XIV
Die Sonne scheint, um vier Uhr an diesem zwölften April haben wir sie noch richtig auf uns; obwohl, auf der Schattseite, da geniessen sie länger die Abendsonne, das habe ich einmal gemerkt, als ich auf der anderen Seite des Berges war, nicht ganz unten, auf dem mageren Hang. Für einen wie mich, der seine Kühe melkt, ist es rar, zur Melkzeit anderswo zu sein. Einst, vor langer Zeit, haben die Bauern zuerst die Sonnseite gerodet, dann haben sie sich miteinander verkracht und die Schwächsten sind über den Pass hinüber, um die Schattseite zu bewirtschaften. Die Leute dort sind weniger gesprächig, auch wegen dem Rauschen der Wasserfälle, die reichlich talwärts donnern, die Schluchten, oh die Schluchten …
Als kleine Bengel kletterten wir da hinunter, ich habe gute Erinnerungen an die Schluchten, doch was tut man mit den Erinnerungen? Manchmal fiel man auf die Nase, rutschte auf einer feinen Schicht von schleimigen Algen aus, die einen Stein dicht unter der Wasseroberfläche wie eine dünne Haut überzog. Und dann triffst du eine junge Frau, die für einmal wirklich liebenswert ist, das ist in der Erinnerungsschachtel, ich mache Notizen, ich notiere auf der Rückseite der Fotos die Zeit und die Befindlichkeit des Augenblicks. Ich habe mir auch eine ganze Menge Titel mit den Pferden geholt, das letzte von ihnen ist Nebelstreif, die Stute, die ganz am Ende der Versteigerung zum Verkauf stehen wird. Jetzt ist Nummer neun dran, Kategorie »Milchkühe«, ich habe mich zwischen die beiden gestellt: Jonquille und Melba, Melba rechterhand, heute Morgen hatte ich noch die drei Gebinde der zwölf Halfter hervorgeholt, weisses Nylon, ich habe meinen Kühen schöne Halfter angelegt, schwarze, schwarz sollten sie sein, haben Sie keine schwarzen? »Schwarze Halfter? Blaue haben wir, oder rote dort hinten, aber schwarze, das hat noch nie jemand haben wollen, doch das lässt sich machen, wenn Sie ein paar Hundert nehmen.« Sechsunddreissig werden reichen, weisse halt, bar bezahlt, man kennt meine Situation.
Zwischen Jonquille und Melba löse ich den Knoten von Melbas Halfter, ganz sacht, ich erzähle ihr von unseren schönen Tagen auf der Weide, beim Mähen schaute ich ihnen zu, wie sie auf der anderen Seite des Zauns grasten, Bauer beim Betrachten seiner Kühe, jetzt ist es Verlierer betrachtet Bauern beim Verlust seiner Kühe. Die Befriedigung, seine Kühe weiden zu sehen, während man auf dem Traktor sitzt, an den ein Streugerät angekuppelt ist, das unter einem Sonnenguss kräftig dreht, das ist ein den Bauern vorbehaltener Augenblick des Glücks, der selten registriert wird, denn sie haben Wichtigeres zu tun.
Wir treten aus dem Stall, Melba und ich, Irina ist da, in der Menge, die sich rund ums Vorführkarussell versammelt hat, Augenzwinkern, ein Winken mit der Hand, ich habe den Glauben wiedergefunden: Ich hatte den Glauben an die Liebe verloren, und da, mit Irina, ist es, als blinkte ein Lichtchen in der Tiefe der Nacht, da ist es wieder, vor der vollständigen, begrabenen, vom Nichts ummauerten Nacht. »Das ist Melba, zum Gebot!, Nummer neun!« Die Deutschschweizer aus der Zentralschweiz sind immer noch da; zu meinen Kühen, zu denen, die dorthin verfrachtet werden, habe ich gesagt: »Es ist kuhmässig schön bei denen, mit den Kühen in der grünenden Landschaft. Im Lastwagen auf der Autobahn ist es schön gerade, na ja, danach kommen ein paar Kurven, aber das muss man sich erst mal verdienen, die Alpweiden, denn die Aussicht ist grandios dort oben.«
Ich habe kaum die letzten züngelnden Flammen der Liebe zu Frida erstickt, und schon flackert am Horizont meiner fünfundvierzig Jahre (noch ganz Genussmensch, wenn man ein bisschen kratzt) das hübsche Frätzchen eines frischen Funkens auf.
Sechstausendzweihundertfünfzig Franken für Melba, das ist unerhört in diesen schwierigen Zeiten der Milchschwemme, doch wir haben eben eine reine Rasse bewahrt, reines Jura-Braunvieh, das mit dem Voralpen-Braunvieh aus dem letzten Jahrhundert verwandt ist, es ist das aktualisierte historische Modell des Original-Braunviehs. Es gibt ein neu auflebendes Interesse an den verbesserten alten Blutlinien, sogar das Besamungszentrum hat einen seiner langen Arme ausgestreckt, um auf ein männliches Kalb aus der von meinen Vorfahren gezüchteten Rasse zu setzen.
