaften, wie wir sie aus anderen LĂ€ndern bereits kennen, mit all ihren verheerenden Folgen. Politische Partizipation möglichst aller, die von Entscheiden betroffen sind, ist also kein Gnadenakt fĂŒr diejenigen, denen die Mitsprache gewĂ€hrt wird â und sie war es auch 1975 nicht fĂŒr die Frauen, wie im Wahlkampf vor der Abstimmung oft behauptet wurde. Vielmehr ist politische Partizipation möglichst aller von direktem Interesse fĂŒr das Staatswesen und die Gesellschaft.
Ăbrigens ist es interessant, dass gegen die politische Partizipation von AuslĂ€ndern hĂ€ufig die gleichen Vorbehalte vorgebracht werden wie damals bei den Frauen. Widerspricht es auch dem Naturell der AuslĂ€nder,...
Table of contents
- Umschlag
- Titel
- Inhaltsverzeichnis
- Einleitung
- VORSCHLAG 1: Demokratische Rechte auf Nicht-StaatsbĂŒrger ausweiten
- VORSCHLAG 2: Kein Stimmrecht â trotzdem mitstimmen
- VORSCHLAG 3: LoyalitĂ€t erhöhen durch doppelte StaatsbĂŒrgerschaft
- VORSCHLAG 4: Eine dynamische Schutzklausel entwickeln
- VORSCHLAG 5: Asylrecht und Grenzschutz auf Europa abstimmen
- VORSCHLAG 6: Die rechtliche Stellung der Sans-Papiers verbessern
- VORSCHLAG 7: Das individuelle Potenzial von Asylsuchenden wahrnehmen
- VORSCHLAG 8: Migrationswege fĂŒr FlĂŒchtlinge legalisieren
- VORSCHLAG 9: Migration mit einer GebĂŒhr schrittweise liberalisieren
- VORSCHLAG 10: Das Land fĂŒr Hochqualifizierte attraktiv machen
- VORSCHLAG 11: Migration als demografischen Ausgleichsfaktor nutzen
- VORSCHLAG 12: Die Anerkennung von Berufsqualifikationen vereinfachen
- VORSCHLAG 13: Eine Grundannahme der Migrationsdebatte aufgeben
- VORSCHLAG 14: Die Errungenschaften der offenen Gesellschaft verteidigen
- VORSCHLAG 15: Trau dich, Schweiz
- Anmerkungen
- Impressum