1.MEDIENWANDEL
Gesellschaftlicher Wandel oder gar das Ăberschreiten einer Epochenschwelle vollzieht sich unmerklich. Dass jemand einen âșNullpunktâč zwischen zwei Epochen bewusst erlebt, ist ausgeschlossen.
»Von hier und heute geht eine neue Epoche der Weltgeschichte aus, und ihr könnt sagen, ihr seid dabei gewesen.« Dieser bekannte Ausspruch, den Goethe sich selbst dreiĂig Jahre nach der Kanonade von Valmy retrospektiv zuschrieb, ist eine kĂŒnstlerische Fiktion und Teil eines anekdotischen Berichts:
»Noch am Morgen hatte man nicht anders gedacht, als die sĂ€mtlichen Franzosen anzuspieĂen und aufzuspeisen, ja mich selbst hatte das unbedingte Vertrauen auf ein solches Heer, auf den Herzog von Braunschweig zur Teilnahme an dieser gefĂ€hrlichen Expedition gelockt; nun aber ging jeder vor sich hin, man sah sich nicht an, oder wenn es geschah, so war es um zu fluchen, oder zu verwĂŒnschen. Wir hatten, eben als es Nacht werden wollte, zufĂ€llig einen Kreis geschlossen, in dessen Mitte nicht einmal wie gewöhnlich ein Feuer konnte angezĂŒndet werden, die meisten schwiegen, einige sprachen, und es fehlte doch eigentlich einem jeden Besinnung und Urteil. Endlich rief man mich auf, was ich dazu denke, denn ich hatte die Schar gewöhnlich mit kurzen SprĂŒchen erheitert und erquickt; diesmal sagte ich âŠÂ« (GOETHE 1898: 74f.).
In der Geschichtswissenschaft hat die EinschĂ€tzung einer sich 1792 vollziehenden Epochenwende wenig AnhĂ€nger gefunden. Zudem hat Goethe es versĂ€umt, ein klares Abgrenzungskriterium fĂŒr seine Epochenvorstellung anzugeben. Dass eine Volksarmee mit einer gewissen Anzahl Kanonen die preuĂischen Professionals am weiteren VorrĂŒcken in Frankreich hindern konnte, mag militĂ€rhistorisch bemerkenswert sein. Vor allem im Zusammenhang mit der Selbstbehauptung des revolutionĂ€ren Frankreichs gegenĂŒber den absolutistischen Monarchien Europas besitzt dieses Ereignis möglicherweise auch einen Symbolgehalt. Als Beleg fĂŒr einen Epocheneinschnitt taugt es jedoch keineswegs.
Niklas Luhmann verlangt eine Differenzierung, die fĂŒr den Nachvollzug einer Epochenbehauptung konstitutiv ist. Epochen benötigen, so stellt er fest, mindestens zwei Abgrenzungsereignisse. »Es reicht nicht aus, alles auf eine Vorher/Nachher-Differenz zusammenzuziehen â etwa Europa vor der Kartoffel und nach der Kartoffel. Denn diese Differenz könnte dann nur das grandiose Ereignis selbst, das die Epochen trennt, beschreiben, nicht aber die Geschichte als ProzeĂ« (LUHMANN 2008a: 102). Der Prozess der Herausbildung der fĂŒr eine Epoche charakteristischen inneren Differenzierungen kann sich ĂŒber eine lange Zeit erstrecken. Luhmann schlĂ€gt vor, fĂŒr die Herausbildung der Differenzierungsstruktur der Gesellschaft, die fĂŒr die Moderne typisch ist, eine Ăbergangszeit vom 12. bis zum 18. Jahrhundert anzusetzen (ebd.: 118). Es gibt ferner das Problem, dass StrukturĂ€nderungen in der Gesellschaft sich nicht als Abschaltung frĂŒherer, jetzt nicht mehr optimaler Anpassungen vollziehen. Die fortlaufende Selbsterneuerung des Systems lĂ€uft trotz beginnender struktureller Ănderungen