Elias Schwarz ist im Paradies der guten Geschäfte, er klopft mir auf die Schulter, als ginge mich sein guter Prozentsatz etwas an. Mirliflore, das war die Kuh, die mir folgte, die Kühe folgen mir so gefügig, dass die Käufer vollkommen beruhigt sind, was ihren guten Charakter betrifft, im Gegensatz zu den beiden Malen, wo die Grooms am Halfter von zwei gereizten Kühen ausgepfiffen wurden.
Seit fünfundvierzig Jahren bin ich auf der Welt und es fehlt mir noch ein ganzes Fuder Wissen, Irina versteht nichts davon, doch ihr schöner Hintern nimmt mir einen ganzen Wust Sorgen weg, ich bin ein eher ungeschliffener Mensch, obwohl Frida sich bemüht hat, meine Allgemeinbildung zu bereichern, im Grunde bin ich ein instinktives, furchtsames Wesen.
Kaum beisst sich die Euphorie der Verführung am Beton der Realität die Zähne aus, gerate ich wieder in die Fänge der Melancholie: Der Schlusspunkt in immer neuen Versionen, zum Beispiel hier mitten unter den Leuten eine Herzattacke, wie ein Rocksänger, Herzversagen, aber ich bin viel widerstandsfähiger als das, Lächerlichkeit tötet nicht. Irina arbeitet daran, mir ein besseres Selbstbild zu verpassen, sie hat nicht gewonnenes Spiel bei allem, was ich verloren habe. »Du musst positiv denken«, sagt sie, das gelingt mir nur, wenn ich ihr die Hände auf die Brüste lege, sie sind meine Glücksbringer und auch ihre, denn in meinen Händen fühlen sie sich gut.
Das Leben ist doch grossartig, bald ist der Ball zu Ende und ich steh allein am Strassenrand, geh weiter mit meinem langen Schatten, der den ganzen Platz einnimmt, April, April macht, was er will, mit der Kälte, die dir jetzt unter die Haut kriecht. Durch einen amerikanischen Film oder über eine Strasse im Berner Jura, wohin gehst du? Das Leben war gut, es hat mir sehr gefallen bis zu dem Moment, als sie die Segel gesetzt hat, Frida, die Liebe ist dermassen stark, dass man glaubt, es sei für immer, sie aber nimmer. Und ich nehme es mir übel, sie war einmalig, ich hätte sie entsprechend behandeln sollen, meine Prinzessin, Tag für Tag, aber man weiss ja, das Leben eines Bauern in der Bergzone II, da gibt es Tage, an denen die Liebe … Man hat endlich das Heu eingebracht, um zwei Uhr in der Frühe, und die Liebe, sagt man sich, nun gut, morgen die Liebe, und am nächsten Tag stellt sich heraus, dass so ein Kerl, ein junger Schnösel, sie mit einem Mund voll blitzender Zähne anlacht und ihr den Hof macht, der Frida, im Stil eines Auerhahns, ein Balztanz, und sie lässt sich pflücken von den delikaten, feinen Händen des Gemeindeschreibers, ich bin ausgestochen, die Liebe, immer die Liebe, auf der letzten Stufe vor dem Absturz aufgefangen von Irina, die zu mir sagt: »Monsieur, ich bringe dich zurück ins Licht.« Ins Licht ihrer Haut mit dem herben Geschmack von Schweiss und einem verwilderten Gral, den ich mir nicht erklären kann, kurzlebig sicher, doch mein Bedürfnis, Schluss zu machen, leb wohl, grausame Welt, ist davon merklich ins Wanken geraten. Sie hat die Gabe, diesen letzten Tag aufzuheitern, der auf meinem Grabstein schon eingraviert ist: Stein oder Holz. Erholzer? Nein, Grosjean, in Holz gebrannt, Stein ist zu teuer, Stein und dazu der Graveur, Künstlerpreise, Tannenholz, nach einer Saison ist das grau, noch ein Winter und es ist morsch. Ich kann jetzt nicht alles abkürzen und weglaufen, sie ist das Symbol eines kleinen Friedens mit Gott, wie die Taube mit ihrem Olivenzweig, durchs Schiffsfenster. Ob ich die Sintflut überleben werde? Jedenfalls klammere ich mich an Irinas Floss: »Komm zu mir nach Hause, im Badewannenwasser spielen.« Das ist nicht wirklich ernst gemeint, doch man kann sich nicht die ganze Zeit im Drama suhlen, schwimmen wir mit der Kuh Melba zum Ausgang. »Méli, nein, das ist nicht das gleiche Jahr, das hier ist Noémie, zum Gebot!« Schwarz und seine Uhr, zwischen den Geboten steht seine Uhr zum Gebot, er schaut drauf und geht die Liste der Tiere nochmals durch, er notiert am Rand ihren Preis, begleitet von Chloé, immer elegant mit ihren hochhackigen Stiefeln im Sägemehl, »schön, ich zeig es dir, es geht wunderbar.«
Zu merken, dass ich nicht mehr völlig hoffnungslos bin, stört mich, als würde ich das volle Ausmass des Schiffbruchs nicht mehr realisieren: Aus der Bauernkammer ausgeschlossen, ohne Land und ohne festen Wohnsitz, man kann dir nicht alles wegnehmen! Ach so, dann haben sie bei mir eine Ausnahme gemacht, vielleicht warten sie bei der Sozialhilfe auf mich, doch jeder hat seine Würde, ich geh mich wieder hinter den Bäumen verstecken, das ist krankhaft. Ich mache Noémie los und frage mich dabei, welche Gründe Irina wohl dazu bewegen, meine Liebe einzufangen, oder mich die ihre.
