DIE VIELEN TORE DER PRAXIS
Christina:
Wie erbärmlich ich bin!
Schatten, Schatten an der Wand,
Wer ist die Erbärmlichste im ganzen Land?
Koan
Als Christina sich einer Gruppe von Menschen anschloss, die seit längerer Zeit zusammen praktizierten, fragte sie: »Warum tauschen wir uns nicht über unsere Praxis aus, indem wir abwechselnd kurze Dharma-Vorträge halten?«
Die Gruppenmitglieder regten sich über diesen Vorschlag auf. »Wir können Anweisungen für die Körperhaltung und den Atem geben«, sagten sie, »doch für einen Dharma-Vortrag brauchen wir eine richtige Lehrerin oder zumindest einen Mönch. Wir, die wir in unserem Alltag praktizieren, können das auf keinen Fall machen.«
Christina spürte, wie ihr kalt ums Herz wurde. Sie dachte: »Habe ich auch solche Angst, zu meiner eigenen Praxis zu stehen? Wie erbärmlich wäre ich, wenn das stimmte!«
Betrachtung
Nur du kannst in deiner eigenen Haut leben und auf deinen eigenen Füßen stehen. Welche Autorität sollte dir diese Tatsache sonst bestätigen? Als die Gruppenmitglieder sich über Christinas Vorschlag aufregten, wurde ihr klar, dass sich hinter der Fassade eines vordergründig gesunden Respekts vor der Tradition eine subtile Angst verbarg, die etwas widerspiegelte, das tief in ihr war. Eine der Schwierigkeiten, mit denen Christina zu kämpfen hatte, bestand darin, dass sie sich heftig dagegen wehrte, sich selbst so, wie sie war, als vollständigen Menschen anzunehmen, in dem die Lebenskraft einen vollkommenen Ausdruck fand. Sie hatte das Gefühl, dass das brave kleine Mädchen, das ständig die Anerkennung und Bestätigung der anderen suchte, trotz ihres fortgeschrittenen Alters und ihrer jahrzehntelangen buddhistischen Praxis immer noch in ihr lebendig war. Als ihr das klar wurde, sagte sie zu sich: »Wie erbärmlich ich in dieser Hinsicht bin. Wie erbärmlich, dass ich nach all den Jahren der Praxis immer noch nicht bereit bin, voll und ganz zu mir zu stehen!«
Stimmt das auch für dich? Wie erbärmlich bist du?
Die große Herausforderung auf dem spirituellen Weg besteht darin, dass nur du und niemand anderes erkennen kannst, wer du wirklich bist. Wie Zen-Meister Kodo Sasaki sagt: »Du kannst keinen einzigen Furz für den Typ neben dir lassen. Jeder von uns muss sein eigenes Leben leben.«57 Wer du bist, hängt nicht davon ab, ob jemand dich schätzt oder nicht, bestätigt oder ablehnt, dir etwas gibt oder nimmt. Niemand kann dein Leben für dich leben – du musst voll und ganz für dich einstehen. Du bist eine einzigartige, vollkommene Manifestation der universellen Lebenskraft; und das gilt auch für andere.
Manche Menschen haben das Gefühl, wer eine Robe trägt oder einen Titel hat, sei ihnen überlegen, wisse mehr als sie oder sei wichtiger als sie. Die wahre Lehrerin stellt alle deine Annahmen auf den Kopf und gibt sie dir zurück, damit du sie überprüfst. Das wird dir wahrscheinlich nicht gefallen, weil du dich dabei möglicherweise unzulänglich und wertlos fühlst. Vielleicht bist du auch einfach nur perplex wie die Schüler des Zen-Meisters Huangbo, der sie Dreckfresser nannte und anherrschte: »Wisst ihr nicht, dass es in ganz China keine Zen-Lehrer gibt?« »Und was ist mit Ihnen?«, fragte ein Schüler. Huangbo stieß hervor: »Ich sage nicht, dass es kein Zen gibt, sondern nur, dass es keine Lehrer gibt.«58 Das stellt nicht in Abrede, dass Weggefährt*innen oder Lehrer*innen ein Schatz sein können.
Christina hatte die Gruppe durch ihren Vorschlag unwissentlich herausgefordert. Zen-Vorträge sollen dich in deinem Selbstgefühl erschüttern und nicht bestärken. Manchmal reißt eine simple Frage ganze Fundamente ein. Genau diese Wirkung hatte Christinas Vorschlag, denn sie konfrontierte die Gruppe mit einem Tabu. Gruppen haben ebenso ihre Schatten wie Einzelpersonen. Manche Themen werden nie angesprochen oder gründlicher erforscht, denn das könnte den Status quo ins Wanken bringen. Eine Person oder Gruppe braucht viel Entschiedenheit und Hingabe, um solche Tabus zu benennen und näher zu betrachten.
Du kannst leicht übersehen, dass Mitglieder einer Gruppe einschließlich deiner selbst eine wegweisende Rolle übernehmen können. Dazu musst du für deine eigene Praxis und die der Gruppe volle Verantwortung übernehmen. Das heißt, Urteile loslassen, die du über andere fällst, bestimmte Seiten von dir zeigen sowie die Verbundenheit und Weisheit respektieren, die jedem Menschen eigen sind. Das Dharma kann im Kreis gemeinsam Praktizierender, die ihre Reise gegenseitig bezeugen und darüber ins Gespräch kommen, so gelehrt werden, dass es für alle bereichernd ist.