weiter, was die Durchsetzung dieser Ănderungen erheblich erschwert. Luhmann findet dafĂŒr die prĂ€gnante Formel: »Selbst mit den KrĂ€ften des Herkules könnte man den Stall des Augias nicht ausmisten, wenn die KĂŒhe drin bleiben« (ebd.: 106). FĂŒr das Zusammentreffen âșalterâč und âșneuerâč Medien gibt es vergleichbare und viel zitierte Beschreibungen von Wolfgang Riepl (1913) und Marshall McLuhan (1964). Beide betonen, was bei ihrer ErwĂ€hnung oft unterschlagen wird, dass mit dem Erhalt eines Rests der alten Strukturen dennoch ihre Form- und FunktionsverĂ€nderung verbunden ist. Wenn die KommunikationsverhĂ€ltnisse einer Epoche durch die MĂŒndlichkeit ihrer Medien bestimmt sind, so bedeutet die Durchsetzung der schriftlichen Kommunikation nicht, dass nunmehr nur noch schriftlich und nicht mehr mĂŒndlich kommuniziert wird. Eine Ahnung davon, mit welchen Lasten die Durchsetzung neuer Medien verbunden ist, gibt die ausgedehnte medienkritische Literatur seit Platon. Sie spricht BĂ€nde davon, wie sehr das Verstehenkönnen und Verstehenwollen vor den aufziehenden neuen, epochemachenden Errungenschaften kapituliert. Irritation, Unsicherheit und Aggression sind oft Begleiterscheinungen solcher Konfrontationen. Die positive und kritiklose Ăberzeichnung des Vorhandenen, dessen drohender Verlust nun beklagt wird, macht erst einer reflektierteren Sicht und der Erkundung erlebter BeschĂ€digungen Platz, wenn das Neue schon unwiderruflich etabliert ist.
In diesem Kapitel geht es zunĂ€chst um die Selbsterkenntnisprozesse der âșaltenâč Medien. Die Bestimmung des âșNeuenâč, die Identifizierung und Bewertung der epochemachenden VerĂ€nderungen durch die digitalen Medien muss demgegenĂŒber gröĂere Ungewissheiten akzeptieren und daher etwas abstrakter bleiben.
Epochenenden
»Es gibt keine Zeugen von EpochenumbrĂŒchen. Die Epochenwende ist [âŠ] an kein prĂ€gnantes Datum oder Ereignis evident gebunden« (BLUMENBERG 1998: 545). Epochen benötigen Abgrenzungsereignisse und -merkmale. FĂŒr Hans Blumenberg ereignet sich der Beginn der Neuzeit irgendwo zwischen den Lebenszeiten und Weltbildern von Nikolaus von Kues und von Giordano Bruno in der Mitte des 16. Jahrhunderts. Er synchronisiert den Epochenbeginn der Neuzeit bemerkenswerterweise nicht mit der Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg. Diese medientechnische Innovation scheint fĂŒr ihn â im Unterschied zu vielen Medienhistorikern â kein ausreichender Anlass zur Zuschreibung einer Epochenwende zu sein. Sein Abgrenzungsmerkmal ist die Indienstnahme der WelterklĂ€rung durch die Dogmen der christlichen Kirche. Nikolaus von Kues war der letzte einflussreiche Denker und AmtstrĂ€ger (er war Kurienkardinal), der die Welt als »frei tragende spekulative Konstruktion aus den Attributen der Gottheit heraus« erklĂ€rte â »aber nicht mehr mit dem VollgefĂŒhl der Scholastik, sondern mit der Sorge um ihren Verfall« (ebd.: 552). Das macht ihn zur Abgrenzungsfigur fĂŒr die geistesgeschichtliche Epoche des Mittelalters, wĂ€hrend Giordano Brunos Werk den Beleg dafĂŒr lieferte, dass diese Konstruktion nicht mehr funktionierte.
