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Der Geruch Venedigs durchdrang die Nacht, ein dichtes, eindringliches Brackwasser-Aroma. Der Spätsommer war heiß hier. Ein sehr alter Mann begann seine Vorführung. Mit rauer Stimme auf unsicheren Füßen die wenigen verbliebenen, dunkel verfärbten, wie willkürlich in seinem Mund verteilten Zähne die Launigkeit seines Grinsens betonend, trug er das Lied in einem ungewöhnlich langsamen Tempo vor, wobei er die Hände in die Luft stieß und mit den Füßen auf den Boden stampfte, die Bewegungen der Seilbahn imitierend, wie sie sich, ihn und sein Mädchen in ihrer Gondel einschließend, mühsam ächzend zum Krater des Vulkans hinaufwand – eine Reise, dazu gedacht, ihr undankbares Herz zu rühren.
Iamme, iamme, via montiam su là.
Iamme, iamme, via montiam su là.
Funiculì, funiculà, via montiam su là.
Ein erster, einführender Besuch Italiens, als Junge mit meinen Eltern, hatte eine Woche in ebendiesem Hotel eingeschlossen. Es blickte auf den Canal Grande. Damals klein, ja sogar winzig, dehnte sich seine dem Wasser zugewandte Front jetzt an beiden Seiten über die Terrasse, wo traditionell die Gondeln der Musiker festmachten, hinaus. Eine fast touristisch legere Kleidung ersetzte nun die Abendgarderobe, die so antiquiert gewesen wäre wie diese Musikgruppe selbst; in anderer Hinsicht aber war das Muster unverändert geblieben, insbesondere dieser Veteran und das ›Ziel‹ seines Lieds. War er vielleicht derselbe Mann? Bloße vierzig Jahre – drei oder vier weniger, wenn man genau sein wollte – mochten sehr wohl ohne große, wahrnehmbare Veränderungen an einer Fassade vorübergegangen sein, die bereits zu der Zeit stark verwittert erschien, als ich sie zuerst erblickt hatte. Die Gesten waren identisch. Mit theatralisch ausgestreckten Armen wies er auf die Königreiche der Erde, wie sie sich unterhalb der Seilbahn-Passagiere zu deren Vergnügen erstreckten.
Si vede Francia, Procida, la Spagna,
E io veggo te, io veggo te.
Mit seinen fast hundert Jahren mochte sich der Sänger sehr wohl der Gelegenheit erinnern, für die das Lied komponiert worden war: An jenem großen Tag, so behaupteten die Worte, war er selbst auf den Vesuv gefahren, begleitet von seiner Innamorata, behaglich eng mit ihr eingeschlossen in dem frisch installierten Raumschiff, das die Möglichkeiten der Verführung so sehr begünstigte. Hatten eine dominierende Persönlichkeit, die suggestive Rotation der Maschinerie, die Insel Procida, die weit unten wie eine sich auf dem Rücken austreckende Frau dalag – hatte all das zusammengenommen zum Erfolg geführt? Die Antwort war zweifellos ein Ja. Selbst wenn die Ehe fraglich blieb – möglicherweise wegen des Librettisten Respekt vor der Konvention –, wurden zumindest wärmere Kontakte ganz gewiss erreicht.
Die stilisierten Bewegungen der Hände erinnerten an Dicky Umfraville und seine Imitationen. Auch er hätte in frühen Jahren sein Talent zu einer sich stets erneuernden Kunst, die kein Pensionsalter kannte, nutzbar machen sollen. Sich selbst zur Schau zu stellen, etwas vor einer Menge vorzuführen, bedeutet für viele Menschen das größte Vergnügen, das sie kennen; doch eine Selbstdarstellung ohne eine Grundlage in der Kunst neigt dazu, in Staub und Asche zu zerfallen. Vielleicht hätte eine professionelle Haltung seinen eigenen Darstellungen gegenüber jetzt, wo sich Umfraville von seinen Aufgaben als Agent auf Thrubworth zurückgezogen hatte, seine, wie Frederica und seine Stiefkinder behaupteten, fast chronische Melancholie in Schach gehalten. Manchmal, nach einem Tag auf der Pferderennbahn zum Beispiel, konnte er zur alten, gewohnten Form auflaufen. Aber selbst dann pflegten ein paar schlecht platzierte Einsätze ihm die Überzeugung zu vermitteln, dass ihn das Glück für immer verlassen habe und sein Leben vorüber sei.