»Zum Gebot!«, noch und noch. Der Ruf verletzt mich. Dieses Zum Gebot wirft mich in die Löwengrube und frisst mich auf, dort oben gibt Schwarz als römischer Kaiser den Schlaukopf. Und Chloé, in schmissigem Trott, verteilt Stumpen, und hat der Züchter oder der Händler einmal seinen Stumpen in der Hand, streckt er ihn hoch und bietet noch fünfzig mehr. Schwarz mag keine Geizhälse, er zeigt mit dem Finger auf sie: Fünfzig? Nein, hundert! »Genehmigt!«, antwortet der Stumpen. Und jetzt muss auch Irina laufen, sechs Villiger auf einen Schlag! Ich hab nicht alles mitbekommen, jedenfalls läuft es gut für sie.
Bilder aus der Vergangenheit bedrängen mich, wie ich in den Stall trete, glückliche Familienszenen, der Herd der Gefühlsseligkeit, von den Aasgeiern gefressen.
Zum Gebot stehen noch sechs Kühe, neun Gustis und elf Kälber, dann Nebelstreif, bei ihr werde ich zusammenbrechen, Nebelstreif, das ist mein Herzblatt, mein Lied, warte, noch ist es nicht so weit. Gefangen in meinem eigenen Todesurteil wäre ich feige auszubüxen.
Zwölf Kaffees seit Beginn des Tages und ebenso viele Flaschen Bier, das würde eine Autopsie zutage fördern, so, wie da immer noch eine Schicht draufgelegt wird, könnte das Herz am Schluss ganz von alleine stillstehen, das würde mir die Ausflüchte und Hinhaltemanöver ersparen, die Irina in Gang gesetzt hat, meine auf sie gelenkten, durch sie zu ihr abgelenkten Gedanken. »Sie haben noch lange Jahre vor sich, tun Sie nicht so schwierig.« Fürs Strassenbauamt arbeiten und am Abend Ausgang in der Stadt, mitten in diesem Haufen Menschen, das spricht von so weit weg. Meine letzten Gewohnheiten, den Hühnerstall abschliessen, doch die zweibeinigen Füchse haben die Hühner geholt, sie wurden verkauft, Hühnerstall inbegriffen, zum Gebot, heute Morgen, das hab ich nicht mitbekommen. Wo war ich, Himmel nochmal? Der Hahn war ein Freund, ich hatte nur Freunde in diesem Hühnerhof, die Hühner waren zahm, fünf Jahre schon war ich für die Hühner zuständig. »Mit den Hühnern aus den Federn, mit den Spatzen ins Bett, und das Grab bleibt weit weg«, sagte der Grossvater, der an der Ecke seines Misthaufens sass. Aus seinem Heimet rausgeschmissen werden, wo man doch seit den Ostgoten hier ansässig ist, seit aus Urzeiten hervorgegangenen Generationen. Ich war unbeholfen genug, alles zu verlieren, das ist so rapid gegangen, viele werden geschnappt, und dann der Selbstmord als Hintertür, exit, schnell! »Wart doch, Vollidiot!«, schimpft Irina, »warte!« Sie schlägt mir einen Aufschub vor.
Die Kuh, ho, ho, die Kuh zerrt mich am Arm, und die Katze, die Katze auf dem Brunnenrand, die Katzen gehören zum Haus, aber nein, es gibt doch eine »Volksfront« der Katzenomas, Anruf genügt, doch ich kann mich nicht entschliessen, ihnen das anzutun, meinen Katzen: sterilisiert, kastriert, domestiziert, eingeschläfert; sie gehören zum Haus, aber wenn der Hausherr verloren ist? Alles Raten für die Katz!
Irina, das tut so wohl. Zu Schwarz hat sie gesagt: »Entschuldigen Sie, ich bin ganz durcheinander, so etwas ist mir noch nie passiert.« Schwarz, feinsinnig genug, lässt der Versteigerung ihren Lauf, alles ist auf dem besten Weg...