Es kommt das Problem hinzu, welche Merkmale von Gesellschaften als epochentypisch selektiert werden und in welche Korrelationen sie zueinander gestellt werden. Die Schlagwortfolge Buchdruck â Humanismus â Alphabetisierung â AufklĂ€rung â Demokratie ist allgemein bekannt, LĂŒcken können leicht gefĂŒllt werden, und solche Aufreihungen verfĂŒhren dazu, sie als Kausalketten zu verstehen oder misszuverstehen. Der Einfluss des Buchdrucks auf die Alphabetisierung in Europa ist zum Beispiel fragwĂŒrdig. Vom 16. bis tief ins 18. Jahrhundert brachte vor allem die Verschriftlichung von VertrĂ€gen und amtlichen VorgĂ€ngen die Alphabetisierung voran (dazu BENNE 2015). Dennoch gab es in Deutschland um 1770 bei groĂzĂŒgiger Berechnung höchstens 10 bis 15 Prozent Lesekundige in der Bevölkerung (SCHENDA 1977: 442ff.). Die Flugschriften und âșpopulĂ€ren Lesestoffeâč der FrĂŒhaufklĂ€rung, deren Inhalte seit den 1970er-Jahren ein beliebter Forschungsgegenstand sind, erreichten immer nur die bĂŒrgerliche Elite und keine lesenden Massen.
Die deliberierende englische Ăffentlichkeit, auf die Habermas (1990) sich bei seiner Modellbildung bezog, umfasste ebenfalls nur eine kleine elitĂ€re Schicht. In den Clubs und KaffeehĂ€usern wurden neben wenigen Zeitungen und Druckschriften vor allem handschriftliche Texte und Briefe ausgetauscht, die immer wieder abgeschrieben wurden. Dass die Artikel in den Proceedings der 1660 gegrĂŒndeten englischen Royal Society bis ins spĂ€te 19. Jahrhundert als âșletters to the editorâč bezeichnet wurden, geht auf diese handschriftliche Tradition zurĂŒck (MULSOW 2012). Je detaillierter die Forschung der Schrift- und Druckgeschichte die soziale Verwendung schriftlicher Materialien aufdeckt, desto unschĂ€rfer werden die Konturen und KausalitĂ€ten, die bislang zum Schulwissen der westlichen Welt gehören. Druckmedien, die es seit Gutenberg â seit der frĂŒhen Neuzeit â gab, sind zweifellos kennzeichnende Elemente fĂŒr die Periode von 1500 bis heute. Andererseits war ihre prĂ€gende Kraft auf andere Bereiche der sich im Umbruch befindlichen Gesellschaften nicht eindeutig und einflussreich genug, um die folgenden Jahrhunderte schon als âșGutenberg-Zeitalterâč kennzeichnen zu können. Neben religiösen Schriften wurden in den ersten 150 Jahren nach den Bibeldrucken Gutenbergs vor allem Lernmedien fĂŒr Kirche, UniversitĂ€ten und Verwaltung produziert (GIESECKE 1991: 217ff.). Auch Schulmaterialien wie ABC-Tafeln wurden entwickelt. Eine bedeutende Funktion hatten bildliche GedĂ€chtnisstĂŒtzen, Landkarten, Schautafeln und andere didaktische Darstellungen. Sie dienten mindestens ebenso sehr als informative wie als normalisierende UnterstĂŒtzung des Wissenserwerbs. Die StĂ€dteansichten der Schedelschen Weltchronik von 1493 trugen einerseits zur Normalisierung der Weltsicht bei, andererseits verbreitet die Chronik jedoch Mythen in groĂer Zahl (SCHEDEL 1493). Die gedruckten Bibeln, darunter bereits vor Luther einige deutschsprachige, aber beispielsweise auch Ausgaben mit Schriften von Aristoteles, förderten die Standardisierung dieser Texte, fĂŒr die vor dem Buchdruck wohl keine Notwendigkeit gesehen wurde.
