Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (Civil Disobedience)
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Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (Civil Disobedience)

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Henry David Thoreau: Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat (Neuübersetzung, mit erklärenden Fußnoten und Begleitwort) | »Wenn ungerechtes Gesetz dich zum Werkzeug des Unrechts einem anderen gegenüber macht, dann sage ich: Brich das Gesetz.« -Präzise und klar begründet Henry David Thoreau in dieser Schrift das Recht auf Zivilen Ungehorsam. Thoreau erinnert eindrücklich daran, dass die Macht einer jeden Regierung eine geborgte ist - dass aber die Regierenden, einmal gewählt, diese Tatsache nur allzu schnell aus den Augen verlieren. Die politische Elite koppelt sich vom Volk ab, handelt maßlos und selbstgerecht und beginnt jenen zu schaden, die sie einmal gewählt haben. Diese Gefahr besteht nicht nur in autokratischen, sondern ebenso in demokratischen Systemen. | Mahatma Gandhi verteilte »Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat« unter seinen Schülern, später wurde die Schrift im französischen Widerstand gegen Hitlerdeutschland gelesen. In den sechziger Jahren beeinflussten Thoreaus Gedanken die Bürgerrechtsbewegungen, ebenso wie die Hippie-, Friedens- und Umweltbewegung der Siebziger und Achtziger. Und auch heute hat die Schrift nichts von ihrem Wert und ihrer Aktualität verloren.

