TEIL DREI
DIE ACHT GLIEDER DES YOGA
Acht Glieder, die gemeinsam einen Korpus bilden
Der Begriff Aṣṭāṅgayoga deutet auf acht Aṅgas, d. h. auf acht Glieder hin. Es handelt sich dabei nicht um Übungsstufen, die man nacheinander einübt, sondern um einzelne Glieder, die allesamt wichtig sind, miteinander in Verbindung stehen und im Übungsschema die gleiche wertvolle Bedeutung haben. Es geht hier also um acht Teile, die zusammengehören. Die Vertiefung der Übung eines Aṅgas wird uns darin unterstützen, die anderen besser zu üben. Dabei werden wir für manche von ihnen mehr Geduld brauchen.
Bei allen acht Gliedern geht es um eine Art Disziplinierung. Das Wort »Disziplin« mag in der deutschen Sprache problematisch klingen, die Disziplinierungskraft kann jedoch auf eine sehr sinnvolle Weise eingesetzt werden. Im Yoga steht Disziplin immer in Zusammenhang mit dem eigenen Entwicklungsprozess und auch in Verbindung mit dem großen Ziel der geistigen Klarheit, einer gesteigerten Differenzierungsfähigkeit. Gemeint ist immer eine Disziplin, die hilft, frei zu werden.
Der Zusammenhang der Glieder
In der modernen Welt sind wir uns der Wichtigkeit der Idee von Ganzheit sehr bewusst, und zwar wohl vor allem deshalb, weil sie uns abhandengekommen ist. Holistisches Denken wird von allen Seiten als eine wichtige Formel für unsere Zukunft gepriesen. Was aber meinen wir mit dem holistischen Denken? Im Yoga besteht die Ganzheit des individuellen Systems, z. B. eines Menschen, aus einer Zusammenfügung der Natur, seiner unmittelbaren Umwelt, seinem Körper, seinem Atem, seiner Sinne und seines Geistes. Eine ganzheitliche Betrachtung muss entsprechend die Natur, das eigene Leben, den Körper, den Atem, die Sinne und den eigenen Geist berücksichtigen. Eine wirkliche Gesundung bedarf des Einbezugs all dieser Faktoren, erst dann ist der Mensch im holistischen Sinne geheilt.
Dieses System sei hier am Beispiel einer Krankheit erklärt: Man hat Beschwerden, sucht einen Arzt auf und beschreibt ihm die Symptome. Dieser stellt die Ursache fest, die Zielsetzung wird daraufhin definiert, die Mittel sowie Anweisungen für die Heilung werden gegeben. Wenn alles gut geht, sind wir »gesund«. Eine nachhaltige und holistische Heilung gibt es jedoch erst, wenn Folgendes einbezogen wird:
a) das Verständnis für den Zusammenhang aller Dinge in der Natur,
b) die Ausgewohnheit des Lebensstils,
c) die eigene Körperwahrnehmung,
d) das Zur-Kenntnis-Nehmen der Signale des eigenen Atems,
e) die Wachsamkeit der Sinne und
f) die geistige Fähigkeit, die Realität klarer zu sehen.
Hierzu gehören letztendlich:
g) die geistige Fähigkeit, die Realität auf uns wirken zu lassen, ohne sie zu verändern zu wollen, und
h) die geistige Fähigkeit, in völliger Stille zur Betrachterin/zum Betrachter der Realität zu werden.
All diese Punkte sorgen in ihrem Zusammenwirken dafür, dass nicht nur vorübergehende Abweichungen von der Gesundheitsnorm überwunden werden, sondern Krankheit als Störung keine Angst mehr einflößt, die eigenen Widerstandskräfte tiefergehend wirken und der Mut, mehr aus den eigenen Heilkräften zu schöpfen, gesteigert wird. Mit Heilung wird hier eine seelische Heilung anvisiert, Heilung im Sinne von vollkommener menschlicher Entfaltung. Diese Aufzählung der acht Seiten einer ganzheitlichen Entwicklung entsprechen den acht Gliedern des Yoga.