Epoche, Epochenwandel und auch Medienwandel sind abstrakte Konzepte, die sich der unmittelbaren Wahrnehmung entziehen. VerĂ€nderungen erzeugen aber Irritationen in Systemen und bei Individuen. Der Prozess der Auflösung von sozialer KohĂ€sion, ob mit oder ohne Neukombination von Bindungen, wird nicht als solcher erlebt. Die indirekten Wirkungen, die z. B. als Verunsicherung, als Zunahme von Konflikten und allgemein als Kommunikationsprobleme wahrgenommen werden, beschĂ€ftigen die Gesellschaft jedoch unentwegt. Das war auch zur Zeit des Buchdrucks und zu Beginn der Neuzeit so. Zwei Reaktionsweisen sind offenbar typisch: Medienverehrung und Medienabwehr. Beiden liegt die bewusst oder unbewusst gestellte Frage zugrunde, welchen Nutzen die jeweiligen Medien fĂŒr alle oder einzelne soziale Gruppen bzw. fĂŒr den Einzelnen haben.
Medienverehrung
Seit der Durchsetzung der Schrift wird den Medien zugeschrieben, sie könnten Menschen zumindest teilweise substituieren. Das Schwert tötet den Gegner â und die Drucktechnik speichert Wissen. Giesecke (1991: 134ff.) zĂ€hlt eine ganze Reihe von VorzĂŒgen auf, die mit der Drucktechnik verbunden wurden. Gutenberg selbst wollte die Skribenten im Hinblick auf kalligrafische QualitĂ€t ĂŒberbieten. Die VervielfĂ€ltigung von Texten wird erheblich beschleunigt, Druck ist im VerhĂ€ltnis zu Abschriften billiger, und die Texte werden mehr und mehr standardisiert, auch wenn die Auflagen nur einige Hundert Exemplare betragen. Die Standardisierung beispielsweise von Liturgien brachte die Kirchen auf die Seite der typografischen Innovateure. Die Drucktechnik ermöglicht die Ausbreitung (göttlicher) Weisheit und entreiĂt der Finsternis SchĂ€tze der Erkenntnis. Der Erfahrungsverlust, der mit den handschriftlichen Textspeichern als Gefahr immer verbunden war, wird durch den Buchdruck zumindest gemildert oder sogar aufgehoben: FortwĂ€hrende VervielfĂ€ltigung macht das Wissen unsterblich. Dem Buchdruck wird â allerdings erst 150 Jahre nach seiner EinfĂŒhrung â Allmacht zugeschrieben. Obwohl die allmĂ€hliche Verbreitung schriftlicher Normen in Wirtschaft und Verwaltung im Wesentlichen durch skriptografische Techniken vorangebracht wurde, erfuhr die Drucktechnik höchste WertschĂ€tzung. »Bald ĂŒberstiegen die FĂ€higkeiten, die in die Maschine hineinprojiziert wurden, diejenige jedes einzelnen Menschen: ganze soziale Institutionen wie die âșUnterweisung durch LehrgesprĂ€cheâč oder die âșVerkĂŒndigung von Gottes Wort in der Predigtâč konnten durch die Druckerei substituiert werden« (ebd.: 156). Der Strom verfĂŒgbaren Wissens ermöglichte einen virtuellen Erfahrungsgewinn, der nicht mehr durch praktisches Handeln, also Versuch und Irrtum, erworben werden musste. FrĂŒhneuzeitliche Medientheoretiker feierten den Zugang zu âșfertigem Wissenâč. Ein wesentlicher, auch von Giesecke hervorgehobener Effekt des Buchdrucksystems ist die Parallelverarbeitung von Informationen: Viele Nutzer der Druckmedien können gleichzeitig Wissen erwerben und es anwenden. Diese SimultaneitĂ€t wird