»Gott, was für ein Irrsinnsort diese Welt ist. Und meinen Rücken spür ich auch. Trompeter, welche Weise bläst du gerade? – Antreten zum Strafappell, alter Junge, wenn dein Name Geri Atrisch ist. Weißt du, alt zu werden ist wie zunehmend für ein Verbrechen bestraft zu werden, das du gar nicht begangen hast.«
»Welche hast du denn nicht begangen?«, sagte Frederica. »Du bist nie erwachsen geworden, Liebling. Du kannst nicht alt werden, ehe du das nicht getan hast.«
Duldendes Ertragen sprach neben Zuneigung aus diesen Worten. Frederica war Umfravilles nie überdrüssig geworden, obwohl sie sich oft über ihn ärgerte.
»Ich fühle mich wie der Mann in der Gespenstergeschichte, der über die Wellenbrecher kriecht, und das schreckliche Wesen hinter ihm kommt näher und näher. Ich hab nicht mehr richtig gelacht, seit dieser Pferdetransporter in Lingfield beim Zurücksetzen über Buster Foxe gerollt ist.«
In der Regel hasste Umfraville es, wenn man über den Tod sprach, aber die Legende von Buster Foxe’ Opfertod unter den Rädern von so etwas wie einem im Rückwärtsgang fahrenden Houyhnhnm-Juggernaut bildete eine Ausnahme. Sie war unwandelbar in Umfravilles Mythologie eingegangen. Captain Foxe’ Ende (er war während des Krieges befördert worden) war in Wirklichkeit weniger dramatisch gewesen, obwohl es zweifellos einen tödlichen Unfall in der Nähe der Rennbahn als Ursache hatte. Es beseitigte ein für alle Mal das Risiko, bei zukünftigen Rennveranstaltungen einem alten Feind zu begegnen. Es lohnte sich vielleicht, Umfraville zu fragen, ob er eine eigene Version von »Funiculì, Funiculà« besitze – etwas, das keineswegs außer Frage stand.
In gewisser Hinsicht widerlegte der gegenwärtige Vokalist Fredericas Behauptung und bestätigte eher St. John Clarkes Beobachtung, dass »Altwerden in großem Maße aus Jungwerden besteht«. Der betagte Sänger sah aus, als ob ihm Gedanken an den Tod und jede Form von Melancholie unbekannt seien. Man konnte sich vorstellen, dass er wusste, was Wut war, sexuelle Lust, Not, Schmerz und Verzweiflung, nicht aber Melancholie. Das war eindeutig, besonders auch nach dem Applaus, der seiner Vorführung folgte. Das Klatschen war, angesichts der drückenden Hitze, die jetzt, am Ende des Tages, kaum abgenommen hatte, ziemlich herzlich. Dr. Emily Brightman und ich schlossen uns ihm an. Die seinem Talent gezollte Anerkennung entzückte den Künstler. Er verbeugte sich immer wieder, entblößte wiederholt die spärlichen, schwärzlichen Stümpfe, während er die Schweißströme wegwischte, die die Furchen aus trockener, loser Haut hinabrannen, die sich zu beiden Seiten seines Mundes eingegraben hatten. Ein langes Leben hatte ihm, was öffentlichen Beifall betraf, nicht das geringste Gefühl der Sättigung vermittelt. Insgesamt gesehen war das sympathisch. Ich nahm jetzt größeres Interesse als zuvor an den Gewohnheiten und charakteristischen Eigenschaften des Alters.
Trotz der dem Sänger eigenen Nonchalance, der eingängigen Melodien der Musiker, des großartigen Hintergrunds und der zweiten Karaffe Wein drängten sich mir auf eine nicht unangenehme Weise Gedanken an die Vergänglichkeit der Dinge auf. Marinetti und die Futuristen hatten einen frischen Start gewollt – was immer das bedeuten mochte – und, neben anderen Projekten, ein Zuschütten der Kanäle Venedigs mit dem Schutt der venezianischen Paläste befürwortet. Jetzt schienen die Futuristen mit ihrer Zukunftssentimentalität, der primitiven Maschinerie, den Oldtimer-Autos ebenso antiquiert pittoresk zu sein wie der Doge in dem Bucintoro, der sich mit seiner Braut dem Meer vermählt, und auch fast ebenso zeitfern – obwohl es stimmte, dass ein Verlangen zu zerstören, der Hass auf und die Furcht vor der Vergangenheit, eine Konstante im menschlichen Verhalten blieb.