Ein Philosoph, der über Weisheiten nachsinnt, oder eine Wissenschaftlerin, die Gutes für die Menschheit entwickeln möchte, kann es sich gar nicht leisten, die Natur, die Lebensrealität, die Mechanismen des menschlichen Körpers oder die Grenzen und Täuschungen des eigenen Geistes zu ignorieren. Auch wenn wir Yoga üben wollen, können wir keinen dieser Faktoren ignorieren, sonst laufen wir Gefahr, uns nur um die eigene Achse zu drehen, statt in unser wahres Potenzial hineinzuwachsen.
Eine Zusammenfassung der acht Glieder
Im Vers 2.29 des Yogasūtra werden die acht Glieder aufgezählt:
yama niyamāsana prāṇāyāma pratyāhāra dhāraṇā dhyāna samādhayo’ṣṭāvaṅgāni
Die acht Glieder sind: die Disziplinen im zwischenmenschlichen Verhalten, die Regeln des Alltagsverhaltens, Körperhaltung, Regulierung des Atems, Sinnesanbindung ans Innere, die anhaltende Ausrichtung der Gedanken, das stille Reflektieren und die vollkommene Erkenntnis.
Yama – Disziplin: Regeln, die nicht der Mensch gemacht hat, sondern die das Zusammenleben als ein Glied in der Natur von uns abverlangt.
Niyama – persönliche Disziplin: Die Beherrschung, die unseren Selbstwert auf einem gesunden Niveau zu halten hilft.
Āsana – Körperhaltung: Der Umgang mit dem eigenen Körper, der nicht nur Pflege braucht, um seine Kraft und Gesundheit zu erhalten, sondern in dem auch unser Geist wohnt.
Prāṇāyāma – Atembewusstsein: Die Berücksichtigung des Atems, denn Gleichmäßigkeit, Ruhe, Unruhe, Zeitgefühl, das alles hängt mit der Qualität der Atmung zusammen.
Pratyāhāra – das Bewusstsein für die Sinne: Mit den Informationen, die unsere Sinne überfluten, umgehen zu lernen, sodass es nicht sie sind, die unseren Geist lenken.
Dhāraṇā – Konzentrationsfähigkeit: Die Fähigkeit, fokussiert bei einem Thema zu bleiben, ohne in Ohnmacht, in Gedankenlosigkeit und Abgelenktheit oder in einen schlafähnlichen Zustand zu verfallen.
Dhyānam – Wachsamkeit: Nicht nur konzentriert zu sein, sondern auch das Objekt, das man anschaut, frei von eigenen Meinungen anzuschauen, von Projektionen loszulassen und zu hören im Sinne eines Offen-Seins für das, was der Ton sagt.
Samādhi – vollkommen beim Gegenüber sein: Üben, die Abwehrhaltung vollkommen fallen zu lassen und ohne Angst und ohne Wenn und Aber das gewohnte »Ich« gehen zu lassen, weil dieses sowieso zu uns gehört.
In den folgenden acht Kapiteln werden diese Übungsschritte näher beschrieben.
1. Yama
EIN KONSENS UNTER LEBEWESEN
In allen Kulturen der Welt gelten Gebote, die in der jeweiligen Religion oder Ethik ihren Ursprung haben. Die Regeln des Yoga sind weniger Gebote, sondern sind eher als ein Konsens zu verstehen. Es ist ein Konsens, der für uns, unser Zusammenleben und für ein zukünftiges Leben kaum verzichtbar ist. Es ist ein Konsens, der uns helfen kann, eine Atmosphäre zu kreieren, in der ein friedliches Miteinander erst möglich wird. Es ist ein Konsens, der jedem Teil der Schöpfung seinen Platz gewährt und den Menschen darin einbindet.
Diese fünf Regeln stellt das Yogasūtra 2.30 auf:
ahiṁsāsatyāsteyabrahmacaryāparigrahāḥ yamāḥ
Yama, die Disziplinen im zwischenmenschlichen Verhalten, umfassen Gewaltlosigkeit, Wahrhaftigkeit, Nicht-Stehlen, Handeln im Bewusstsein der Allseele und Anspruchslosigkeit.