als Beschleunigung des Informationsumschlags erfahren und vielfach der Technik selbst zugeschrieben. Martin Luther erklĂ€rte den Buchdruck zum letzten Geschenk Gottes â es ermöglichte den direkten Zugang zur göttlichen Weisheit, ohne Umweg ĂŒber die Institution âșKircheâč. Die sogenannte âșHeilige Schriftâč wurde nicht mit dem Finger Gottes in Lehm geritzt, sondern entstand in arbeitsteiliger Massenfertigung in weltlichen WerkstĂ€tten. âșSchriftâč ist in dieser abgekĂŒrzten Form bis heute ein Synonym fĂŒr die Bibel. Die BibellektĂŒre wurde seit dem 16. Jahrhundert zur FreizeitbeschĂ€ftigung gottesfĂŒrchtiger und schriftgelehrter BĂŒrger. Bibel, Katechismus und Gesangbuch bildeten die Keimzelle der kleinbĂŒrgerlichen Privatbibliotheken. Die ĂberfĂŒhrung klassischer griechischer und lateinischer Handschriften in gedruckte Ausgaben war ein zweiter TĂ€tigkeitsbereich des frĂŒhen Typographeums. Beim Zusammentragen, Vergleichen und Edieren handschriftlicher Sammlungen tat sich besonders die Werkstatt des venezianischen Druckers Aldus Manutius hervor. »By 1520, the great work of printing the classics was for the most part complete.« Diese Erkenntnis des britischen Kulturhistorikers R. R. Bolgar (1973: 375) ermöglicht einen neuen Blick auf Hans Blumenbergs EpochenzĂ€sur. Das Ende der christlich-dogmatischen Weltinterpretation und das Ende der Renaissance fallen zusammen. Es beginnt die Zeit der Parallelverarbeitung des gesamten Korpus der in Europa zugĂ€nglichen theologischen, philosophischen, naturwissenschaftlichen und juristischen Literatur. Ihre Resultate zeigen sich in einer FĂŒlle von gelehrten Kommentaren und Anwendungen, die ab Mitte des 16. Jahrhunderts den Buchmarkt fluten. WĂ€hrend bei den Humanisten des 15. Jahrhunderts noch das Bestreben um doppelte Imitation ĂŒberwiegt â Imitation der griechisch-römischen Denkfiguren und der Sprache Ciceros â, beginnt Mitte des 16. Jahrhunderts die Weiterentwicklung naturwissenschaftlicher, medizinischer und juristischer WissensbestĂ€nde (ebd.: 369ff.). Das durch Aristoteles dominierte VerstĂ€ndnis der klassischen Philosophie wurde durch Platon erweitert, der mit den scholastischen Traditionen nicht mehr kompatibel war. Die enzyklopĂ€dische Bibliotheca Universalis von Conrad Gesner, die 1545-1549 erschien, erfasste alle bekannten Biografien sowie kĂŒnstlerischen und naturwissenschaftlichen Errungenschaften der Antike. Bolgar merkt an, dass dieses Werk eine Art Wegmarke bildete. Es war unverzichtbar vor allem fĂŒr Gelehrte und Studenten, die sich speziell fĂŒr die Antike interessierten, aber nicht mehr so sehr fĂŒr jene, die den Stand der aktuellen Erkenntnisse auf den verschiedenen Gebieten des Wissens erkunden wollten. Die AktualitĂ€t der Klassiker hatte ihr Ende erreicht. Die gebildeten Schichten in religiösen, wissenschaftlichen und administrativen Einrichtungen â und darĂŒber hinaus manche handeltreibenden BĂŒrger und KĂŒnstler â waren stĂ€rker an den neuen Inhalten interessiert, die an vielen Orten gleichzeitig verfĂŒgbar wurden.