Kann eine Gruppe von spirituell Praktizierenden sich so herausfordern, dass die Teilnehmenden zusammen erwachen? Kannst du in dieser Hinsicht eine wahre spirituelle Freundin sein? Wie kannst du ohne Lehrer erkennen, dass du im Begriff bist, die falsche Richtung einzuschlagen? Woher weißt du, ob ihr als Gruppe von Praktizierenden stagniert? Gemeinsam erwachen heißt, dass sämtliche Gruppenmitglieder aufgerufen sind, in Gegenwart der anderen alles in Frage zu stellen, und das gilt auch für die Grundlagen, auf die sich die Gruppe stützt.
Wenn du deine Annahmen beiseitelässt und dich immer wieder jedem Augenblick neu mit Respekt und Gelassenheit zuwendest, wirst du auf keinen Fall »erbärmlich« sein.
Wann hörst du auf, Anerkennung von außen zu brauchen, und beginnst, darauf zu vertrauen, dass du eine vollständige Manifestation des Lebens selbst bist? Kannst du dich voller Zuversicht mit deinen Weggefährt*innen über die Praxis austauschen und Unterstützung geben und annehmen? Was musst du und was muss deine Gruppe ändern, um diesen Prozess zu fördern?
Jeffrey:
Dr. Doktor fährt Bus
Je nach den Umständen
Ist alles Medizin,
Ist alles Krankheit.
Ärzt*innen sind da keine Ausnahme.
Koan
Dr. Doktor hatte eine ganz gewöhnliche Erkältung, fuhr aber trotzdem mit dem Bus zur Arbeit. Als er anfing, in sein Taschentuch zu husten und zu schniefen, schienen alle Menschen im Bus ebenfalls zu husten und zu schniefen. Schließlich stieg der Arzt an seiner Zielhaltestelle aus.
»Mensch!«, seufzte der Fahrer. »Was würden wir bloß tun ohne unsere gute medizinische Versorgung?«
Betrachtung
Oh, die Stimme der Autorität! Wenn die gute Frau Doktor da ist, erlauben sich manche von uns, ihren Verstand an der Wartezimmertür abzugeben. Wir hören ihr zu, ahmen sie nach, kopieren ihre Eigenarten, gehen und sitzen wie sie und denken, dadurch könnten wir ihr ähnlich werden. Aber wir sind nicht nur alle verschieden, auch wir selbst ändern uns ständig. Wie können wir wissen, was in diesem Augenblick zu tun ist?
So viele Ratschläge prasseln im digitalen Zeitalter auf uns ein. Wir haben Zugang zu Informationen über Vitamine, Gesundheit, Diäten, Körperübungen und darüber, wie wir unsere Falten loswerden können. Wir bekommen Links zu Videos und Clips über die Wohltaten der Meditation, die Praxis der Dankbarkeit, Achtsamkeitstraining und die Wichtigkeit von Weisheit und Mitgefühl. Warum fangen wir uns bei all diesen frei zugänglichen, kostenlosen Ratschlägen, all dem komplexen Wissen, das uns mit einem Mausklick zur Verfügung steht, überhaupt noch eine Erkältung ein? Warum leiden wir mehr denn je an Übergewicht und Stress? Warum fühlen wir uns trotz all dieser Gurus, Expertinnen und TED Talks innerlich oft so leer und isoliert und sind zynisch?
Am Telefon sprach ich neulich mit einem Freund, der nach einem langen, teuren Workshop auf dem Weg zurück nach San Francisco war. Auf der Fahrt auf dem Highway 101, der auf die Golden Gate Bridge zuläuft, fühlte er sich in absoluter Hochform. Er hatte all seine Lehrer*innen ins Herz geschlossen, war so viel offener geworden und das Leben war wie umgewandelt. Doch schon bald hörte ich, wie er sich gereizt über den Verkehr beschwerte, der sich vor der Brücke staute. In kürzester Zeit wurde er immer ärgerlicher und schließlich konnte ich hören, wie er jemanden anbrüllte. »Was ist los?«, fragte ich. »Der beschissene Typ an der Mautstelle hat mir gesagt, ich solle anhalten, weil der Verkehr auf der Brücke stockt. Diese blöden Arschlöcher – weiß denn hier keiner, was zu tun ist?«
Deine Lehrer*innen nehmen in deinem Denken meistens viel Raum ein. Sie haben dir so viel gegeben und vielleicht einige deiner dunklen Ecken beleuchtet. Doch die Praxis für unsere Heilung und die des Planeten besteht nicht automatisch darin, dass wir schniefen und husten wie sie.
Wie übernimmst du Verantwortung für dein Leben? Iss, was du auf dem Teller hast. Tu, was in diesem Moment für dich ansteht. Sei ein verantwortungsbewusstes menschliches Wesen im Umgang mit deinem Mann oder deiner Lebenspartnerin, deinem Kind, den Eltern, einer Kollegin, der Frau, die dir per Telefon etwas verkaufen will und deren Anruf dir nicht gelegen kommt, dem Kassierer in der Bank und dem Hund, der den Komposthaufen durchwühlt.
Vielleicht hast du keinen Titel und keine wichtige Position, aber liegt es nicht in deiner Macht, Entscheidungen für dein Leben zu fällen und Dinge aktiv anzugehen? Wenn du diese Autorität nicht bist, wer dann? Deine Ärztin, dein Lehrer, deine Mutter, der Bankangestellte, ein Guru oder Gott? Sollte eine dieser Personen diese Autorität sein, endet das oft mit Zynismus, der Ablehnung sämtlicher Autoritäten, der Weigerung, überhaupt einen anderen Menschen als Lehrerin oder Vorgesetzten anzuerkennen und zu realisieren, wie wertvoll seine Lehren oder Ratschläge sind.
In einer berühmten Geschichte über Nan-in, einen Zen-Meister des 19. Jahrhunderts, bat ihn ein Professor um Belehrungen über Z...