DIE GRENZEN DER ETHIKVORSTELLUNG
Alle Veränderungen geschehen nur in Schritten, ob es die Metamorphose in der Natur ist oder das Vorhaben eines Menschen, der mit seinem Willen etwas bewirken möchte. Das gilt auch für die Änderungen, die wir mit Yoga anstreben. Wenn wir persönliche Veränderungen in unserem Verhalten vornehmen wollen, werden die Hintergründe unserer Persönlichkeit oder die Umstände unseres Lebens uns herausfordern; und dies kann zum Teil heftige Emotionen auslösen. Die Unterdrückung dieser Emotionen wird dem gesunden Zusammenwirken mit anderen Menschen offensichtlich nicht dienen. Ethische Regeln sind zwar wichtig, es ist aber nicht sinnvoll, sie nur blind befolgen zu wollen.
Wer sich ethischen Regeln stellt, muss die eigenen Neigungen und Hintergründe berücksichtigen. Wir können die Prägungen nicht ignorieren, die zu unserem Erbe oder zu unserer Persönlichkeit gehören. Diese können es uns erschweren, Gebote oder Regeln mit Leichtigkeit anzunehmen, sie zu befolgen und einzuhalten. Nehmen wir als Beispiel die Entscheidung einer Familie, zornige Ausbrüche zu unterlassen, um mehr Frieden zu haben. Ein Choleriker in der Familie wird es wesentlich schwerer finden, sich da zu zügeln. Er wird viel mehr Zeit brauchen und unter Umständen viel mehr reflektieren müssen, um dahin zu kommen, wo die anderen sind. Insofern ist seine Bemühung, den Zorn zu beherrschen, unter Umständen tiefergehend. Seinen Zornausbruch könnte man als etwas einordnen, was seinem Naturell entspricht. Dagegen kann das wohlkalkulierte, ungerechte Ausschimpfen durch einen Sanftmütigen aus der Familie viel problematischer sein und ein größeres Zornpotenzial verraten. Letztendlich müssen aber beide, unabhängig von jeweiligen Verhaltensstrukturen, dahin kommen, dass sie die Regeln einhalten. Sie allein können beurteilen, wo sie in Bezug auf ihre Selbstdisziplinierung stehen.
Bei ethischen Regeln ist wichtig, auch den Ort der Verletzung zu berücksichtigen. Es kann durchaus angebracht und der Situation angemessen sein, wenn eine wache Grundschullehrerin »Ruhe!« schreit und auf den Tisch klopft, während die Kinder unbeherrscht im Klassenzimmer toben. Macht sie das jedoch zu Hause beim Abendessen, während sie müde und ihre Familie belustigt ist, ist es selbstverständlich problematisch. Der Zorn als Potenzial kann an einem Ort wirksam und fair, hingegen aber in einer anderen Situation ungerecht und anfechtbar sein. Doch kann dieselbe Person sich dahin entwickeln, dass sie die forsche Vorgehensweise auch in der Schule nicht mehr braucht, wenn sie die unbeirrbare Ausrichtung hat, die ihr hilft, Disziplin im Raum entstehen zu lassen.
Abhängig von der Zeit, respektive vom Alter, ist eine gewisse Art des Redens zulässig und angebracht oder auch nicht. Das zornige Auftreten eines pubertierenden Mädchens oder Jungens gegenüber den Eltern ist nicht das Gleiche wie das einer jungen Frau oder eines jungen Mannes. Und wiederum bei einer reifen erwachsenen Person in höherem Alter wird dieses Verhalten ziemlich fragwürdig erscheinen. Es ist möglich für uns, in die Fähigkeit hineinzuwachsen, in schwierigen Situationen Gelassenheit zu bewahren, sodass Streit nicht gleich in Gewalt zu eskalieren droht.
Manchmal befördert die Situation, in der wir sind, das zornige Auftreten. Wenn innerhalb der Familie eine Meinungsverschiedenheit oder sogar ein Streit ausgetragen wird, kann es durchaus vorkommen, dass wir im Zuge dieser Argumentation laut und zornig werden, da sich alle in das Thema hineinsteigern und versuchen, Gehör für das, was sie sagen wollen, zu bekommen. Aber wenn wir am Tisch mit der gleichen zornigen Stimme sagen würden: »Reich mir die Butter«, dann wäre das problematisch. So ist es aufgrund der Situation manchmal unterschiedlich, was angebracht ist und was nicht. Wer aber gelernt hat, sich zu beherrschen, wird die eigene Stimme im Zaum halten können, denn durch sie allein steigert sich die Aussagekraft unserer Worte.
In dies...