Allerdings: Auf der Ebene der Inhalte lebte das Alte im Neuen fort â und auf der Ebene der Medien ersetzte das Neue nicht das Alte, sondern ergĂ€nzte es und wies ihm einen neuen Platz und eine verĂ€nderte Relevanz zu. Die Menge, Standardisierung und VerfĂŒgbarkeit einer groĂen FĂŒlle von Inhalten ist gewiss ein Vorzug der typografischen Medienwende. Ohne die gleichzeitig organisierte und durchgesetzte Standardisierung der mitgelieferten Metadaten hĂ€tte sie indes keine so zĂŒgigen Fortschritte machen können. Die Adressierbarkeit jeder Auflage jedes Buchs â mit Autor, Titel, Verlags- und Druckort sowie einer Jahresangabe ermöglichte den Fernhandel mit BĂŒchern und eine neue Organisation von Bibliotheken. Hier mussten Kommunikationsnetze allerdings erst geschaffen und gegenĂŒber dem schon vor dem Buchdruck existierenden Handel mit BĂŒchern (einschlieĂlich der zuerst 1370 stattfindenden Buchmesse in Frankfurt) ausgebaut werden. Das Buch vernetzte die frĂŒhneuzeitliche Gesellschaft auf eine besondere Weise, nĂ€mlich ĂŒber den Markt. Dieser bot gegenĂŒber den skriptografischen Verteilungsmechanismen deutliche Vorteile. Die kirchlichen Organisationen, beispielsweise die Orden, organisierten die Auswahl, VervielfĂ€ltigung und Verteilung von Literatur. Der typografische Buchmarkt kannte keine solchen Filtermechanismen â auĂer dem hohen Preis der BĂŒcher und der LesefĂ€higkeit als Rezeptionsvoraussetzung. Der Markt war allerdings fĂŒr einige Beteiligte gefĂ€hrlich. Druckereien mussten die Risiken langer Produktionszeiten und eines ungesicherten Absatzes ihrer Produkte tragen. Es gab viele Bankrotte in diesem neuen Gewerbe, bis systematische Beziehungen zum Vertrieb und auch zum ĂŒberörtlichen Austausch zwischen Druckereien etabliert waren. Dabei half die sich im 16. Jahrhundert in den deutschen Regionen ausbreitende Vision eines deutschen Vaterlandes. Sie hatte keine politischen Konturen, sondern war eher eine kulturelle Idee, die deutliche antikirchliche ZĂŒge hatte (GIESECKE 1991: 385ff.). Ihre Ausbreitung ging Hand in Hand mit der Drucktechnologie. WĂ€hrend in der skriptografischen Ăra das Alte, bereits Bekannte die Orientierung vorgab, entwickelte sich mit der Durchsetzung der Drucktechnik die Orientierung am Neuen, am Erkenntnisfortschritt auf allen Gebieten. Kirchliche und behördliche ZensurmaĂnahmen versetzten diesem Interesse oftmals einen DĂ€mpfer. Allerdings konnten sie nur in Spanien und einigen anderen LĂ€ndern den Markt entscheidend beeintrĂ€chtigen. In den deutschen Staaten erwies sich die Zensur als untauglich zur Kontrolle des relativ agilen neuen Mediums. Ihre schwerfĂ€llige und hierarchische Organisation war geradezu anachronistisch, als sich die marktwirtschaftliche Vernetzung der Buchproduktion erweiterte. Eine mit der verordneten umfassenden (und ineffektiven) Vorzensur verbundene Auflage fĂŒr alle Drucker waren Pflichtangaben in jedem Buch â Autor, Titel, Verlagsort, Druckerei â, die eine Verfolgung von âșSchmĂ€hredenâč ermöglichen sollten. Sie waren jedoch auch fĂŒr die Autoren nĂŒtzlich, die hĂ€ufig mit der unrechtmĂ€Ăigen Aneignung ihres Namens und ohnehin m...