»Glauben Sie, die Soubrette ist seine Geliebte oder seine Urenkelin?«, fragte Dr. Brightman. »Es scheint ein sehr enges Verhältnis zu sein. Vielleicht beides.«
Gleich bei unserer ersten Begegnung, anlässlich der Eröffnungssitzung der Konferenz (als ein freundschaftlicher Kontakt sich aus ihrer Vertrautheit mit »Borretsch und Nieswurz«, meinem Buch über Burton, und meiner Kenntnis ihres berühmteren Werks über die Triaden ergab) hatte Dr. Brightman ihre Entschlossenheit deutlich gemacht, auch dem leisesten Verdacht altjüngferlicher Prüderie, der sich fälschlicherweise aus ihren Lebensumständen ergeben mochte, entgegenzutreten. Ihre diskret modische Kleidung unterstrich noch diese völlige Distanz zu allem, was man für akademische Spießigkeit halten konnte – eine Art, sich anzuziehen, die auf eine ruhige, aber nachdrückliche Weise elegant war. Eine ihrer Schülerinnen an der Universität (die beste Freundin unserer Nichte Caroline Lovell) schrieb ihr große Strenge als Tutorin zu, und auch die Fähigkeit, wenn nötig selbst die überheblichste Studentin mühelos zum Weinen zu bringen. Dr. Brightman war, zugegebenermaßen, im ersten Augenblick ein wenig furchterregend. Wir unterhielten uns kurz über das frühe Mittelalter. Sie erzählte von ihrer gegenwärtigen Beschäftigung mit Boethius, die, wie sie sagte, eine Form annähme, die sich wahrscheinlich als umstritten erweisen würde. Der männliche Professor ihres Namens, den ich während meiner Studienzeit gekannt hatte, schien nur ein entfernter Verwandter von ihr zu sein.
»Sie meinen Harold Brightman, der bei dem Dinner zur Feier des neunzigsten Geburtstags dieses alten Schurken Sillery eine Rolle spielte? Er ist so etwas wie ein Cousin. Es gibt eine ganze Menge von denen unter den Gelehrten. Wir stammen alle von dem Pastor Salathiel Brightman ab, der in Alexander Popes ›The Dunciad‹ im Zusammenhang mit irgendeiner lange vergessenen Streiterei über eine Pedanterie des 18. Jahrhunderts erwähnt wird. Er verfasste ›Attische und römische Berechnungen des Volumens von flüssigen und trockenen Dingen, übertragen und beschränkt auf die allgemeinen englischen Maße für Wein und Getreide‹. Ich glaube, der große Lemprière erwähnt, dass er ihm für die Aufstellung seiner eigenen Tabellen der Proportionen am Ende seiner ›Bibliotheca Classica‹ zu Dank verpflichtet sei. Salathiel soll die Auffassungen seiner Zeit von dem Cochlearion und dem Oxybaphon revolutioniert haben, obwohl ich selbst nicht die geringste Vorstellung davon habe, wie viele von ihnen jeweils in eine Amphore gehen. Da wir gerade von flüssigen und trockenen Dingen sprechen, sollen wir etwas trinken gehen? Sagen Sie, Mr. Jenkins, hat Mark Members Sie dazu überredet, zu dieser Konferenz zu kommen?«
»Sie auch?«
»Nicht ohne Widerstand meinerseits. Ich hatte geplant, in diesen langen Ferien eine Menge Arbeit zu erledigen. Mark hat mir einfach keine Ruhe gelassen. Er kann sehr tyrannisch sein.«
»Ich hab auch Widerstand geleistet, hatte aber Schwierigkeiten mit einem Buch. Es schien ein Ausweg zu sein.«
Was ich sagte, verschönerte die Lage ein wenig, war nicht allzu harsch mir selbst gegenüber. Das Schreiben mag nicht gerade vergnüglich sein, es aufzugeben kann schlimmer sein, obwohl Members selbst damals schon sicher jenseits solchen Nagens der Schuld gewesen sein muss. Er war inzwischen ein versierter, häufiger Besucher von internationalen Zusammenkünften von ›Intellektuellen‹ jeglicher Art. Er war seit Jahren in diesem Geschäft. Es passte zu ihm. Es brachte seine bis dahin verborgen gebliebenen Talente für die Organisation und die Kunst, Reden zu halten, zum Vorschein, die ja im Laufe der Routinebeziehungen eines Autors zu Verlegern und Chefredakteuren kaum zur Geltung kommen – und auch nicht, was das betrifft (da Members die umgekehrten Rollen ebenfalls ver...