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Information

Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat

VON HERZEN GERN stelle ich das Motto voran: »Jene Regierung ist die beste, die am wenigsten regiert.«1 Und ich wünschte, es würde schneller und systematischer danach gehandelt. Hält man sich daran, läuft es darauf hinaus – woran ich ebenfalls glaube, nämlich: »Die beste Regierung ist jene, die überhaupt nicht regiert!« Und wenn die Menschen reif dafür sind, wird dies tatsächlich die Form der Regierung sein, die sie haben werden. Eine Regierung ist bestenfalls ein zureichender Notbehelf, aber die meisten Regierungen sind immer – und alle sind manchmal – unzureichend.
Die Einwände, die gegen ein stehendes Heer vorgebracht worden sind2 – und es sind viele und gewichtige vorgebracht worden, die es verdienen, sich durchzusetzen –, können letztlich ebenso gegen eine ständige Regierung vorgebracht werden. Das stehende Heer ist nur ein Arm der ständigen Regierung. Diese Regierung aber, die nichts weiter als die Form ist, welche das Volk zur Ausführung seines Willens gewählt hat, kann leicht missbraucht und verdorben werden, noch bevor das Volk Einfluss darauf haben kann. Das beweist etwa der mexikanische Krieg (1849)3 das Werk verhältnismäßig Weniger, die sich der Regierung als ihres Werkzeuges bedienten; denn das Volk hätte dieser Vorgehensweise von Anfang an niemals zugestimmt.
Die amerikanische Regierung – was ist sie weiter als eine Tradition, allerdings eine gegenwärtige, die sich bemüht, sich selbst ohne Machteinbuße an die Nachwelt weiterzugeben – dabei aber in jedem Augenblick ein wenig von ihrer Glaubwürdigkeit verliert. Sie hat nicht die Dynamik und Kraft eines einzelnen Mannes, denn ein einziger Mann kann sie seinem Willen unterwerfen. Sie ist eine Art schwaches Holzgewehr für das Volk; aber sie ist dennoch notwendig, denn das Volk braucht irgendeine komplizierte Maschinerie oder etwas in der Art, und muss ihren Radau hören, um seine Vorstellung von Regierung zu befriedigen. Regierungen zeigen uns, wie erfolgreich Menschen eingeschränkt werden können und sich sogar freiwillig Beschränkungen auflegen, wenn es ihrem Vorteil dient.
Das ist eindrucksvoll, muss man zugeben. Und doch hat diese Regierung von sich aus noch nie ein Unternehmen auf eine andere Weise vorangebracht als durch ihre Bereitwilligkeit, ihm aus dem Wege zu gehen. Sie bewahrt nicht die Freiheit des Landes. Sie besiedelt den Westen nicht. Sie erzieht nicht. Alles was erreicht wurde, verdanken wir dem ureigenen Charakter des amerikanischen Volkes; und der würde mehr ausgerichtet haben, wenn die Regierung nicht so oft im Wege gestanden hätte. Denn die Regierung ist ein Notbehelf, mit dessen Hilfe sich die Menschen gegenseitig in Ruhe lassen [friedlich koexistieren] können; und sie ist, wie gesagt, um so nützlicher, je mehr die Regierten von ihr in Ruhe gelassen werden. Wenn Handel und Wirtschaft nicht gleichsam aus Gummi wären, könnten sie niemals die Hindernisse überwinden, welche die Gesetzgeber ihnen unaufhörlich in den Weg legen. Wenn man diese Leute nur nach den Auswirkungen ihres Handelns und nicht teilweise auch nach ihren Absichten beurteilte, dann verdienen sie, zusammen mit jenem Gesindel eingestuft und bestraft zu werden, welches Blockaden auf Eisenbahnschienen legt.
Um es sachlich und als guter Bürger zu sagen, anders als diejenigen, die sich Anarchisten nennen: Ich fordere nicht sofort die Auflösung der Regierung, aber sofort eine bessere Regierung. Jedermann sollte kundtun, welche Art von Regierung seinen Respekt genießt – das wäre bereits ein Schritt auf dem Weg, genau diese zu bekommen.
Die Macht liegt in den Händen des Volkes, und durch eine Wahl wird einer Mehrheit gestattet, für eine gewisse Zeit zu regieren – möglicherweise für eine sehr lange Zeit. Der wahre Grund dafür ist aber nicht, dass sich diese Mehrheit mit großer Wahrscheinlichkeit im Recht befindet, oder dass dies der Minderheit gegenüber am gerechtesten erscheint, sondern schlicht, weil diese Mehrheit der Minderheit physisch überlegen ist. Aber eine Regierung, in der in jedem Fall die Mehrheit entscheidet, kann nicht auf Gerechtigkeit gegründet sein, nicht einmal soweit Menschen Gerechtigkeit begreifen. Warum kann es nicht eine Regierung geben, in der nicht die Mehrheit über falsch und richtig befindet, sondern das Gewissen? – In der die Mehrheit nur solche Fragen entscheidet, für die das Gebot der Nützlichkeit gilt? Sollte der Bürger auch nur einen Augenblick, auch nur für eine Winzigkeit, sein Gewissen dem Gesetzgeber überantworten? Wozu hätte denn jeder Mensch ein Gewissen?
Ich glaube, wir sollten in erster Linie Menschen sein, und dann erst Untertanen. Es ist nicht so sehr erstrebenswert, den Respekt vor dem Gesetz zu kultivieren, als den Respekt vor dem Richtigen. Die einzige Verpflichtung, die ich auf mich zu nehmen das Recht habe, ist die, jederzeit tun zu können, was ich für recht halte. Es ist deutlich genug gesagt worden, dass eine Gesellschaft kein Gewissen habe. Jedoch eine Gesellschaft von gewissenhaften Menschen ist eine Gesellschaft mit einem Gewissen.
Das Gesetz hat die Menschen nie auch nur eine Spur redlicher gemacht, und wegen ihres Respekts dem Gesetz gegenüber werden auch die Wohlgesinnten täglich zu Handlangern des Unrechts. Ein gewöhnliches und natürliches Ergebnis dieses ungebührlichen Respektes vor dem Gesetze ist es zum Beispiel, wenn du eine Reihe Soldaten – Oberst, Hauptmann, Korporal, Infanteristen, Pulverjungen und all die anderen –, in bewundernswerter Ordnung über Berg und Tal in den Krieg ziehen siehst; gegen ihren Willen, ja, gegen ihren gesunden Menschenverstand und ihr Gewissen, was ihren Pfad in der Tat zu einem steilen macht und ihnen Herzrasen verursacht. Sie zweifeln nicht daran, dass es ein übles Geschäft ist, auf das sie sich da eingelassen haben, und sie sind eigentlich alle friedlich gesinnt. Nun, was sind sie? Menschen etwa? Nicht eher kleine bewegliche Festungen und Waffenlager im Dienste irgendeines skrupellosen Kerls, der gerade die Macht hat?
Gehe einmal zu einem Marinehafen und schau dir einen Soldaten an; einen Mann, wie ihn nur die amerikanische Regierung hervorbringen kann, wie sie ihn quasi mit schwarzer Magie zustande bringt, – ein bloßer Schatten, ein schwacher Abklatsch eines leibhaftigen Menschen; ein Mann, lebendig und stehend aufgebahrt, doch sozusagen schon unter Waffen und mit militärischen Ehren begraben, obgleich es auch sein könnte:
»Keine Trommel war zu hören, kein Abschiedslied,
Als wir eilig seinen Körper zur Grube trugen;
Kein Soldat gab einen Abschiedsschuss
Über dem Grab, in dem wir unsern Helden begruben.«
[»Not a drum was heard, not a funeral note,
As his corpse to the rampart we hurried;
Not a soldier discharged his farewell shot
O’er the grave where our hero was buried.«]4
Die Mehrzahl der Menschen dient dem Staat vorwiegend nicht als Menschen, sondern mit ihren Körpern als Arbeitsmaschinen; sie sind die Armee, die Polizisten, Gefängniswärter, Schutzleute und so weiter. In den meisten Fällen bleibt da kein Raum mehr für eigenes Urteil oder moralisches Gefühl; sie stehen auf derselben Stufe wie Holz und E...

Table of contents

  1. Inhaltsverzeichnis
  2. Begleitwort
  3. Über den Autor
  4. Über die Pflicht zum Ungehorsam gegen den Staat
  5. Impressum